Kinder in Deutschland müssen zur Schule – doch genau das sehen Freilerner anders. Ihre Kritik: Das deutsche Schulsystem muss auch individuelle Alternativen zulassen. Die Freilerner verweigern sich der Schule, denn die Kinder sollen beim Lernen selbst über Zeit, Ort und Inhalt bestimmen.
Kinder in Deutschland müssen zur Schule – doch genau das sehen Freilerner anders. Ihre Kritik: Das deutsche Schulsystem muss auch individuelle Alternativen zulassen. Die Freilerner verweigern sich der Schule, denn die Kinder sollen beim Lernen selbst über Zeit, Ort und Inhalt bestimmen.
von Marie Campisi und Benedikt Schimmer
Es ist ein Herbsttag im Jahr 2001. Malchus Kern ist elf Jahre alt und gerade in die sechste Klasse gekommen, als ihm endgültig klar wird: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Er hat genug vom ruppigen Umgang zwischen den Schülern und von willkürlichen Standpauken der Lehrer. Ab jetzt wird er nie wieder zur Schule gehen. Sowieso kann Malchus ohne Zwang viel besser lernen. Schon im Kindergarten hat er sich den Schulstoff von seinen älteren Geschwistern erklären lassen.
Malchus im Steinbruch. Statt in der Schule zu sitzen, gräbt er lieber nach Fossilien.
Seine Eltern Karen und Matthias – beide studierte Lehrer – akzeptieren seine Entscheidung und informieren das Schulamt darüber. Während seine ehemaligen Mitschüler im Klassenzimmer sitzen, durchstöbert Malchus ab sofort die örtliche Bücherei, besucht Museen und untersucht die Pflanzen im eigenen Garten. Die Reaktion des Schulamtes allerdings sind Bußgeldbescheide, denn die allgemeine Schulpflicht in Deutschland verbietet Heimunterricht. Insgesamt zahlen seine Eltern 1 000 Euro Strafe für sein Fehlen.
Nach zwei Jahren hat Malchus aber die Nase voll. „Was ist das für ein riesen Theater. Warum reden die immer nur mit meinen Eltern? Ich bin doch aus der Schule raus, weil ich meine Gründe dafür habe“, sagt er. Kurzerhand setzt sich der 13-Jährige an seinen Tisch und schreibt dem Schulamt einen Brief. Sein Hauptanliegen: „Ich fordere Sie auf, erstens meine Eltern zu entlasten und unsere Lösung so stehen zu lassen und keine anderweitigen Bußgelder zu schicken. Sowie zweitens, aufzuhören uns Lösungen zu geben, die uns nicht zum Ziel führen oder gar ins Gegenteil gehen.“ Wenig später lädt ihn das Oberschulamt auf ein persönliches Gespräch ein.
Zusammen mit seiner Mutter und einem Bekannten fährt er mit dem Zug dorthin. Mit im Gepäck: Ein Tagebuch, in dem sie Malchus Lernfortschritte genau dokumentieren sowie eine Liste sämtlicher Museen, die sie in den letzten zwei Jahren besucht haben. Das Oberschulamt sieht ein, dass Malchus nie wieder eine Schule betreten wird und erteilt ihm eine Ausnahmegenehmigung – überraschenderweise. Denn eigentlich bekommen die nur Kinder mit schweren Behinderungen. Seitdem kann Malchus legal auf die für ihn beste Weise lernen – ohne Lehrer, Klassenzimmer und Lehrplan.
In Deutschland herrscht Schulpflicht. Freilernen ist keine legale Alternative zur Schule.
Damit zählt er zu den sogenannten Freilernern, eine kleine, aber wachsende Szene in Deutschland. Eine typische Lernweise gibt es dabei nicht. Manche Kinder lernen aus Büchern, andere lernen beim Einkaufen mit den Eltern und wieder andere sehen sich YouTube-Videos an. Das Problem: In Deutschland herrscht Schulpflicht und damit ist das Freilernen keine legale Alternative zur Schule.
