20 000 Menschen in einem Camp, das für 3 000 Geflüchtete ausgelegt ist. Eine Toilette für 200 Leute, acht Krankenpfleger*innen und drei Ärzt*innen: Die Lebensbedingungen im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos ermöglichen kein normales Leben. Wie kommen die Menschen trotzdem an die Außengrenzen der EU? Und wie nehmen sie die europäische Solidarität wahr?
Text: Kilian Marx, Felix Moßmeier, Carlotta Smok, Mykola Vytivskyi
einsteins. Feature
Solidarität an den Außengrenzen der EU: Auf Lesbos treffen Menschen, die Zuflucht suchen, auf Menschen, die Zuflucht bieten. einsteins. hat mit einem Geflüchteten und einer deutschen Pädagogik-Studentin gesprochen, die aktuell auf Lesbos leben, aber aus unterschiedlichen Gründen dort gelandet sind. Deen Mohammad Alizadah lebt mit seiner Frau und seinem Sohn seit November 2019 im Flüchtlingscamp Moria. Sie wollten nicht nach Europa. Sie mussten ihr Haus in Afghanistan verlassen, damit sie überleben konnten. Als sie auf Lesbos ankamen, wussten sie nicht wirklich, was auf sie zukommt und wo sie sich befinden. Ihre Route spiegelt die Geschichte der Menschen wider, die sich das Leben an diesem Ort nicht ausgesucht haben. Andererseits gibt es Menschen wie die 20-jährige Pädagogik-Studentin Lea Beigel, die bereits zum vierten Mal freiwillig nach Lesbos kommt, um zu helfen. Sowohl Deen Mohammad Alizadah, als auch Lea engagieren sich vor Ort, um das Leben im Camp ein Stückchen besser zu machen.
Ein Jahr unterwegs nach Lesbos

