Sie leben nahezu am selben Ort und doch in so unterschiedlichen Welten. Eine Reise zu vier Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten.
Regenbogenflaggen in Tel Aviv
Noa Golani protestiert fü;r mehr Rechte fü;r Homosexuelle. Das lä;uft nicht immer ohne Probleme ab.
von Marina Weirich
„Du musst dich selbst auf der Straß;e zeigen, damit die Menschen sehen, worü;ber du sprichst. Du musst dafü;r Werbung machen. Und die ö;ffentliche Ordnung in gewisser Weise stö;ren“, sagt Noa Golani. Die 31-Jä;hrige arbeitet seit 2016 im israelischen Parlament, der Knesset. Durch ihre lockere Art wirkt sie nicht so, als wü;rde sie in der Politik arbeiten. Die 31-Jä;hrige ist die politische Beraterin eines Mitgliedes der Labour-Partei im Parlament und war dort bis vor kurzem noch die zweite Vorsitzende des LGBTQI-Circles. Das heiß;t, dass alles, was die Labour-Partei fü;r die LGBTQI-Community getan hat, von Noa kam oder von ihr durchgesetzt worden ist. LGBTQI ist hierbei die Abkü;rzung fü;r Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer und Intersex. Eines ihrer Ziele ist es, mehr Bewusstsein in der Politik fü;r LGBTQI-Themen zu schaffen. Um das zu erreichen, organisiert und besucht sie hä;ufig Demonstrationen. Protestieren ist fü;r sie das wichtigste Mittel, um ihre Rechte einzufordern.
Israel wird in den Medien als das LGBTQI-freundlichste Land im Nahen Osten bezeichnet. Im Jahr 2001 wurde ein Antidiskriminierungsgesetz zum Schutz Homosexueller erlassen. Noa merkt von der Gleichberechtigung wenig: „Wir werden hier sehr viel durch die Gesetze und die Regierung diskriminiert. Die Menschen denken, dass Israel fü;r die LGBTQI-Community toll ist, aber das ist falsch. Wir haben hier keine Rechte.“ Dabei spielt sie unter anderem auf das Adoptionsrecht an. Das besteht zwar uneingeschrä;nkt auch fü;r gleichgeschlechtliche Paare, jedoch wird es laut Noa in der Praxis selten durchgesetzt. Die Anträ;ge wü;rden nur in seltenen Fä;llen angenommen werden. Auch eine gleichgeschlechtliche Ehe kann in Israel nicht geschlossen werden.
Noa ist ü;berzeugt, dass sich das ä;ndern kann. „Ich glaube, durch die Tatsache, dass wir auf die Straß;e gehen, will die Mehrheit in Israel Gleichberechtigung. 58 Prozent der Israelischen Menschen mö;chten die Ehe fü;r alle und gleiche Rechte fü;r LGBTQI-Mitglieder, nur 30 Prozent sind dagegen. Und ein paar ist es egal. Ich glaube, wir ä;ndern die ö;ffentliche Meinung. Ich glaube, die Ö;ffentlichkeit ist auf unserer Seite.“
Sie sieht das Protestieren als einzigen Weg, etwas daran zu ä;ndern. Deshalb geht sie so oft wie mö;glich auf Demonstrationen. Das lä;uft nicht immer ohne Probleme ab. „Es stellt sich immer die Frage, was die Polizei unternehmen wird. Manchmal lassen sie uns einfach machen und sagen ‘okay, gebt ihnen ihre halbe Stunde’ – das ist das, was in der Regel geschieht. Oder aber die Polizisten beschließ;en, dass sie uns nicht marschieren lassen. Dann tun sie alles, was ihrer Meinung nach das Richtige ist. Sie kö;nnen dich aufhalten.“