Die Schulpflicht ist für Dr. Ilka Hoffmann absolut notwendig. Sie ist Hauptvorstand für den Organisationsbereich Schule der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft und sieht beim Freilernen besonders ein Problem: „Die Gefahr ist, dass diese Kinder nicht lernen, sich mit Gleichaltrigen auseinanderzusetzen. Sie bleiben also in ihrem Soziotop und das macht es später viel schwerer, mit Konflikten umzugehen.“ Für Hoffmann ist die Schule mehr als Unterricht. Sie sieht die Schule als Ort, andere Lebensentwürfe kennenzulernen, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen und konfliktfähig zu werden.
Rainer Schmidt* sieht das anders. Er lebt mit seinen Kindern Tobias*, Melody* und Atilla* in Karlsruhe und ist schon lange in der Freilerner-Szene unterwegs. Die drei Kinder waren von Beginn an Freilerner. Für Rainer stellen die sozialen Kontakte kein Problem dar, da man diese auch in Vereinen finde. Deshalb ist der 13-jährige Tobias auch in vielen Vereinen aktiv, unter anderem dem Schachclub, den HipHop-Chicks, der Wasserwacht und den Pfadfindern. Sein neunjähriger Bruder Atilla hat Freunde beim Fußball und unternimmt viel mit den Nachbarskindern. Bei Melody hat sich das gewandelt: Früher hat auch sie in der Nachbarschaft viele Kinder getroffen. Mittlerweile hat die Zwölfjährige gemerkt, dass ihre Freundinnen weniger Zeit haben, seitdem sie auf weiterführenden Schulen sind. Um nicht den Kontakt zu ihnen zu verlieren, hat sie sich vor zwei Monaten am Gymnasium einschulen lassen. In ihrem Fall waren dafür eine Anmeldung für den Aufnahmetest und einige Wochen Vorbereitung ausreichend. Bis jetzt gefällt es ihr dort. Sie sagt, die Struktur helfe ihr beim Lernen.
„Wir haben so viele neue Lernmöglichkeiten und Lernmedien. Was soll dieses alte Schulgebäude mitten in unserer Lernlandschaft?“
Ihre Freilerner-Methoden nutzt sie aber trotzdem noch zur Unterstützung. Genau wie ihre Geschwister lernt sie mit kostenlosen Online-Kursen wie „Khanacademy“, „Udemy“ oder „Coursera“. Mit Erklärvideos und Übungsaufgaben arbeiten sich die Kinder von einer zur nächsten Schwierigkeitsstufe hoch. Ihr Vater Rainer ist begeistert von den Möglichkeiten, die das Internet bietet. Er ist überzeugt, dass die Schule mit der Digitalisierung nicht mithält. „Wir haben mittlerweile so viele neue Lernmöglichkeiten und Lernmedien, dass man sich wundert, was dieses alte Schulgebäude mitten in unserer Lernlandschaft soll“, sagt der studierte Informatiker. So hat sich Melody mithilfe von YouTube beispielsweise das Zeichnen beigebracht.
Doch trotz sämtlicher Online-Kurse und Fortbildungsmöglichkeiten zählen Tobias und Atilla zu Schulverweigerern. Wie Vater Rainer die Bußgeldbescheide umgeht, will er nicht verraten. Da er sich aber schon lange damit auseinandersetzt, weiß er, wie er die Probleme umgeht.
Um die Schulpflicht zu vermeiden, melden Freilerner-Familien den Wohnsitz ihrer Kinder häufig im Ausland an. Anders als in Deutschland ist der Heimunterricht in einigen anderen europäischen Ländern erlaubt. So verschwinden die Familien von den Listen der deutschen Schulen und Behörden und somit auch von deren Radar. Professor Thomas Spiegler sieht aber genau beim „unter dem Radar bleiben“ die Gefahr des Freilernens. Er ist Professor an der Theologischen Hochschule Friedensau und hat sich als einer der ersten deutschen Wissenschaftler empirisch mit Freilernen auseinandergesetzt. „Durch die strikte Schulpflicht drängt man das Ganze in den Untergrund und man hat keinen Einblick mehr“, sagt Spiegler. Eine mögliche Lösung sieht er in der Einführung einer Bildungspflicht statt einer Schulpflicht, da so Kontrollen möglichen wären. So könnte man Freilerner-Familien begleiten und damit auch vorbeugen, dass das Kindeswohl gefährdet wird.
