Dr. Simon Teune beschäftigt sich seit 2005 wissenschaftlich mit Protesten und sozialen Bewegungen. EINSTEINS sprach mit ihm über Frieden und Gewalt, Pegida, G20 und den Arabischen Frühling, sowie über den typisch deutschen Protest.
von Margarita Bulimov und Tim Ruben Weimer
Teune forscht an der Technischen Universität Berlin zu Protesten und sozialen Bewegungen. Dafür gründete der Soziologe 2012 in Kooperation mit weiteren Sozialwissenschaftlern das Institut für Protest- und Bewegungsforschung, das Protestforscher aus ganz Deutschland zusammenbringen soll. Teune leitet dort unter anderem ein Projekt, das die Gewalteskalation während der Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg analysiert; aber auch die Aufstände gegen TTIP, Stuttgart 21 oder Pegida waren schon Teil seiner Forschung. Besonderen Schwerpunkt legt er bei seiner Forschung auf die Medienberichterstattung über Proteste.
EINSTEINS: Herr Teune, wann waren Sie das letzte Mal protestieren?
Dr. Simon Teune: Am ersten Mai in Berlin-Grunewald. Auf einer Demonstration, die das Ritual der jährlichen Konfrontation am ersten Mai ein bisschen auflösen wollte. Die Demo wollte die Frage von Wohnraum und Mieten in den reichen Bezirk Berlin-Grunewald transportieren.
Ist es friedlich verlaufen?
„Friedlich“ ist ein sehr unspezifischer Begriff. Die Polizei würde sagen: ohne größere Störungen. Bei der Demonstration wurden Autos und Überwachungskameras mit Aufklebern beklebt. Mit Sprühfarbe wurden Parolen geschmiert. Es gab aber keine Konfrontation zwischen den Demonstrierenden und der Polizei.
Das Interview findet ihr auch im EINSTEINS Print-Magazin ab S. 38.
Anders lief es beim G20-Gipfel in Hamburg. Dort eskalierten die Proteste zwischen Demonstranten und Polizei. Was ist dort schief gelaufen?
Schon im Vorfeld gab es in Hamburg eine Konfrontation zwischen radikalen Demonstrierenden und der Polizei, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hatte. Es war relativ vorhersehbar, dass sich das bei G20 wieder entlädt. Die Polizei in Hamburg geht mit radikalem Protest repressiv und undifferenziert um. In der linken Szene wiederum ist die Schwelle zur Konfrontation gering, auch weil es in der Vergangenheit Erfahrungen mit Konfrontationen gab. Beide Seiten erwarteten, dass die Gegenseite losschlagen werde.
Wie hätte die Gewalt verhindert werden können?
In Berlin am ersten Mai gibt es jedes Jahr relativ erwartbare Krawalle. Dort hat sich gezeigt, dass tatsächlich Einfluss auf die Protestform genommen werden kann. Die Polizeistrategie und die öffentliche Darstellung von Protest haben sich verändert. Diese Veränderungsbereitschaft gibt es in Hamburg nicht in der gleichen Form wie in Berlin.
Sie haben festgestellt, dass es in Deutschland drei Protestwellen gab: Die erste im Zusammenhang mit der Studentenbewegung in den 1960er Jahren, die zweite ausgehend von den neuen sozialen Bewegungen in den 80ern und die dritte Welle Anfang der 90er gegen die steigende Zahl von rassistischen Übergriffen. Ist der friedliche Protest gegen die Reform des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) nun eine neue, vierte Welle?
Es handelt sich bei den Anti-PAG-Demos um eine Protestkampagne, die das Polizeiaufgabengesetz nicht in dieser Form beschlossen haben möchte. Dieses Ziel wurde verfehlt. Polizei- und Versammlungsgesetze werden jetzt in den Bundesländern nach und nach erneuert. Insofern ist das ein Themenstrang, der sich durchzieht: Was sollen die Eingriffsrechte der Polizei sein? Das ist keine neue Protestbewegung. Der Protest gegen die Eingriffsrechte der Polizei geht schon weit zurück in die 50er, 60er Jahre. 1968 demonstrierte man gegen die Notstandsgesetzgebung. Das ist ein Beispiel dafür, dass es bei einzelnen Protestbewegungen oder Protestthemen Wellenbewegungen gibt.
