ohne bein glücklich sein

wenn ein körperteil zur last wird

Mit Krücken zu gehen, war sein größter Wunsch: Erst seit Daniel nur noch ein Bein hat, fühlt er sich komplett. Über eine Störung, die ein gesundes Körperteil zur Last werden lässt.

Stadttour mit nur einem Bein

Daniel* rammt das Ende seiner Krücke gegen die Schwingtür der Bahnhofshalle in Koblenz. Die Tür fliegt auf. Noch bevor sie wieder zufallen kann, stellt er geschickt den Stock dazwischen und hüpft aus der Tür. Sengende Hitze strömt ihm entgegen. Seine Krücken klacken auf dem Pflaster des Bahnhofsplatzes. Aus seiner kurzen Hose ragt nur sein rechtes Bein. Denn das linke geht nur bis zur Mitte seines Oberschenkels und endet in einem Stumpf. Mit seinen Krücken schwingt sich Daniel zu seinem Liegefahrrad. Er steckt sie in den Krückenhalter, hüpft auf einem Bein um das Fahrrad herum und lässt sich auf den Sattel fallen. Er schlüpft aus seinem einzelnen Straßenschuh und wechselt ihn gegen einen Fahrradschuh. Mit einem Klick befestigt er ihn am rechten Pedal. Das linke fehlt, er braucht es nicht. Doch für Daniel ist das nicht schlimm. Im Gegenteil: Er hat es so gewollt. Vor etwa sechs Jahren hat er sich sein Bein amputieren lassen. Erst seitdem fühlt er sich in seinem Körper wohl. Der Grund dafür: BIID, eine Störung, bei der die Betroffenen einen Wunsch nach Amputation oder Lähmung eines Körperteils empfinden.

Ein Kindheitstraum

Dieser Wunsch hat Daniel schon sein ganzes Leben lang begleitet. Als kleiner Junge war er von Gleichaltrigen mit Kinderlähmung fasziniert. Sein Wunsch, selbst gelähmt zu sein, wurde immer stärker. Normal war das nicht. Das war ihm klar. Ein Leben im Rollstuhl konnte er sich aber nicht vorstellen. Doch dieser Wunsch, sein Bein nicht mehr spüren zu wollen und ein Leben lang auf Krücken zu laufen, ließ ihn nicht los.

"Am liebsten wollte ich mein Bein sofort loswerden"

Was genau mit ihm los war, hat er erst einige Jahre später herausgefunden, als er beim Surfen im Internet auf das BIID-Dach-Forum gestoßen ist, auf dem sich Betroffene austauschen und Ärzte informieren. „Die Texte, die ich dort gelesen habe, waren so authentisch, als hätte ich sie selbst geschrieben. Ich wusste: Das ist meine Diagnose. Und ich bin nicht allein“, erinnert sich Daniel.

Im Schatten der Bäume rollt Daniel mit seinem Liegerad die Uferpromenade am Rhein entlang. Sein rechter Fuß treibt das Fahrrad an. Mit der rechten Hand lenkt er es, seine linke ruht auf dem Stumpf. Neben einem Kiosk muss er anhalten. Treppenstufen versperren ihm den Weg. Er schaut sich um und sucht nach einer Rampe. Ein Mann weist mit dem Finger in die andere Richtung. Hilfe von anderen Leuten lehnt Daniel meistens ab. „Aber ich muss akzeptieren, dass das lieb gemeint ist und ich das manchmal annehmen muss.“ Er möchte kein Mitleid.

Schon damals, als er noch, wie er es nennt, „Zweibeiner“ war, machte ihn die Vorstellung einer Amputation sehr glücklich. Vor ein paar Jahren nahm Daniel bei einem Forschungsprojekt teil. Ein Foto von ihm wurde so bearbeitet, als hätte er nur ein Bein. Während er das Bild betrachtet hat, wurden seine Hirnströme gemessen. Sie haben gezeigt, welche Freude er dabei empfunden hat. „Das war so irre, die pure Freude. Am liebsten wollte ich mein Bein sofort loswerden.“