Noa erzä;hlt von ihren Erlebnissen mit der Polizei auf Demonstrationen. Mit ihren Freunden wollte sie durch die Straß;en laufen, ihre Proteste rufen. Die Polizisten wollten das nicht zulassen, also haben sie es ihnen verboten, erzä;hlt Noa. Sie und ihre Freunde waren mit der Situation unzufrieden: „Ein paar von uns haben etwas Lä;rm gemacht. Aber niemand von uns ist eine gewalttä;tige Person. Und niemand von uns wü;rde versuchen andere Personen zu verletzen oder absichtlich die Straß;e zu versperren.“ Sie hä;tten nur unwichtige Sachen, wie den Namen der Straß;e gerufen und jemand hatte ein Megafon dabei, behauptet Noa. Als die Polizei die Protestierenden nicht mehr in Schach halten konnte, haben sie angefangen sie zu verhaften – auch Noa. Mehrere Polizisten hä;tten sich auf sie gestü;rzt und sie festgehalten. Bei Noas Grö;ß;e von 1ᅬ Meter und ihrem geringen Kö;rpergewicht nicht gerade nö;tig, wie sie findet. Sie und ihre Freunde wurden mit auf das Revier genommen und hä;tten sich komplett ausziehen mü;ssen. „Das machen sie sonst nur, wenn sie denken, dass jemand eine Waffe hat oder sonst etwas versteckt. Aber niemand von uns war gewalttä;tig.“
Noa pendelt jeden Tag zu ihrer Arbeit in die Knesset nach Jerusalem. Sie ist selber lesbisch und lebt gerne in Tel Aviv, denn hier mü;ssen LGBTQI-Mitglieder sich nicht verstecken. Sie hat Glü;ck, fü;r ihre Familie spielt ihre Sexualitä;t keine Rolle. Tel Aviv gilt als eine der freundlichsten und liberalsten Stä;dte gegenü;ber Homosexuellen. Schaut man sich in der Stadt um, wundert das niemanden. Ob in Restaurants, Schaufenstern oder von Balkonen, ü;berall hä;ngen regenbogenfarbige Pride-Flaggen. Die Pride-Parade in Tel Aviv steht zum 20. Mal unmittelbar bevor. Mit mittlerweile etwa 250&thinsp Teilnehmern ist sie die grö;ß;te jä;hrliche Gay-Pride-Parade im Nahen Osten. Dann kommen Menschen aus aller Welt, um gemeinsam fü;r Gleichberechtigung, Toleranz und Anerkennung der LGBTQI-Gemeinschaft durch die Straß;en zu marschieren. Vor allem wollen sie aber zeigen, dass sie stolz darauf sind, anders zu sein: „Es ist eine riesige Party, denn wir feiern immer noch, wer wir sind. Bloß; weil wir in diesem Land nicht gleichberechtigt sind, heiß;t das nicht, dass wir nicht glü;cklich darü;ber sein sollten, wer wir sind. Und wir zeigen den Menschen, dass wir uns fü;r niemanden ä;ndern werden.“
Can you dance while you shoot?
Die Sä;ngerin Noga Erez protestiert durch ihre Musik. Im Gegensatz zu den Bü;rgern im palä;stinensischen Gebiet muss sie keine Konsequenzen fü;rchten.
von Marina Weirich
„Das war’s, ich habe endlich meine Geduld verloren. … Ich werde dich nicht vermissen, ich werde dich nicht beleidigen, weil du meine Leute getö;tet hast. Du hast mein Geld genommen, meine Chancen bei Verstand zu bleiben. Aber kannst du tanzen wä;hrend du schieß;t?“
So lauten ein paar Zeilen der ersten Strophe von „Can you dance while you shoot“. Konflikt ist das, was Noga Erez’ Heimatland Israel prä;gt. Und das thematisiert die Kü;nstlerin in ihren Liedern. Musikkritiker nannten ihr erstes Album „Off The Radar“, das im Juni 2017 erschien, ein Protestalbum. Die 28-Jä;hrige singt in ihren Liedern ü;ber die gesellschaftlichen Missstä;nde im Nahen Osten, besonders die Situation zwischen Israel und Palä;stina thematisiert sie. Seit der Staatsgrü;ndung Israels sind zehntausende Menschen auf beiden Seiten umgekommen. Nogas Lieder sind ihre Art von Protest.
Darin kritisiert sie , dass die Regierung den Bü;rgern durch Steuern ihr Geld nimmt und nichts gegen die Situation in den Krisengebieten unternimmt. Gleichzeitig sind die Bü;rger abhä;ngig von ihr und kö;nnen ihr somit nicht den Rü;cken kehren. Sie fü;hren lieber ihr privilegiertes Leben und verschließ;en die Augen.