Die Menschen wussten, dass das PAG nicht mehr abwendbar war und haben sich trotzdem zu Protesten zusammengeschlossen. Warum?
Klar war absehbar, dass das PAG durch Proteste nicht hätte verhindert werden können. Aber es war für viele Leute ein Bedürfnis, zum Ausdruck zu bringen, dass die Landesregierung so nicht mit den Menschen in Bayern umgehen kann. Dass diese Bürgerrechtseinschränkungen wahr- und ernstgenommen werden sollen und nicht einfach hingenommen werden können. Das hat relativ gut funktioniert. Es gab viel Aufmerksamkeit für das Thema. Dadurch ist die Tragweite des Gesetzes sichtbar geworden. Menschen haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt und werden es unter Umständen auch in ihre Wahlentscheidung miteinbeziehen.
Konstruktive Verbesserungsvorschläge gab es bei den Demos allerdings kaum.
Das ist nicht unbedingt die Aufgabe von Protest. Proteste sind eingebettet in soziale Bewegungen, deren Aktivitäten mehr sind als nur Proteste. Wenn man die Anti-Atombewegung anschaut: Die hat zwar gegen Atomanlagen protestiert, aber gleichzeitig daran gearbeitet, Alternativen zu finden, wie Windkraft und Solarenergie. Diese hätte es nicht ohne die damaligen Pioniere gegeben, die gesagt haben: „Ich bau mir jetzt ein Windrad in den Garten“ oder „Ich möchte, dass sich Solarzellen weiterentwickeln.“ Zum damaligen Zeitpunkt haben das Leute für verrückte Ideen gehalten. Heute funktioniert ein großer Teil der Stromgewinnung so.
Während der 68er-Proteste gab es Vorreiter wie Rudi Dutschke. Wie wichtig sind solche Idole heute noch?
Gegenüber Idolen hat sich eine gewisse Skepsis entwickelt. Spätestens nach 1968. Das unterscheidet sich auch zwischen den Ländern. Es gibt nach wie vor Schlüsselfiguren, die für eine Bewegung stehen. Aber in Deutschland gibt es keine wirkliche Ausrichtung auf zentrale Figuren.
Warum nicht?
Die Skepsis gegenüber der Personalisierung von Politik ist groß und linke Bewegungen versuchen sich hierarchiearm zu organisieren. Das setzt auch voraus, dass sich einzelne Leute nicht in den Vordergrund schieben. Auf der einen Seite gibt es eine Zurückhaltung, solch eine Position einzunehmen, auf der anderen Seite gibt es auch schnell Kritik an diesen Tendenzen.
Wie hat sich die Protestkultur in Deutschland seit 1968 verändert?
1968 hat eine große Bedeutung, weil danach die Bildungsbürger Protest als Mittel politischer Artikulation für sich entdeckt haben. Die neuen sozialen Bewegungen wie Friedensbewegung, Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Schwulenbewegung etc. sind sehr stark geprägt von Lehrern, Akademikern und Angestellten. Weniger von Arbeitern und von Leuten, die sozial abgehängt sind. Ein Muster, das sich in Deutschland ziemlich stark durchzieht: Protest ist eigentlich ein Sache von Besserverdienenden und Bessergebildeten. In den 50er, 60er Jahren gab es noch sehr viel stärker gewerkschaftlich dominierte Proteste.
Was hat sich noch verändert?
In der Themenauswahl gab es seit 1968 einen Wandel. Seitdem spielen die klassischen sozialpolitischen Themen und Arbeitsthemen weniger eine Rolle in Deutschland. Auch die Formen haben sich verändert. Es gibt ein Repertoire an Protestformen – also Kundgebungen, Demonstrationszüge, Blockaden oder Streiks. Das sind Muster, die einigermaßen stabil bleiben über die Zeit. Durch das Internet gibt es heute eine elektronische Ergänzung zu diesen Protestformen. Zum Beispiel Onlinedemonstrationen und -petitionen und Blockaden durch DDos-Attacken (Anm. der Redaktion: eine Art von Cyberangriff), durch welche Webseiten attackiert oder blockiert werden, haben das Repertoire erweitert.
Wie hat sich die Gesellschaft parallel weiter entwickelt?