Bildquelle: Deen Mohammad Alizadah
Das ist Deen Mohammad Alizadah. Er ist 31 Jahre alt, kommt aus Afghanistan und ist Apotheker. Aufgewachsen ist er in Kabul. Doch zusammen mit seiner Frau und seinem vierjährigen Sohn befindet er sich seit 2018 auf der Flucht. Was er erlebt hat und wohin ihn seine Flucht geführt hat, zeigt seine Fluchtroute.
Kabul (Afghanistan)
5. Oktober 2018
Beginn der Flucht
Deen Mohammads Flucht beginnt in seiner Heimatstadt Kabul. Warum er fliehen musste, kann er uns nicht erzählen. Vor den Folgen hat er zu viel Angst.
Maschhad (Iran)
1 Tag auf der Flucht
Mit seinen ganzen Ersparnissen im Gepäck, umgerechnet etwa 1 300 Euro, fliegt er mit seiner Familie nach Maschhad in den Iran. Nach einer Übernachtung im Bahnhofsgebäude ziehen sie weiter in die Hauptstadt Teheran.
„Das Einzige, was wir hatten, war die Adresse der Tante meiner Frau in Teheran. Ich habe damals nicht darüber nachgedacht, in die Türkei oder nach Europa zu fahren. Mein erstes Ziel war es nur, Afghanistan zu verlassen.“
Deen Mohammad Alizadah
Teheran (Iran)
3 Tage auf der Flucht
Mit dem Bus sind sie 48 Stunden unterwegs. In Teheran finden sie Zuflucht bei der Tante seiner Frau, in deren Dreizimmerwohnung Deen Mohammads Familie unterkommen kann. Doch eine Heimat auf Dauer ist der Iran nicht – nach drei Monaten läuft die Aufenthaltsgenehmigung ab. Die Familie muss weiterziehen.
Urmia (Iran)
über 3 Monate auf der Flucht
Das nächste Ziel heißt Urmia, eine Stadt an der Grenze zur Türkei. In einem Stadtteil von Urmia fanden sie für sieben Tage Zuflucht in einer Lagerhalle. Währenddessen sucht Deen Mohammad nach einer Möglichkeit, die türkische Grenze zu überwinden.
„Sulaimaniyya“ (Türkei?)
Drei Tage wandert die Familie durch das Gebirge, bis sie über Nacht die Grenze in die Türkei überquert und im ersten Ort hinter der Grenze ankommt. An den Ortsnamen erinnert sich Deen Mohammad nicht mehr, er nennt sie Sulaimaniyya. Das ist eigentlich eine Stadt im Irak. Von dort nimmt die Familie einen Bus, der sie nach Van bringt.
Van (Türkei)
Hier werden sie von der Polizei festgenommen und registriert. Die Polizist*innen bringen die Familie zum Busbahnhof. Von dort geht es in die Hauptstadt der Türkei, nach Istanbul.
Istanbul (Türkei)
Nach 48 Stunden im Bus kommen sie in Istanbul an, wo sie nicht lange bleiben. Deen Mohammad hat Verwandte in Yalova, einer Stadt unweit von Istanbul. Dorthin reist die Familie.
Yalova (Türkei)
etwa 4 Monate auf der Flucht
In Yalova kommen Deen Mohammad und seine Familie für ein paar Tage bei seiner Verwandtschaft unter. Die Familie zieht vor Ort in ein Mietshaus und beantragt mehrmals Asyl. Sechs Monate lang bangen sie. Dann wird ihr Antrag abgelehnt und sie müssen das Land verlassen.
„Ich habe hier die Möglichkeit bekommen, ein Haus für meine Familie zu mieten. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, eine Lösung, eine Einkommensquelle zu finden, damit meine Familie hier weiter wohnen und einfach in der Türkei bleiben kann. Obwohl wir einige Male versucht haben, Asyl zu beantragen, waren wir nicht erfolgreich – wir bekamen nur Absagen.“
Deen Mohammad Alizadah
Edirne (Türkei)
über 10 Monate auf der Flucht
Im Juli 2019 bricht die Familie also ein weiteres Mal auf: nach Edirne, einer Stadt im Nordwesten der Türkei. Von dort aus versuchen sie es vier Mal, über das Gebirge nach Griechenland zu kommen. Mehrmals schaffen sie es über die Grenze. Doch die griechische Polizei nimmt sie fest und weist sie in die Türkei zurück.
„Das war wirklich schwer. Nachdem wir so schwierige Nächte dort verbracht haben, ohne Essen, ohne Wasser, in einer so schlechten mentalen Lage. In den Nächten im Wald zu bleiben und dann den ganzen Tag zu Fuß unterwegs zu sein. Wir wurden ein paar Mal von der griechischen Polizei festgenommen. Zwei Mal haben sie uns unser Geld, unsere Sachen, selbst unsere Decken weggenommen, und wir kehrten zurück.“
Deen Mohammad Alizadah
Çanakkale (Türkei)
über 11 Monate auf der Flucht
Das neue Ziel heißt deshalb Çanakkale. Von dort geht es über die Seeroute nach Griechenland und damit in die EU.
„Das ist keine einfache Entscheidung, den Seeweg zu wählen. Du wirst in einem kleinen Boot mit 50 oder 60 Menschen unterwegs sein, ohne Empfang, ohne jegliche Hilfe – das Risiko ist sehr hoch. Es kann nur auf drei Arten enden: Du kommst nach Europa, du kommst zurück in die Türkei oder du stirbst. Drei Optionen – eins wird geschehen.“
Deen Mohammad Alizadah
Es folgen zwei endlos scheinende Monate, in denen Deen Mohammad insgesamt neun Mal versucht, über das Meer nach Griechenland zu kommen. Seine Familie und er wurden mehrmals verhaftet und zurückgeschickt.
Moria (Lesbos, Griechenland)
21. November 2019
412 Tage auf der Flucht
Beim zehnten Versuch, nach vier Stunden auf dem Boot mit 50 Anderen, wird die Familie festgenommen und nach Lesbos gebracht. Auf dem Weg zur Insel verliert Deen Mohammad sein Handy, weshalb er keine Bilder von der Flucht und aus der Heimat mehr hat. Am 21. November 2019 ist es so weit. Nach fast einem Jahr auf der Flucht sind Deen Mohammad und seine Familie an ihrem Ziel: in Griechenland.
„Wir waren drei oder vier Stunden am Meer, ohne den Ort oder die Richtung zu wissen. Das Einzige, was wir hatten, war die Hoffnung und der Wille. Nur damit konnten wir einander unterstützen, einander die Hand geben und sagen: ‚Verliere dich selbst nicht, wir werden ankommen.‘ Mit Kindern, mit Frauen – das war eine hoffnungslose Situation, wir konnten nur zu Gott beten, uns zu helfen.“
Deen Mohammad Alizadah
Seit November sitzen sie nun in Moria fest. Im November 2021 wird er in seiner Anhörung in Griechenland erfahren, wie es für ihn und seine Familie weitergeht. Jeder Asylsuchende auf Lesbos muss zu so einer Anhörung erscheinen, bei der über ihr Bleiberecht entschieden wird.
Ende der Flucht?
Von Deutschland nach Lesbos: Zum vierten Mal
Lea Beigel kennt Deen Mohammad Alizadah nicht, was in so einem großen Camp kein Wunder ist. Die Studentin ist zwanzig Jahre alt und studiert Pädagogik im Hauptfach, Theologie im Nebenfach in Würzburg. 2017 war sie zum ersten Mal auf Lesbos: „Ein Freund hat mir einen Überblick über die Sozialprojekte in Europa geschickt, und das war das erste, was oben stand.“ Seitdem kam sie regelmäßig in den Semesterferien und blieb ungefähr einen Monat da. Jetzt ist sie für mindestens drei Monate auf der Insel.
00:25 – Anreise
00:40 – Unterkunft und Verpflegung
01:45 – Campstruktur
03:00 – Arbeitsalltag
„Normales Leben“ in einem Flüchtlingscamp