„Hoffnung und Frieden sind zwei grä;ssliche Wö;rter. Sie werden heutzutage mit etwas verbunden, das offensichtlich schon verloren ist. Und sie entsprechen einer sehr naiven Einstellung“, sagt Noga Erez. Die Sä;ngerin sitzt im Schneidersitz auf einer Bank auf dem Rabin Square in Tel Aviv. Die braunen Haare sind zu einem Dutt zusammengebunden, einzelne Strä;hnen hä;ngen ihr ins Gesicht. Auch sie hat die Hoffnung verloren. Die Hoffnung darauf, dass Israel und Palä;stina ihren Konflikt beiseite legen und alle Bü;rger in Frieden leben kö;nnen.
Im Gegensatz zu den Palä;stinensern muss Noga keine Angst haben, ihre Meinung offen zu sagen. Dass sie allein durch ihre Herkunft einen Vorteil hat, weiß; sie auch: „Ich lebe in einer Realitä;t mit zwei Seiten und ich lebe auf der privilegierten Seite. Ich lebe mit diesem Gefü;hl die ganze Zeit. Und ich darf dieses Gefü;hl offen zeigen, das ist mir bewusst.“
Rund 70 Kilometer von Tel Aviv entfernt liegt der Gazastreifen. Doch zwischen Israel und Gaza liegen Welten. Die Menschen in Tel Aviv wü;rden schnell vergessen, dass die andere Seite ganz anders aussieht. „Die Menschen leben so friedlich hier. Es ist so einfach, an einem Ort wie diesem zu leben. Und zu vergessen. In diesem Moment passieren Dinge in Gaza! Es ist zu leicht, das alles auszublenden. Und es ist beä;ngstigend, wie abgekapselt wir sind und wie einfach sie es uns machen, uns abzukapseln“. Bevor Noga antwortet, legt sie immer eine lä;ngere Pause ein. Sie ü;berlegt sich ihre Antworten sorgfä;ltig. Ihre ungeschminkten, grü;n-braunen Augen blicken beim Sprechen immer wieder umher, wä;hrend sie stä;ndig mit den Hä;nden gestikuliert.
Nogas Stimme hat einen tiefen, angenehmen Klang. In ihrem Lied „Pity“ klingt sie monoton, fast schon gleichgü;ltig. Der Inhalt ist das genaue Gegenteil. Noga nimmt darin die Position einer Frau ein, die zu viel gesehen und gehö;rt hat. Das Lied ist ihre Antwort auf einen mutmaß;lichen Vergewaltigungsfall, der in Israel bekannt wurde. Mehrere Mä;nner vergewaltigten wohl eine Frau nachts in einer Bar, Aussenstehende filmten das Ganze. Das Video wurde im Nachhinein in sozialen Netzwerken verbreitet.
Die Melodien ihrer Lieder sind geprä;gt von elektronischen Klä;ngen, die sich an Hip-Hop und R’n‘B orientieren. Das war nicht immer ihr persö;nlicher Stil. Vor ein paar Jahren, als Noga noch an der Musikakademie in Jerusalem studierte, sang sie in einer Jazzband. Die Musik begleitet sie schon fast ihr ganzes Leben. Sie beherrscht unter anderem das Klavier und Percussion und sang in der Zeit ihres Wehrdienstes fü;r das israelische Militä;r. Sie fuhr in Dö;rfer und zu militä;rischen Basen und sang zusammen mit einer Band Pop-Songs und israelische Hymnen fü;r die Soldaten. Heute schreibt und produziert sie ihrer Lieder zusammen mit ihrem Lebensgefä;hrten.