Die öffentliche Wahrnehmung von Protest hat sich stark verändert. In den 50er, 60er Jahren wurde Protest als Gefahr wahrgenommen, als Anzeichen von Destabilisierung oder kommunistischer Unterwanderung. Das hat sich nicht mit, aber nach 1968 grundlegend verändert. Es gab einen stärker reformorientierten Protest, der als weniger bedrohlich wahrgenommen wurde. Die Polizei reagiert bei den meisten Protesten nicht mehr aggressiv. Blockaden wurden damals als Gewalt verstanden und rechtlich als Nötigung verfolgt. In den 2000ern hat man auf einmal den Vizepräsidenten des Bundestages gegen eine Neonazidemonstration auf der Straße sitzen sehen.
Sie sagen, in Deutschland sei Protest vor allem eine Sache der Bildungsschicht. Wo ist Pegida einzuordnen?
Das Vorurteil, Pegida bestände aus Abgehängten, die bis jetzt nicht zu Wort gekommen sind, trifft überhaupt nicht zu. Die gelten im Zweifel auch als ein bisschen blöde, sind aber genauso gebildet, stehen voll im Leben, haben einen Job, sind selbstständig oder angestellt. Was auffällt: Es sind vor allem Männer. Das gilt für die neue soziale Bewegung von rechts generell, dass Frauen bei den Demos zwar ganz vorne stehen, aber bei Weitem nicht die Mehrheit ausmachen. Die stehen nur da, um zu zeigen: Wir sind hier nicht nur die Glatzen-Nazis von früher, sondern wir funktionieren anders. Viele der Pegida-Demonstranten sind das erste Mal auf der Straße, um ihren Frust und ihre Kritik loszuwerden. Das sieht man auch gut an den Wahlergebnissen der AfD, welche die politische Entsprechung zu Pegida ist. Sie spricht viele Leute an, die vorher gar nicht mehr gewählt haben. Sie stellt ein Repräsentationsangebot dort auf, wo eine Lücke wahrgenommen wurde.
Der Erfolg populistischer Parteien ist kein rein deutsches Phänomen. Ist man in Deutschland aber besonders sensibel gegenüber Demonstrationen von rechts?
Was Deutschland auszeichnet ist, dass Proteste auf der Straße eine dynamisierende Rolle für die Entwicklung gespielt haben. Ohne Pegida hätte die AfD nicht die Wahlerfolge gehabt, die sie zuletzt bekam. In anderen Ländern sind Proteste eher flankierend oder direkt von Parteien organisiert. Die Straßenproteste von Pegida – relativ überschaubar, maximal 18.000 – haben dafür gesorgt, dass es eine sehr große Medienaufmerksamkeit gab. Es wurden AfD-nahe Themen gesetzt, was dazu führte, dass die Partei so stark wurde und sich innerparteilich auf völkische Themen ausgerichtet hat. Insofern ist die Rolle von Protesten für Deutschland nicht zu unterschätzen.
Sie stufen Pegida als eine relativ kleine Protestbewegung ein. Wie hat sie es dann geschafft, eine so große Medienaufmerksamkeit zu gewinnen?
Die Frage ist, wie Themensetzung in der Öffentlichkeit funktioniert. Es ist nicht so, dass die Themen von Pegida nie im öffentlichen Diskurs standen. Es gab das Buch von Sarrazin, BILD-Schlagzeilen und Äußerungen von der CDU, die im Grunde genommen das, was bei Pegida gesagt wird, abgebildet haben. Es gab keine Thematisierungslücke. Der Ausdruck war bei Pegida nur aggressiver und der Inhalt wurde über eine neue Form transportiert. Es gab vorher einfach keine so großen Proteste von rechts. Im Bezug auf die Medien gibt es eine gewisse Selbstbeobachtung untereinander: Man orientiert sich an großen Leitmedien und schaut, wie diese mit bestimmten Themen umgehen. Dieser Effekt verursachte eine größere Aufmerksamkeitswelle und führte dazu, dass über Pegidas Demonstrationen täglich in der Tagesschau berichtet wurde und der MDR online eine Liveübertragung zur Pressekonferenz von Pegida anbot. Das gab es bei Protesten vorher in dieser Form noch nicht.
Blicken wir einmal zu Protesten in anderen Erdteilen: Während des Arabischen Frühlings wurde oft behauptet, die Demonstranten hätten sich vor allem über Social Media organisiert. Teilen Sie diese Ansicht?
