Protest in der Pflege ist nur schwer umsetzbar. Doch es gibt kreative Möglichkeiten, um auf den Pflegenotstand aufmerksam zu machen.
von Miriam Meyer, Selina Oberpriller und Lukas Peters
Eine alte Frau liegt in ihrem Krankenbett und wimmert leise. Offene Wunden zeichnen ihren Körper. Sie hat Fieber, ihr Zustand verschlechtert sich. „Hört die lieben Kleinen, auch sie sind hier gestorben, aufgrund der fehlenden Versorgung, mangelhafter Hygiene und schlechter Behandlung. Früher waren die Schwestern und Pfleger hier, ich erinnere mich vage, alles war anders. Sie waren zwar ausgelaugt und ziemlich überarbeitet, aber alle haben sie für euch, für uns und für sich gekämpft. Damit sich das Gesundheitssystem bewegt und ändert!“
Diese Szene ist Teil des Theaterstücks „Ihr habt alle weggesehen“. Altenpflegerin Jasmina Dinter ist Initiatorin des Stücks. „Mit Emotionen und Angst“ will sie die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf das Thema Pflegenotstand in Deutschland lenken. Es spielt im Jahr 2025 auf einer Station des fiktiven „Sanatorium des Grauens“. In diesem Krankenhaus sind die Stationen mit Schwerstpflegebedürftigen überfüllt, die Pflegenden sind so überarbeitet, dass die Patienten an mangelnder Pflege sterben. Das Szenario klingt wie ein Albtraum, doch schon bald könnte die Realität ähnlich aussehen.
„Pflegende haben mittlerweile so wenig Zeit für ihre Patienten, dass die Qualität ihrer Arbeit darunter leidet.“
Elementare Arbeitsvorschriften wie die Handhygiene werden vernachlässigt, um schnellstmöglich den nächsten Patienten versorgen zu können. Beim „Aktionstag Händedesinfektion“ im September 2017 hat die Gewerkschaft ver.di Pflegende in ganz Deutschland dazu aufgerufen, sich einen Tag lang vorschriftsgemäß vor und nach jedem Patientenkontakt die Hände zu desinfizieren. Im Saarland beteiligten sich an der Aktion 78 Stationen an 16 Kliniken. Auf 34 dieser Stationen musste die Aktion bereits um acht Uhr morgens abgebrochen werden, weil die Pflegenden die Versorgung der Patienten nicht mehr sicherstellen konnten.
Die aktuellen Zahlen des ver.di Belastungschecks vom Mai 2018 belegen, wie viele Stellen fehlen. 590 Stationen an 166 deutschen Krankenhäusern haben mit ver.dis „Soll-Ist-Voll-Rechner“ berechnet, wie lang das Personal bei einer fachgerechten Pflege auf ihrer Station ausreichen würde. Das Ergebnis: Je nach Krankenhaus und Monat ist die Arbeitskraft irgendwo zwischen dem 22. und dem 27. des Monats aufgebraucht – „Am Ende des Personals ist also noch viel Monat übrig“, fasst ver.di zusammen.
Unter diesen Umständen wollen viele Pflegende nicht weiter arbeiten. Eine von ihnen ist Sabine Stein. Die 31-Jährige arbeitet schon seit sieben Jahren auf einer onkologischen Station im Universitätsklinikum des Saarlandes. Stein liebt ihren Beruf. Doch unter den aktuellen Arbeitsbedingungen will sie keine weiteren sieben Jahre dort bleiben. „Ich hatte das Gefühl, nur noch unzufrieden aus der Arbeit zu gehen. Das reicht mir jetzt!“ Stein und ihre Kollegen sehen nur noch einen Ausweg: den Streik. Doch das ist ein organisatorischer Kraftakt für die Vollzeitbeschäftigte. Denn in der Pflege zu streiken, ist kompliziert: Die Versorgung der Patienten muss immer gewährleistet werden und die Angst vor Konsequenzen durch den Arbeitgeber ist bei vielen groß.