Noga protestiert nicht nur durch ihre Musik, sie geht auch selbst auf die Straß;e, wenn sie sich mit einem Thema verbunden fü;hlt. In diesem Jahr war sie bereits auf mehreren Demos auf dem Rabin Square in Tel Aviv. Dort fanden eine Zeit lang jeden Samstag Demonstrationen gegen Korruption innerhalb der israelischen Regierung statt. Auch die Abschiebung von Flü;chtlingen wurde thematisiert. Ü;ber 20&thinsp Menschen gingen insgesamt auf die Straß;e, als die Regierung die Abschiebung von bis zu 40&thinsp Flü;chtlingen in Drittlä;nder ankü;ndigte. Doch die Bereitschaft zum Protest seitens ihrer Landsleute, vor allem fü;r die Politik betreffende Themen, sieht sie nicht als selbstverstä;ndlich. Die Menschen in Tel Aviv seien zu sehr auf ihr eigenes, unkompliziertes Leben fixiert. Daran erkennt Noga, dass ein Thema wirklich wichtig sein muss: Wenn den Menschen etwas so missfä;llt, dass sie aus ihrer Blase ausbrechen, um sich zu versammeln und es anzuprangern, damit es sich ä;ndert. Das Protestieren hat Noga von ihren Eltern gelernt. Sie nahmen sie schon mit auf Proteste und Kundgebungen, als sie noch ein Kind war. Sie brachten Noga bei, sich eine eigene Meinung zu bilden: „Ich wurde in einer politisch engagierten Familie groß;. Es ist die Art, wie meine Eltern ü;ber Israel gesprochen haben, als ich klein war. Es war fü;r sie wichtig, dass ich eine eigene Denkweise entwickle. Die Wahrheit hat immer zwei Seiten, also muss man sich immer alle Meinungen anhö;ren, um sich eine eigene Meinung zu bilden und informiert zu sein.“
Ihren Glauben in Politiker hat sie schon lange verloren. Denn die wü;rden nichts dafü;r unternehmen, dass endlich Frieden in den verfeindeten Lä;ndern herrscht. „Ich kenne keinen einzigen Palä;stinenser. Und das ist einfach verrü;ckt, weil ich diesen Willen ausdrü;cke. Ich denke die Regierung kontrolliert uns, indem sie uns voneinander trennt und uns die Mö;glichkeit verwehrt, miteinander zu sprechen.“ Die Grenzen werden streng kontrolliert. Fü;r Palä;stinenser ist es schwer, auf legalem Weg ins israelische Gebiet zu kommen. Noga wü;rde gerne mal mit einem Palä;stinenser singen. Das hat bisher nicht geklappt. „Etwas sollte passieren, etwas, das uns dazu bringt, die Vergangenheit beiseite zu legen. Nicht nur die Israelis, die zwar auch unter der Situation gelitten haben, aber nicht so sehr wie die Menschen der palä;stinensischen Seite. Es sollte Hoffnung geschaffen werden fü;r die Palä;stinenser. Sie sollten sich nicht fü;hlen, als hä;tten sie nichts mehr zu verlieren, sondern als gä;be es etwas, wofü;r es sich zu leben lohnt. Und die israelische Regierung versucht nicht, daran etwas zu ä;ndern.“
Noga Erez wird weiterhin Musik machen und damit gegen die Missstä;nde protestieren. Denn die Hoffnung hat sie noch nicht verloren: „Es ist nicht mehr viel – aber ich glaube an eine Sache. Ich glaube an die Menschen.“
Einfach nur Mo
Protestieren muss nicht immer laut sein und auf der Straße stattfinden, Mo Tarawa hat einen anderen Weg gewählt.
von Jennifer Sandmeyer
Mo Tarawa ist Palästinenser, lebt in Hebron, einer Stadt im Westjordanland, zu der er sich nicht zugehörig fühlt, und protestiert auf seine ganz eigene Art und Weise - still und heimlich aus den eigenen vier Wänden heraus. Sein Lebensstil: Auflehnung und Protest. „Gegen Religion, gegen Tradition, gegen Gewohnheiten“, sagt Mo und lächelt.
