Unser Gastautor Michael Gellrich (27) ist Psychologie-Student an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Vorstellung von Heimat lesen Sie hier:
Heimat ist für mich kein Ort, sondern ein Gefühl. Aber welches? Seit über vier Generationen kennt meine Familie keine Heimat. Aus Schlesien und Sudetendeutschland vertrieben, nach Hamburg gezogen und im Anschluss nach Spanien ausgewandert: die Heimat, von der jeder spricht, ist für mich nur eine Reise meiner Vorfahren. In Spanien immer der Deutsche gewesen, im Land meiner Eltern nicht unbedingt der Spanier, aber dennoch fremd. Heimat entwickelte sich für mich zu einem Begriff, mit dem meine Umwelt mir scheinbar signalisieren wollte, dass ich kein Teil davon bin.
Ist Deutschland meine Heimat? Mein ganzes Leben lang habe ich mich dafür rechtfertigen müssen, Deutscher zu sein, obwohl ich in dem Land nie gelebt hatte bis ich 20 war. Als ich mich mit eben diesem Fleckchen Erde auseinandersetzen wollte, beeindruckten mich die Worte eines amerikanischen Präsidenten, der wirklich behauptete, es würde ihn mit Stolz erfüllen, wenn er sagen könnte: „Ich bin ein Berliner.“ Gerade Berlin, eine Stadt, von der so viel Unheil ausging, soll der Grund sein, Stolz zu empfinden?
Es gibt eine Menge Menschen, die sich einst von Berlin so angezogen fühlten, dass sie dort gleich bleiben wollten. Heute wollen die Berliner verhindern, dass andere es ihnen gleichtun. „Berlin den Berlinern“ steht auf großen Plakaten in den Wohngegenden der deutschen Hauptstadt. Ist Heimat also ein Besitzanspruch? Irgendwo als Erster zu sein, um zu verhindern, dass ein Zweiter oder Dritter kommt? Meines Erachtens gehört die Stadt Berlin niemandem. Sie gehört ebenso wenig jenen, die sie einst gründeten wie jenen, die sie zerstörten oder wieder aufbauten. Sie gehört auch nicht jenen Stuttgart-Sindelfingern, die vor zehn Jahren dort hinzogen. Trotz ihrer Vergangenheit hat sich diese Stadt auf der Tanzfläche der Weltgeschichte zu einem Symbol für Freiheit und Toleranz entwickelt. Lasst Berlin einfach weiter tanzen und ladet die ganze Welt ein, es zu sehen.
Das größte Geschenk auf meinem Weg waren Menschen, die mir ein Stück ihrer Heimat näher brachten und mich damit zu einem Teil davon machten. Jede Person ist in der Lage, ein Teil von dem Heimatgedanken einer anderen zu sein. Heimat ist ein dynamischer und individueller Prozess. Das, was manche Heimat nennen, verändert sich ständig. Nur ein Gedanke bleibt: Heimat gibt es nur durch den Menschen und Menschen brauchen andere mehr als sich selbst. Wenn Glück erst dann wahre Bedeutung erlangt, wenn es geteilt wird, warum sind wir dann nicht in der Lage, auf die Besitzansprüche an unsere Heimat zu verzichten? Heimat ist kein Ort, sondern das Glück, es mit der ganzen Welt teilen zu können.