Ich wäre skeptisch, ob Social Media beim Arabischen Frühling tatsächlich die zentrale Rolle gespielt hat, wie es im Westen behauptet wird. Ein großer Teil der Menschen, die da auf der Straße waren, haben gar keinen Internetanschluss, unter Umständen auch kein Smartphone. Insofern neigt man dazu, den Einfluss von Social Media zu überschätzen und nicht zu bemerken, welche Rolle analoge Verbindungen spielten.
Wer beim Arabischen Frühling protestierte, setzte sich einer gewissen Gefahr aus?
Warum gehen Menschen trotzdem auf die Straße?
Es gibt die Wahrnehmung: Wir sind jetzt so viele, dass ich als Einzelner die Konsequenzen nicht spüren werde oder es zumindest sehr unwahrscheinlich ist. Der Arabische Frühling ist ein Beispiel dafür, dass es trotz repressiver Regime große Proteste gab. An einem gewissen Punkt war absehbar, dass die Repression nicht auf jeden durchschlagen würde. Aber das sind Ausnahmesituationen. Eine andere Wahrnehmung ist: Auch wenn mein Protest jetzt nichts verändert, muss ich auf die Straße gehen, weil alles andere bedeuten würde, dass ich die Entwicklung mittrage. Das machen nur relativ kleine Gruppen, die in den meisten Fällen mit ziemlich harschen Konsequenzen zu rechnen haben. Trotzdem können mit der Zeit immer mehr Leute dieser Überzeugung sein.
Gibt es Regeln für gutes Protestieren?
Es gibt eher Erfahrungswissen, was funktioniert und was nicht: Was darf ich und was darf ich nicht, wen spreche ich an und wen schließe ich aus? Leute, die tagtäglich protestieren oder Proteste organisieren, sind dafür die besseren Ansprechpartner. Die wissen, wo man das Geld herkriegt, wie man ein Thema umsetzt und wie man mediale Aufmerksamkeit schafft.
Auf welcher Demo werden wir Sie als nächstes antreffen?
Auf der Demonstration gegen die AfD.
Dr. Simon Teune beschäftigt sich seit 2005 wissenschaftlich mit Protesten und sozialen Bewegungen. EINSTEINS sprach mit ihm über Frieden und Gewalt, Pegida, G20 und den Arabischen Frühling, sowie über den typisch deutschen Protest.
von Margarita Bulimov und Tim Ruben Weimer
Teune forscht an der Technischen Universität Berlin zu Protesten und sozialen Bewegungen. Dafür gründete der Soziologe 2012 in Kooperation mit weiteren Sozialwissenschaftlern das Institut für Protest- und Bewegungsforschung, das Protestforscher aus ganz Deutschland zusammenbringen soll. Teune leitet dort unter anderem ein Projekt, das die Gewalteskalation während der Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg analysiert; aber auch die Aufstände gegen TTIP, Stuttgart 21 oder Pegida waren schon Teil seiner Forschung. Besonderen Schwerpunkt legt er bei seiner Forschung auf die Medienberichterstattung über Proteste.
EINSTEINS: Herr Teune, wann waren Sie das letzte Mal protestieren?
Dr. Simon Teune: Am ersten Mai in Berlin-Grunewald. Auf einer Demonstration, die das Ritual der jährlichen Konfrontation am ersten Mai ein bisschen auflösen wollte. Die Demo wollte die Frage von Wohnraum und Mieten in den reichen Bezirk Berlin-Grunewald transportieren.
Ist es friedlich verlaufen?
„Friedlich“ ist ein sehr unspezifischer Begriff. Die Polizei würde sagen: ohne größere Störungen. Bei der Demonstration wurden Autos und Überwachungskameras mit Aufklebern beklebt. Mit Sprühfarbe wurden Parolen geschmiert. Es gab aber keine Konfrontation zwischen den Demonstrierenden und der Polizei.
Das Interview findet ihr auch im EINSTEINS Print-Magazin ab S. 38.
Anders lief es beim G20-Gipfel in Hamburg. Dort eskalierten die Proteste zwischen Demonstranten und Polizei. Was ist dort schief gelaufen?