„Ich habe meine eigene Art des Widerstands. Ich werde selbst die Veränderung sein, die ich mir wünsche für diese Welt.“
Es ist Dienstag, der 05. Juni 2018, 17 Uhr. Mo Tarawa steht in der Küche seiner Drei-Zimmer Wohnung in Hebron, einer Stadt mit rund 200 000 Einwohnern, und setzt Kaffee auf. Der 29-jährige Palästinenser mit dem dunklen man bun, dem schwarzen, buschigen Vollbart und den dunkelbraunen Augen, der in einer streng muslimischen Familie aufwuchs, hat ein Geheimnis. Seine Familie weiß nichts von dem Doppelleben, das er schon lange führt. Die Angst, sie zu verlieren, ist für ihn zu groß: „Sie würden es nicht akzeptieren, dass ich trinke, ein Atheist bin, Sex habe, auf Partys gehe, Homosexualität akzeptiere – einfach offen bin.“ Doch genau das macht und ist der Krankenpfleger im Verborgenen. Etwa 97 Prozent sunnitische Muslime und zwei Prozent Christen leben im palästinensischen Autonomiegebiet. Mo bezeichnet sich selbst als Atheist, mit dem muslimischen Glauben kann er sich mittlerweile nicht mehr identifizieren. Damit stößt er bei seiner Familie auf Unmut, sie wollen, dass er heiratet, Kinder bekommt und seine Religion aktiv auslebt – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Mo hingegen tanzt aus der Reihe. Weil ihm Familie aber ebenso wie sein freigeistiger Lebensstil wichtig sind, versucht er eine ausgewogene Balance in seinem zweigleisigen Leben zu finden – ohne, dass seine Familie Verdacht schöpft. Denn wüssten sie um sein Zweitleben, würde ihm der Ausschluss aus der Familie drohen. Dass er nicht religiös ist, das wissen sie, dass er Atheist ist, nicht: „Sie wissen, dass ich –ihrem Ermessen nach – sündige, aber sie können sich nicht alles ausmalen. Für sie ist es sehr schwer, sich vorzustellen, dass ich diese Dinge tue!“ Sünde, das fängt für seine Eltern schon bei seinem ehe- und kinderlosen Leben an. Von den Partys haben sie keinen blassen Schimmer. Also verschafft er sich woanders Gehör: bei Couchsurfern.
„Es ist wie ein Spiel, weißt du. Und wenn du dich mit den Spielregeln auskennst, geht es dir gut. Und ihnen auch.“
Seit Dezember 2011 leihen ihm rund 800 Couchsurfer aus aller Welt ihr Ohr. Denn seine tiefsten Wünsche und Probleme kann er mit niemandem besprechen. Couchsurfing bietet Reisenden kostenlose Übernachtungen bei Einheimischen, die sich bereiterklären, ihre Wohnung zur Verfügung zu stellen. Bei Mo wartet auf Couchsurfer sogar ein eigenes Zimmer – und seine Geschichte. Das Couchsurfing bedeutet ihm alles. „Überhaupt mit den Couchsurfern zu reden, meine Gefühle und Gedanken zu teilen, darüber zu reden, wenn ich mal einen schlechten Tag habe, über meine Depression zu reden, einfach offen mit ihnen zu sein. Ich werde nie mit meinen Eltern darüber sprechen können, dass ich Atheist bin oder Sex vor der Ehe habe.“ Die Heimlichtuerei, Isolation und eine fehlende Bezugsperson belasten den 29-Jährigen stark und stürzen ihn in eine tiefe Traurigkeit.
„Religion ist nur ein Fake!“
Nach der Highschool, mit 18 Jahren, studiert er zwei Jahre im Irak Informationstechnologie. Dort begegnet er zum ersten Mal verschiedenen Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen. Eine neue, faszinierende Erfahrung für den 29-Jährigen. Noch nie zuvor war er vom wachsamen Radar der Eltern verschwunden. Jetzt konnte er „Dinge tun, ohne Angst und Paranoia vor möglichen Konsequenzen zu haben. Im Irak hat alles begonnen“. Er nickt mehrmals und blickt mit seinen dunklen Augen starr geradeaus. Nicht nur den muslimischen Glauben empfindet er als problematisch, es ist die Religion per se, die ihm Kopfschmerzen bereitet: „Ich hatte das Gefühl, Religion ist ein Instrument, um Leute zu kontrollieren, daran zu hindern weiterzugehen, zu erforschen, entdecken und eine andere Welt kennenzulernen.” Die