Fit in einem Turnschuh

An einem Pfosten kettet Daniel sein Liegerad an. Er wechselt seinen Schuh, hüpft um das Rad und schnappt sich seine Krücken. Über das Kopfsteinpflaster klackert er bis zum Denkmal am Deutschen Eck, wo Mosel und Rhein zusammenfließen. Fahnen mit den Wappen der Bundesländer wehen entlang der Promenade. Die Sonne blitzt auf der Wasseroberfläche. Daniel kehrt der Sonne den Rücken zu und steht vor über 100 Stufen, die zur Aussichtsplattform führen. Er setzt die Krücken auf die Treppe und schwingt sein Bein hinterher. So schafft er drei Stufen auf einmal. Er überholt einige Touristen und steht kurz darauf zwischen den kühlen, steinernen Mauern des Denkmals. Das Gehen mit einem Bein war für ihn keine große Umstellung. Viele sind überrascht davon, wie gut er mit den Krücken zurechtkommt.

Vor der Amputation hat er schon „pretendet“, also so getan, als sei er behindert: „Ich habe mir mein Bein hochgebunden, eine weite Hose und einen Mantel angezogen und es darunter versteckt. So bin ich dann rumgelaufen. Auch mit der Angst, von Bekannten entdeckt zu werden. Aber es war ein unerfüllter Traum.“ Der Gedanke an eine Amputation fesselte ihn. „Ich habe ununterbrochen darüber nachgedacht. Alle paar Minuten entschied ich mich wieder um. Du machst es, Ok du lässt es bleiben. Es war ein schreckliches Gefühl.“

Ein leichter Wind säuselt durch die Torbögen des Denkmals und bringt Daniels T-Shirt zum Flattern. Die Motoren der Ausflugsschiffe auf dem Rhein schallen leise herüber. Er lehnt seine Krücken an die Mauer, greift in seine Hosentasche und zündet sich eine Zigarette an. Auf seinem rechten Bein steht Daniel so sicher, wie ein schlafender Flamingo.

Eine Zeichnung von Mario Ruf, Student

Barrierefrei?

BIID ist in Deutschland nicht als offizielle Krankheit anerkannt. Ein gesundes Körperteil zu amputieren, ist deshalb verboten.

Auch wenn er das Verbot akzeptiert, gab es für ihn nur eine Möglichkeit, glücklich zu werden: Der Weg ins Ausland.

Sein Vorhaben war beschlossen, die erte Rate gezahlt. Es gab kein Zurück mehr. „Das ist so wie im Schwimmbad, wenn du vom Fünfer springen musst. Du ziehst noch eine und noch eine Bahn, weil du dich nicht recht traust. Dann kletterst du die Leiter hoch und spätestens dann kommst du auch nicht mehr zurück, weil du weißt, du musst das jetzt machen.“

Wie und wo genau die Amputation passiert ist, weiß nur er. Daniel hat versprochen, niemandem davon zu erzählen. „Ich habe eine ganze Menge gezahlt. Man braucht ja mehr Personen, als nur einen Arzt. Die müssen alle mit Geld zum Schweigen gebracht werden.“

Die offizielle Geschichte, die er seiner Frau, seiner Familie und allen anderen erzählt, ist: Für seine Arbeit musste Daniel ins Ausland reisen. Währenddessen trat er in eine Scherbe. Die Wunde entzündete sich und wurde nicht rechtzeitig behandelt. Darauf folgte eine Infektion, die Daniel vor die Entscheidung stellte: Sein Bein oder sein Leben. „Diese Geschichte hat mir der Arzt, der mich amputiert hat, mit auf den Weg gegeben und dazu die Diagnose, die auch für Ärzte in Deutschland überzeugend klingt.“

Das Bein geht, das Glück kommt

Es klingt unglaublich, aber mit nur einem Bein geht es Daniel gleich deutlich besser. So schnell wie möglich wieder zu arbeiten, war ihm sehr wichtig. Acht Wochen nach der Amputation kehrte er in den Arbeitsalltag als Beamter zurück. „Ich habe plötzlich viel effektiver arbeiten können und konnte mich auch besser auf mein Leben konzentrieren.“