Schon im Vorfeld gab es in Hamburg eine Konfrontation zwischen radikalen Demonstrierenden und der Polizei, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hatte. Es war relativ vorhersehbar, dass sich das bei G20 wieder entlädt. Die Polizei in Hamburg geht mit radikalem Protest repressiv und undifferenziert um. In der linken Szene wiederum ist die Schwelle zur Konfrontation gering, auch weil es in der Vergangenheit Erfahrungen mit Konfrontationen gab. Beide Seiten erwarteten, dass die Gegenseite losschlagen werde.
Wie hätte die Gewalt verhindert werden können?
In Berlin am ersten Mai gibt es jedes Jahr relativ erwartbare Krawalle. Dort hat sich gezeigt, dass tatsächlich Einfluss auf die Protestform genommen werden kann. Die Polizeistrategie und die öffentliche Darstellung von Protest haben sich verändert. Diese Veränderungsbereitschaft gibt es in Hamburg nicht in der gleichen Form wie in Berlin.
Sie haben festgestellt, dass es in Deutschland drei Protestwellen gab: Die erste im Zusammenhang mit der Studentenbewegung in den 1960er Jahren, die zweite ausgehend von den neuen sozialen Bewegungen in den 80ern und die dritte Welle Anfang der 90er gegen die steigende Zahl von rassistischen Übergriffen. Ist der friedliche Protest gegen die Reform des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) nun eine neue, vierte Welle?
Es handelt sich bei den Anti-PAG-Demos um eine Protestkampagne, die das Polizeiaufgabengesetz nicht in dieser Form beschlossen haben möchte. Dieses Ziel wurde verfehlt. Polizei- und Versammlungsgesetze werden jetzt in den Bundesländern nach und nach erneuert. Insofern ist das ein Themenstrang, der sich durchzieht: Was sollen die Eingriffsrechte der Polizei sein? Das ist keine neue Protestbewegung. Der Protest gegen die Eingriffsrechte der Polizei geht schon weit zurück in die 50er, 60er Jahre. 1968 demonstrierte man gegen die Notstandsgesetzgebung. Das ist ein Beispiel dafür, dass es bei einzelnen Protestbewegungen oder Protestthemen Wellenbewegungen gibt.
Die Menschen wussten, dass das PAG nicht mehr abwendbar war und haben sich trotzdem zu Protesten zusammengeschlossen. Warum?
Klar war absehbar, dass das PAG durch Proteste nicht hätte verhindert werden können. Aber es war für viele Leute ein Bedürfnis, zum Ausdruck zu bringen, dass die Landesregierung so nicht mit den Menschen in Bayern umgehen kann. Dass diese Bürgerrechtseinschränkungen wahr- und ernstgenommen werden sollen und nicht einfach hingenommen werden können. Das hat relativ gut funktioniert. Es gab viel Aufmerksamkeit für das Thema. Dadurch ist die Tragweite des Gesetzes sichtbar geworden. Menschen haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt und werden es unter Umständen auch in ihre Wahlentscheidung miteinbeziehen.
Konstruktive Verbesserungsvorschläge gab es bei den Demos allerdings kaum.
Das ist nicht unbedingt die Aufgabe von Protest. Proteste sind eingebettet in soziale Bewegungen, deren Aktivitäten mehr sind als nur Proteste. Wenn man die Anti-Atombewegung anschaut: Die hat zwar gegen Atomanlagen protestiert, aber gleichzeitig daran gearbeitet, Alternativen zu finden, wie Windkraft und Solarenergie. Diese hätte es nicht ohne die damaligen Pioniere gegeben, die gesagt haben: „Ich bau mir jetzt ein Windrad in den Garten“ oder „Ich möchte, dass sich Solarzellen weiterentwickeln.“ Zum damaligen Zeitpunkt haben das Leute für verrückte Ideen gehalten. Heute funktioniert ein großer Teil der Stromgewinnung so.
Während der 68er-Proteste gab es Vorreiter wie Rudi Dutschke. Wie wichtig sind solche Idole heute noch?
Gegenüber Idolen hat sich eine gewisse Skepsis entwickelt. Spätestens nach 1968. Das unterscheidet sich auch zwischen den Ländern. Es gibt nach wie vor Schlüsselfiguren, die für eine Bewegung stehen. Aber in Deutschland gibt es keine wirkliche Ausrichtung auf zentrale Figuren.