Zeit im Irak öffnet ihm das Tor zu einer anderen, liberalen Welt. Als er erst einmal diesen Schritt wagt und die Grenze überschreitet, genießt er die Freiheit, zieht daraus seine Erkenntnis: „Religion ist nur ein Fake.” Seiner Meinung nach macht sie aus Menschen Marionetten, indem sie ihnen Regeln auferlegt „eine Software in den Köpfen installiert” und sie damit zu Gehorsam zwingt. Zwei Jahre später muss er sein Studium aufgrund des Irak-Kriegs abbrechen. Er kehrt zurück nach Hebron. Mit vielen Couchsurfern versucht er deshalb innerhalb kurzer Zeit innige Bindungen aufzubauen, die ihm in seiner Heimatstadt fehlen. Bis jetzt hat er mit den Leuten aus seinem Ort nur schlechte Erfahrungen gemacht, niemand brachte Verständnis für ihn auf, tröstete ihn oder war einfach nur für ihn da. Daraus hat er für sich eine Lehre gezogen: „Ich habe so eine Art „Einheimischenphobie“. Ich denke immer, wenn ich mit ihnen rede, dass sie mich verurteilen oder verletzen könnten“, er senkt den Blick und muss schlucken. Zum Abschied hinterlassen ihm die meisten Gäste ein besonderes Geschenk. Mos Wände zieren hunderte Schriftzüge, selbstgemalte Bilder, aufmunternde Sprüche, ein Gästebuch der besonderen Art. „No nations, no boarders. Just people“, „Berlin is waiting for you. Habibi“, „I loved your company, Mo“, steht dort unter anderem neben Blumen, Mandalas, Sonnenuntergängen, Comics in allen Farben. Für die Künstler stellt Mo einen Korb voll Wachs- und Wassermalfarben bereit. Jeder darf sich austoben. Niemals würde er diese Wohnung aufgeben. Wenn er eines Tages genug Geld zur Verfügung hat, plant er, sie zu kaufen. Er zieht eine klare Linie zwischen seinem Leben und dem seiner Familie. Besuchen dürfen sie ihn nicht, in seinem begehbaren Gästebuch. Ständig bekommt er neuen Besuch, fliegt sogar des Öfteren nach Berlin, um Freunde, die er durch Couchsurfing kennengelernt hat, zu besuchen. Begegnungen, die ihn kurzzeitig aus seinem einsamen Leben in Hebron herausholen.
„Ich leide mehr unter der palästinensischen Besatzung“
Für ihn fühlt es sich an, als würden ihm in Palästina zwei verschiedene Besatzungen die Luft abschnüren: Zum einen die israelische, die man sehen kann, dort, wo Soldaten an Checkpoints stehen und die Waffe auf Palästinenser richten, die der Grenze zu nahe kommen. Zum anderen die palästinensische Besatzung des Geistes, die er durch Religion, Tradition und eben Gewohnheit spürt. „Und diese, sie ist schwieriger zu bekämpfen als die israelische Besatzung. Unter ihr leide ich mehr.” An Demos oder öffentliche Proteste glaubt der 29-Jährige nicht. Auch der Nahost-Konflikt lasse sich so nicht beenden, dafür gebe es zu wenig Menschen, die an eine Lösung glauben und die auf die Straße gehen würden. Besser sei es, miteinander zu sprechen, um eine Lösung zu finden. „Um seine Rechte zurückzuerlangen oder Menschen auf seine Probleme aufmerksam zu machen – oder wie man es auch nennen mag – dafür gibt es nicht nur den einen Weg zu Demonstrationen zu gehen. Es gibt Millionen Wege!” Und einen davon hat er sich ausgesucht. Er hofft, dass die vielen Reisenden, die er Willkommen heißt, seine Nachricht und seine Geschichte wie eine Saat weitertragen, sodass sie möglichst viele Wurzeln schlägt. Sein Protest findet aus dem eigenen Wohnzimmer heraus statt, friedlich und diplomatisch, gebunden an Menschen, die seine Sichtweise teilen. Für seine Familie ist er Mohammed Tarawa. Für Couchsurfer ist er einfach nur Mo. Und Mo bleibt. Gehen will er nicht, denn Palästina ist seine Heimat: „Die Anständigen müssen im Land bleiben, sonst passiert nichts.“ Die Stunden mit den Couchsurfern sind für ihn Therapiesitzungen. Fremden Menschen kann er sich anvertrauen, für ein paar Tage hören sie seine Geschichte. Bis sie gehen. Und die nächsten kommen.