Bildquelle: Lea Beigel
Moria, 2020
Moria, 2019
Moria 2020 (links) | Moria 2019 (rechts)
„Normales Leben ist, zumindest einen eigenen Raum, eine eigene Toilette, die nur dir gehört, eine eigene Dusche und Zugang zu Wasser zu haben. In Moria ist das nicht möglich“, sagt Deen Mohammad. Er übersendet uns folgende Videos aus dem Camp:
Mit so wenig Duschen, Toiletten und Ärzt*innen müssen die Leute manchmal den ganzen Tag in der Schlange stehen. Wenn sie nicht warten, bekommen sie kein Essen. Wenn sie heute nicht duschen konnten, weil das Wasser nicht ausgereicht hat, versuchen sie es am nächsten Tag. Wenn es morgen nicht funktioniert, dann übermorgen. „Zumindest ist es möglich, so einmal in 15 Tagen zu duschen“, sagt Deen Mohammad Alizadah.
„Das Leben in Moria ist das Stehen in der Schlange.“
Deen Mohammad Alizadah
Trotz all dieser Umstände versuchen die Menschen dort positiv zu bleiben. Lea bewundert vor allem die „Genügsamkeit“ und die Eigenschaft, sich über kleine Dinge freuen zu können.
„Mich macht das eher traurig, all das Negative zu sehen, im Gegenzug zu dem, dass da eine Frau sitzt, die nichts hat und so viel Gutes damit anfängt.“
Lea Beigel
So geht es auch Deen Mohammad, der sich nicht viel mehr wünscht, als dass es seiner Familie und den Leuten im Camp etwas besser geht. Und das ist auch der Wunsch von vielen anderen unter den 20 000 Menschen, die sich zurzeit in Moria befinden.
einsteins. hat Deen Mohammad Alizadah drei Fragen gestellt, die er mit Bildern beantworten sollte:
Was gibt dir Hoffnung?

„Mein Sohn und meine Frau sind bei mir. Dank ihnen habe ich die Hoffnung, dass ich diese schwierigen Lebensbedingungen aushalten und überleben kann. Besonders mein Sohn, der noch ein kleiner Junge ist, gibt mir Hoffnung. Trotzdem stellt er sehr schwierige Fragen: ‚Warum leben wir in einem so kleinen Raum? Warum sind die Toiletten so weit von uns entfernt? Wann kehren wir wieder in das große Haus zurück, in dem wir in Afghanistan gelebt haben?´ Für mich ist es sehr schwer, ihm darauf zu antworten.“
Was ist das Wichtigste für dich?

„Mein Sohn Rezwan ist für mich das Allerwichtigste. Meine Frau und ich wollen ihn nie verlieren oder sehen, dass es ihm schlecht geht. Aber wir machen uns große Sorgen um ihn. Er ist sehr schlau und wir können ihm die Lage nur schwer nahebringen. Der Junge ist erst vier Jahre alt und das Einzige, was uns im Moment zum Lächeln bringt. Ich liebe ihn wirklich sehr.“
Was ist Solidarität für dich?

„In den letzten drei Monaten hat ein Team aus jungen und qualifizierten Menschen vor Ort auf das Coronavirus aufmerksam gemacht und Beratung zu dem Thema angeboten. Diese Menschen zu haben, bedeutet für mich Solidarität. Alle Mitglieder des MCAT-Teams sind Geflüchtete verschiedener Nationalitäten, die für Flüchtlingsgemeinschaften im Camp Moria arbeiten.“
Für mehr Bilder aus dem Camp in Moria auf den Pfeil auf der Karte drücken.
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Bildquelle: Deen Mohammad Alizadah
Fazit: Wer zeigt sich solidarisch und was kann jeder einzelne Mensch in Europa tun?

Zu unserer Recherche
Die größte Herausforderung bei unserem Thema war sicherlich die Kommunikation. Verbunden mit der schlechten Internetverbindung in Moria wurde es teilweise etwas kompliziert. Absolutes Highlight: Eine Minute vor dem vereinbarten Zoom-Interview schreiben wir Deen Mohammad Alizadah, ob er eine stabile Internetverbindung hat – daraufhin zeigt WhatsApp nur einen Haken. Schlussendlich hat dann aber doch alles funktioniert und uns in allen Belangen enorm weitergebracht.
mit technischer Unterstützung von Quentin Lerebours | TraveledMap