Warum nicht?
Die Skepsis gegenüber der Personalisierung von Politik ist groß und linke Bewegungen versuchen sich hierarchiearm zu organisieren. Das setzt auch voraus, dass sich einzelne Leute nicht in den Vordergrund schieben. Auf der einen Seite gibt es eine Zurückhaltung, solch eine Position einzunehmen, auf der anderen Seite gibt es auch schnell Kritik an diesen Tendenzen.
Wie hat sich die Protestkultur in Deutschland seit 1968 verändert?
1968 hat eine große Bedeutung, weil danach die Bildungsbürger Protest als Mittel politischer Artikulation für sich entdeckt haben. Die neuen sozialen Bewegungen wie Friedensbewegung, Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Schwulenbewegung etc. sind sehr stark geprägt von Lehrern, Akademikern und Angestellten. Weniger von Arbeitern und von Leuten, die sozial abgehängt sind. Ein Muster, das sich in Deutschland ziemlich stark durchzieht: Protest ist eigentlich ein Sache von Besserverdienenden und Bessergebildeten. In den 50er, 60er Jahren gab es noch sehr viel stärker gewerkschaftlich dominierte Proteste.
Was hat sich noch verändert?
In der Themenauswahl gab es seit 1968 einen Wandel. Seitdem spielen die klassischen sozialpolitischen Themen und Arbeitsthemen weniger eine Rolle in Deutschland. Auch die Formen haben sich verändert. Es gibt ein Repertoire an Protestformen – also Kundgebungen, Demonstrationszüge, Blockaden oder Streiks. Das sind Muster, die einigermaßen stabil bleiben über die Zeit. Durch das Internet gibt es heute eine elektronische Ergänzung zu diesen Protestformen. Zum Beispiel Onlinedemonstrationen und -petitionen und Blockaden durch DDos-Attacken (Anm. der Redaktion: eine Art von Cyberangriff), durch welche Webseiten attackiert oder blockiert werden, haben das Repertoire erweitert.
Wie hat sich die Gesellschaft parallel weiter entwickelt?
Die öffentliche Wahrnehmung von Protest hat sich stark verändert. In den 50er, 60er Jahren wurde Protest als Gefahr wahrgenommen, als Anzeichen von Destabilisierung oder kommunistischer Unterwanderung. Das hat sich nicht mit, aber nach 1968 grundlegend verändert. Es gab einen stärker reformorientierten Protest, der als weniger bedrohlich wahrgenommen wurde. Die Polizei reagiert bei den meisten Protesten nicht mehr aggressiv. Blockaden wurden damals als Gewalt verstanden und rechtlich als Nötigung verfolgt. In den 2000ern hat man auf einmal den Vizepräsidenten des Bundestages gegen eine Neonazidemonstration auf der Straße sitzen sehen.
Sie sagen, in Deutschland sei Protest vor allem eine Sache der Bildungsschicht. Wo ist Pegida einzuordnen?
Das Vorurteil, Pegida bestände aus Abgehängten, die bis jetzt nicht zu Wort gekommen sind, trifft überhaupt nicht zu. Die gelten im Zweifel auch als ein bisschen blöde, sind aber genauso gebildet, stehen voll im Leben, haben einen Job, sind selbstständig oder angestellt. Was auffällt: Es sind vor allem Männer. Das gilt für die neue soziale Bewegung von rechts generell, dass Frauen bei den Demos zwar ganz vorne stehen, aber bei Weitem nicht die Mehrheit ausmachen. Die stehen nur da, um zu zeigen: Wir sind hier nicht nur die Glatzen-Nazis von früher, sondern wir funktionieren anders. Viele der Pegida-Demonstranten sind das erste Mal auf der Straße, um ihren Frust und ihre Kritik loszuwerden. Das sieht man auch gut an den Wahlergebnissen der AfD, welche die politische Entsprechung zu Pegida ist. Sie spricht viele Leute an, die vorher gar nicht mehr gewählt haben. Sie stellt ein Repräsentationsangebot dort auf, wo eine Lücke wahrgenommen wurde.
Der Erfolg populistischer Parteien ist kein rein deutsches Phänomen. Ist man in Deutschland aber besonders sensibel gegenüber Demonstrationen von rechts?