Aus Spaß wird Ernst
Wie ein kostümierter Comedian in Israel einen Unterschied macht
von Jennifer Sandmeyer, Antonia Titze und Marina Weirich
„Wenn es um etwas Witziges geht, demonstriere ich der Demonstration wegen. Wenn es um etwas Ernstes geht, dann ist es mir wirklich wichtig.“ Comedian Gadi Wilcherski ist eine Ikone in Israel. Sein echter Name lautet aber nicht Gadi Wilcherski, sondern Idan Mor. Die Rolle des Gadi erschuf er bei den großen Protesten für Soziale Gerechtigkeit im Jahr 2011. Hunderttausende Menschen gingen damals in Tel Aviv auf die Straßen, um unter anderem für einen sozialeren Wohnungsmarkt zu protestieren. Die Wohnkosten zwischen den Jahren 2009 und 2011 sind im ganzen Land um fast 40 Prozent gestiegen.
Um gegen diese horrenden Preise zu protestieren, fingen wenige Menschen damit an, Zelte auf dem Rothschild-Boulevard, dem teuersten Viertel in Tel Aviv, aufzuschlagen. Ihnen folgten Tausende. Diese Aktion löste eine Kettenreaktion aus, die damit endete, dass schließlich hunderttausende Israelis auf die Straße gingen. Idan Mor war dabei. Er war damals als Comedian bereits bekannt, aber um seiner Stimme mehr Gehör zu verschaffen, zog er sich eine Perücke über die Glatze und schnappte sich ein Megafon. Die Kunstfigur Gadi Wilcherski war erschaffen. Und von da an war er bei den Demos ganz vorn dabei. Gadis Karriere begann nun richtig. Bis heute ist er das Demonstrieren nicht leid geworden.
Die Proteste flauten zwar nach einigen Monaten ab, waren aber scheinbar erfolgreich: Die Regierung stellte einen Plan vor, wie günstigerer Wohnraum ermöglicht werden soll.
„Du bist mein Messias.“
„Meine sehr verehrten Damen und Herren. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um ins Wasser zu gehen. Rein mit euch. Wenn ihr untergeht, ruft nicht mich um Hilfe. Ich kann nicht schwimmen”, ruft Gadi in sein Megaphon. In der Öffentlichkeit ist er immer nur die Kunstfigur Gadi Wilcherski, nie Idan Mor. Für diese Kunstfigur hat er sich ein Outfit zusammengestellt, bestehend aus brünett-gelockter Perücke, rotem Zylinder, auf dem bunte Herzen und ein falsches Hanfblatt kleben und einer roten Lederkombi. Sein Megafon hat er immer dabei. Auch bei Interviews bleibt er in seiner Rolle. Er sei wie ein Superheld, sagt er. „Meine Superkraft ist es, Menschen zum Lachen zu bringen.“
Er steht auf einem Volleyballfeld auf dem Banana Beach in Tel Aviv, den Blick auf das Meer gerichtet. Seinen Mund umspielt ein verschmitztes Lächeln. Direkt am Meer sitzt eine Gruppe, die gerade Junggesellenabschied feiert. Der Bräutigam in spe trägt einen Schleier, alle erkennen sie Gadi und wollen erst einmal Fotos mit ihm. Danach legt er sein Megaphon auf den Boden und lässt sich in den Sand plumpsen. Es ist spät am Abend und er trägt eine Sonnenbrille mit rosafarbenen Gläsern. Die Meeresbrise weht durch seine Locken. Kaum hat er es sich im Schneidersitz bequem gemacht, joggt ein blondes Mädchen auf ihn zu und fällt vor ihm auf die Knie: „Bist du nicht der Cannabis-Kämpfer? Ich bin so stolz auf das, was du tust. Du bist mein Messias!“ Der Messias ist er zwar nicht, obwohl er dank seiner schulterlangen Haare und seinem Bart möglicherweise eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben könnte, doch mit Ersterem hat das blonde Mädchen Recht. Eines von Gadis Hauptanliegen ist die Legalisierung von Cannabis. In Israel wird Cannabis-Konsum derzeit dekriminalisiert. Der medizinische Konsum ist seit einigen Jahren erlaubt, der Konsum an öffentlichen Plätzen aber noch strafbar. Das ist eine Besessenheit für Freiheit.