Im EINSTEINS Print-Magazin lernt ihr im Feature „Mehr von uns“ Krankenpfleger aus dem Saarland kennen, die sich zum Streik entschlossen haben.
Doch welche Möglichkeiten haben Pflegende noch, um sich in ihrer Lage Gehör zu verschaffen? Ein Weg, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, sind kreative Aktionen. Pflegende versuchen, Missstände in ihrer Branche künstlerisch auszudrücken, um Gesellschaft und Politik aufzurütteln. Dies versucht auch die Horror Crew in ihrem Theaterstück „Ihr habt alle weggesehen“, indem sie die Zuschauer mit übertriebenen Schreckensszenarien konfrontiert. Im Februar 2018 hat die Gruppe das Theaterstück in Selm vor über 350 Zuschauern uraufgeführt. Aus dem anfangs vierköpfigen Organisations-Team sind mittlerweile 21 Mitwirkende vor und hinter der Bühne geworden. Die Horror Crew hat sich aus der „Pflege am Boden“- Gruppe der Stadt Selm entwickelt.
Pflege am Boden (PaB) versteht sich auch als eine Art des kreativen Protests. Es ist eine Aktion, die es bisher in über 150 deutschen Städten gab. Straubing in Niederbayern ist eine der Städte, in denen die Aktion noch immer regelmäßig stattfindet. Seit fast fünf Jahren liegen dort nun jeden zweiten Samstag im Monat bis zu 40 engagierte Bürgerinnen und Bürger auf dem Boden des Rathausplatzes und stehen für die Pflege gemeinsam wieder auf. Pflege am Boden versteht sich als partei- und gewerkschaftsunabhängige Aktion.
In Straubing wird der Smartmob, also ein Flashmob mit gesellschaftlicher Botschaft, von Kay Hoppe organisiert. Er ist selbst bereits seit über 30 Jahren in der Pflege tätig und muss die schlechten Arbeitsbedingungen am eigenen Leib spüren. „Ich kann den Menschen helfen, ich weiß, wie das geht, schließlich habe ich das gelernt. Aber was bringt mir das, wenn ich nicht die Zeit habe, mich um die Patienten zu kümmern?“
Hoppe ist zuversichtlich, dass die kreative Arbeit sich bezahlt macht. „Wenn wir wahrgenommen werden, wenn unsere Message in den Köpfen der Leute hängen bleibt, dann haben wir schon einiges erreicht.“
Doch nicht nur durch Taten, auch durch Worte können Pflegende die Gesellschaft erreichen. Eine Möglichkeit dazu ist der Care Slam – eine abgewandelte Form von Poetry oder Science Slams. Nur dass es dabei um das Thema Pflege geht. Jeder, der mit der Pflege in Verbindung steht, hat beim Care Slam in Berlin die Möglichkeit, seine Erfahrungen mit dem Publikum zu teilen. Dabei versteht die Aktion sich nicht als Protest gegen etwas, sondern als Empowerment. Empowerment möchte gesellschaftsverändernde Prozesse im einzelnen Menschen verankern Teilweise handeln die Texte der Slammer von Problemen wie dem Pflegenotstand. Aber auch Positives gehört dazu – wie die Leidenschaft für den Beruf. Seit 2015 steht der Care Slam in Berlin Betroffenen, wie auch Beschäftigten aller Pflegebereiche viermal jährlich offen.
Kreative Aktionen erregen Aufmerksamkeit. Pflege am Boden Straubing konnte zum Beispiel Kontakte in die Politik herstellen. Doch Organisator Hoppe meint, dass „Politik sich nur mit den Pflegenden als Experten an zielführende Veränderungen heranwagen sollte“.
Offene Stellen für Pflegekräfte in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2013 (je Million Einwohner)
Pflege Deutschland
Quelle: kliniken.de
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