Was Deutschland auszeichnet ist, dass Proteste auf der Straße eine dynamisierende Rolle für die Entwicklung gespielt haben. Ohne Pegida hätte die AfD nicht die Wahlerfolge gehabt, die sie zuletzt bekam. In anderen Ländern sind Proteste eher flankierend oder direkt von Parteien organisiert. Die Straßenproteste von Pegida – relativ überschaubar, maximal 18.000 – haben dafür gesorgt, dass es eine sehr große Medienaufmerksamkeit gab. Es wurden AfD-nahe Themen gesetzt, was dazu führte, dass die Partei so stark wurde und sich innerparteilich auf völkische Themen ausgerichtet hat. Insofern ist die Rolle von Protesten für Deutschland nicht zu unterschätzen.
Sie stufen Pegida als eine relativ kleine Protestbewegung ein. Wie hat sie es dann geschafft, eine so große Medienaufmerksamkeit zu gewinnen?
Die Frage ist, wie Themensetzung in der Öffentlichkeit funktioniert. Es ist nicht so, dass die Themen von Pegida nie im öffentlichen Diskurs standen. Es gab das Buch von Sarrazin, BILD-Schlagzeilen und Äußerungen von der CDU, die im Grunde genommen das, was bei Pegida gesagt wird, abgebildet haben. Es gab keine Thematisierungslücke. Der Ausdruck war bei Pegida nur aggressiver und der Inhalt wurde über eine neue Form transportiert. Es gab vorher einfach keine so großen Proteste von rechts. Im Bezug auf die Medien gibt es eine gewisse Selbstbeobachtung untereinander: Man orientiert sich an großen Leitmedien und schaut, wie diese mit bestimmten Themen umgehen. Dieser Effekt verursachte eine größere Aufmerksamkeitswelle und führte dazu, dass über Pegidas Demonstrationen täglich in der Tagesschau berichtet wurde und der MDR online eine Liveübertragung zur Pressekonferenz von Pegida anbot. Das gab es bei Protesten vorher in dieser Form noch nicht.
Blicken wir einmal zu Protesten in anderen Erdteilen: Während des Arabischen Frühlings wurde oft behauptet, die Demonstranten hätten sich vor allem über Social Media organisiert. Teilen Sie diese Ansicht?
Ich wäre skeptisch, ob Social Media beim Arabischen Frühling tatsächlich die zentrale Rolle gespielt hat, wie es im Westen behauptet wird. Ein großer Teil der Menschen, die da auf der Straße waren, haben gar keinen Internetanschluss, unter Umständen auch kein Smartphone. Insofern neigt man dazu, den Einfluss von Social Media zu überschätzen und nicht zu bemerken, welche Rolle analoge Verbindungen spielten.
Wer beim Arabischen Frühling protestierte, setzte sich einer gewissen Gefahr aus?
Warum gehen Menschen trotzdem auf die Straße?
Es gibt die Wahrnehmung: Wir sind jetzt so viele, dass ich als Einzelner die Konsequenzen nicht spüren werde oder es zumindest sehr unwahrscheinlich ist. Der Arabische Frühling ist ein Beispiel dafür, dass es trotz repressiver Regime große Proteste gab. An einem gewissen Punkt war absehbar, dass die Repression nicht auf jeden durchschlagen würde. Aber das sind Ausnahmesituationen. Eine andere Wahrnehmung ist: Auch wenn mein Protest jetzt nichts verändert, muss ich auf die Straße gehen, weil alles andere bedeuten würde, dass ich die Entwicklung mittrage. Das machen nur relativ kleine Gruppen, die in den meisten Fällen mit ziemlich harschen Konsequenzen zu rechnen haben. Trotzdem können mit der Zeit immer mehr Leute dieser Überzeugung sein.
Gibt es Regeln für gutes Protestieren?
Es gibt eher Erfahrungswissen, was funktioniert und was nicht: Was darf ich und was darf ich nicht, wen spreche ich an und wen schließe ich aus? Leute, die tagtäglich protestieren oder Proteste organisieren, sind dafür die besseren Ansprechpartner. Die wissen, wo man das Geld herkriegt, wie man ein Thema umsetzt und wie man mediale Aufmerksamkeit schafft.
Auf welcher Demo werden wir Sie als nächstes antreffen?
Auf der Demonstration gegen die AfD.