„Ich liebe diese Art von Protest, weil sie Spaß macht.“
Neben seinen Shows protestiert er viel, gerne und meistens spontan, gegen alles, was ihn stört. Sein Megaphon, durch das er seine Botschaften transportiert, trägt er immer bei sich, denn um die Ecke könnte schon der nächste Grund für eine Demo lauern. Dabei filmt er und lässt seine 200 000 Facebook-Fans - dank eines Live-Streams - an all seinen Schabernacken teilhaben. Die Reichweite kam ihm schon einige Male zu Gute. Eines Nachts beispielsweise habe er mit Schrecken bemerkt, dass ein Kabelsender die nächtliche Übertragung von Spongebob Schwammkopf eingestellt hatte. „Das hat mich sehr aufgeregt und ich bin zum Büro des Senders, um dagegen zu protestieren.“ Dort ruft er Parolen in sein Megaphon und sorgt für Tumult. Die Betreiber hätten daraufhin auf Facebook gesehen, wie viele Leute die Demo unterstützen, „aufgegeben und Spongebob zurückgebracht. Wir lieben dich, Spongebob“, sagt Gadi und grinst. „Ich liebe diese Art von Protest, weil es Spaß macht.“ Dennoch gibt es auch ernste Themen, für die der Comedian einsteht und auf die Straße geht.
„Israelis sind zu faul, um auf die Straße zu gehen.“
Gadi sieht sich selbst als Gerechtigkeitskämpfer: „Manchmal protestiere ich auch, der Gerechtigkeit wegen, auch wenn es nicht lustig ist.“ Wenn er über das neue Projekt in seiner Heimatstadt Haifa spricht, bildet sich eine tiefe Falte auf seiner Stirn und das Lächeln von vorhin verzieht sich zu einer ernsten Miene. Dort plant die Regierung eine U-Bahn, allerdings ohne behindertengerechten Zugang, weil es billiger sei. Darüber kann er nur den Kopf schütteln. Hierbei zeigt sich, dass der Comedian eine sehr ernsthafte Seite hat. Das Wohl der Menschen liegt ihm am Herzen. Als „typisch israelisch“ bewertet er das Einspar-Vorhaben. Hauptsache günstig. Doch er erwartet keine Reaktion der Mitbürger, selbst wenn es um Missstände oder Ungerechtigkeiten geht: „Israelis sind zu faul, um lange auf die Straße zu gehen.“ Nicht einmal der Nahost-Konflikt, der schon Hunderttausende Menschenleben gefordert hat, treibt die Mehrheit zum öffentlichen Protest. Für das Ende des Konflikts gebe es sowieso keine Lösung – ob mit oder ohne Protest.
„Die Polizisten wissen, dass ich ein Unruhestifter bin, aber ich bringe sie zum Lachen!“
Gadi, der Cannabis- und Gerechtigkeitskämpfer. Der bunte Vogel, der überall, wo er auftaucht, polarisiert. Auch bei den Autoritäten ist er kein Unbekannter: „Ich habe eine echt komische Beziehung mit der Polizei hier, weil ich oft Ärger aufgrund der Demos bekomme“. Die Polizisten kennen Gadi aber natürlich auch als Comedian. Vor ein paar Wochen ist er nach einer Show in der Gegend herumgefahren, auf einmal wurde er von den Beamten aufgehalten und einer sagte nur: „Gadi, komm her.“ Ich dachte nur: Scheiße, was ist da los? Er schaute mich an und sagte: „Mein Neffe ist ein Riesenfan, können wir bitte ein Selfie machen und würdest du auch noch ein kurzes Video für ihn drehen?‘“ Das lässt er sich nicht zweimal sagen und dreht sogar eine Instagram-Story. „Es ist verrückt, denn sie wissen, dass ich ein Unruhestifter bin, aber ich bringe sie zum Lachen.“
Gadi ist es wichtig, sein Recht auf Meinungsfreiheit aktiv auszuüben. Er protestiert, weil er es kann.
Sie leben nahezu am selben Ort und doch in so unterschiedlichen Welten. Eine Reise zu vier Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten.
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In Tel Aviv trefft ihr Noa, die sich für mehr Rechte für Homosexuelle einsetzt, sowie die Sängerin Noga Erez, die durch ihre Musik protestiert.
In Hebron lernt ihr Mo Tarawa kennen, der zeigt, dass Protest auch still sein kann.
Haifa ist die Heimatstadt des Comedians Gadi Wilchersky. Dort setzt er sich für behindertengerechte U-Bahnen ein.
Israel Marker
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