Daniel schwingt sich wieder auf sein Liegerad und holpert über den unebenen Gehsteig Richtung Innenstadt. Er muss anhalten. Zwischen einer Straßenlaterne und der Hauswand neben ihm wird es eng. Nach zwei Versuchen gelingt es ihm, sein Rad durch den Spalt zu zwängen. Ein paar Straßen weiter fährt Daniel an der weißen Fassade des Krankenhauses vorbei, in dem er das Laufen mit seiner neuen Prothese gelernt hat. Mit der linken Hand streicht er über seinen Stumpf und erzählt: „Ich erscheine mittlerweile nach Lust und Laune mal mit und mal ohne Prothese in der Arbeit.“

Seine Hobbys hat Daniel durch die Amputation nicht aufgegeben: Sein Fahrrad hat er durch ein Liegerad ersetzt, er schwimmt weiterhin und jeden Mittwoch trifft er sich mit anderen zum Sitzballspielen. Hier ist er womöglich der einzige, der mit Behinderung glücklicher ist, als ohne. Gegenüber seiner Familie hat er schon ab und zu ein schlechtes Gewissen. „Bis auf diese Sache bin ich eine ehrliche Haut. Nur das ist eine Notlüge, die ich akzeptieren kann, weil ich weiß, dass meine Familie damit nicht klarkommen würde.“ Nur auf Treffen mit anderen BIID-Betroffenen, die er aus Internetforen kennt, ist er offen und ehrlich. Dort unterhält er sich über BIID, das „Pretenden“ und über Dinge wie Ehe und Beziehung.

In der späten Nachmittagssonne stoppt Daniel bei seiner Lieblingseisdiele in der Altstadt. Familien mit Kindern und Schüler tummeln sich in der Fußgängerzone. Er rollt mit seinem Liegerad an den Tresen, bestellt zwei Kugeln mit Sahne und hievt sich zum Bezahlen aus dem Sitz. Ein etwa dreijähriger Junge mit Strohhut zeigt mit dem Finger auf Daniel und fragt laut: „Mama, warum hat der Mann nur ein Bein?“

*Name geändert

Was ist BIID eigentlich?

BIID (Body Integrity Identity Disorder) ist der quälende Wunsch, ein Körperteil oder eine Körperfunktion loszuwerden.

Jeder Mensch hat ein inneres Körperschema. Einen Plan, wie der Körper aussehen sollte.

Bei BIID-Betroffenen ist dieses Körperschema gestört. Innerlich gehört der betroffene Körperteil oder die Körperfunktion nicht zu ihnen. Aber äußerlich – an ihrem Körper – ist es vorhanden.

In den meisten Fällen wünschen sich Betroffene eine Beinamputation.

In Deutschland ist es nicht möglich, sich ein gesundes Körperteil amputieren zu lassen. Deswegen entfernen sich manche BIID-Betroffenen die Körperteile selbst oder lassen es von Ärzten im Ausland machen.

Jene, die diesen Schritt gewagt haben, berichten einstimmig, dass es ihnen besser geht, sie glücklich sind und nicht an Lebensqualität verloren haben.

Jedoch ist die Amputation nicht die Heilung, sondern eine Symptombehandlung.

Die Wissenschaftler sind sich über die Ursache der Störung uneinig. Möglicherweise liegt die Ursache für BIID an einem Hirndefekt.

Weltweit liegt die Zahl der Menschen, die an BIID leiden wohl im vierstelligen Bereich. Die Symptome treten schon früh in der Kindheit auf und werden mit dem Alter stärker.

Es gibt verschiedene Behandlungsansätze, aber noch keine Heilung.

 

Fakten zu BIID

  • BIID bedeutet Body Integrity Identify Disorder (Körperidentitätsidentifikationsstörung)
  • BIID ist nicht als offizielle Krankheit anerkannt
  • Die Anzahl der Betroffenen ist unbekannt, in Deutschland liegt sie vermutlich im niedrigen, zweistelligen Bereich
  • Es gibt europaweit zehn Experten, deutschlandweit drei
  • Die Ursache ist bislang unbekannt
  • Aktuell gibt es keine Forschungprojekte zu BIID
  • Frühere Forschungen wurden finanziell nicht unterstützt
  • Die Betroffenen sind in der Regel männlich und überdurchschnittlich intelligent
  • 30 Prozent sind homosexuell

die autoren

text & bild  lena christl

text  lena paul