Bildungs- und Schulpflicht in Europa
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Bildung in Europa
In Deutschland herrscht strikte Schulpflicht, die je nach Bundesland zwischen neun und zwölf Jahren dauert.
In Kroatien herrscht eine elf Jahre lange strikte Schulpflicht.
In Schweden herrscht eine Schulpflicht von zehn Jahren. Zwar ist Homeschooling unter besonderen Umständen erlaubt, Ausnahmen von der Schulpflicht werden aber praktisch nie genehmigt.
In den Niederlanden gibt es eine zwölfjährige Schulpflicht. Ausnahmen werden aber bei religiösen oder philosophischen Einwänden gegen die lokalen Schulen genehmigt.
In Spanien herrscht eine Schulpflicht, sie dauert zehn Jahre. Gleichzeitig ist durch die Verfassung aber auch die Bildungsfreiheit gesichert. Deswegen ist Heimunterricht erlaubt, wenn es dem Kindeswohl entspricht.
In Luxemburg dauert die Schulpflicht zwölf Jahre, ausgenommen davon sind Kinder im Grundschulalter.
Die Schulpflicht in der Slowakei dauert zehn Jahre. Ausgenommen sind davon kranke Kinder und Kinder zwischen sechs und zehn Jahren.
In der Schweiz herrscht die Bildungs-oder Unterrichtspflicht von neun Jahren. Hausunterricht ist in 24 von 26 Kantonen erlaubt.
In Belgien gibt es eine zwölfjährige Bildungs-/Unterrichtspflicht. Heimunterricht ist außerdem ein Verfassungsrecht.
In Dänemark herrscht eine Unterrichtspflicht von neun Jahren. Heimunterricht ist verfassungsrechtlich erlaubt.
Irland hat eine zehnjährige Unterrichtspflicht. Heimunterricht ist legal.
In Italien herrscht die Bildungspflicht. Diese dauert zehn Jahre und lässt Heimunterricht zu.
Finnland hat eine neunjährige Lernpflicht, die Heimunterricht zulässt. Das Kind muss jedoch regelmäßig schriftliche und mündliche Prüfungen absolvieren.
Frankreich hat eine Bildungspflicht von zehn Jahren. Heimunterricht mit jährlichen Inspektionen ist erlaubt.
Das Vereinigte Königreich hat eine Unterrichtspflicht von elf Jahren. Hausunterricht ist auch ohne Kontrollen legal.
In Österreich herrscht die Unterrichtspflicht. Diese dauert neun Jahre und erlaubt Heimunterricht mit einer jährlichen Prüfung.
In Polen herrscht zwar eine neunjährige Schulpflicht, Heimunterricht ist aber trotzdem legal. Das Kind muss allerdings von einer Schule betreut werden und eine jährliche Prüfung bestehen.
Portugal hat eine Bildungspflicht von neun Jahren. Heimunterricht muss den Lehrplan einhalten und das Kind muss jährlich eine Prüfung ablegen.
In der Tschechischen Republik herrscht eine neunjährige Schulpflicht. Heimunterricht ist jedoch bei einschränkenden Bedingungen erlaubt.
In Slowenien gibt es eine Unterrichtspflicht, die neun Jahre dauert. Heimunterricht ist gestattet, wenn das Kind jährlich Prüfungen in bestimmten Fächern besteht.
In Norwegen gilt eine zehnjährige Unterrichtspflicht. Heimunterricht ist legal.
In Ungarn gibt es eine zehnjährige Schulpflicht. Heimunterricht ist aber erlaubt, wenn das Kind von einer Schule betreut wird und eine jährliche Prüfung besteht.
Dennoch, die Schulpflicht ist eine große Errungenschaft in Deutschland. „Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, und das muss der Staat gewährleisten“, sagt Hoffmann. Der Anteil der Eltern, die die Zeit hätten, die Bildung ihrer Kinder zuhause sicherzustellen, sei verschwindend gering – der Anteil der Familien dagegen, in denen der Staat Bildung gewährleisten müsse, sei viel größer. Trotzdem sieht Hoffmann, dass Schulen oft wenig auf den Einzelfall eingehen. Auch Spiegler meint: „Dort, wo wir große Abweichungen haben, zum Beispiel Kinder mit Lernschwierigkeiten oder mit Hochbegabung, kommt das Schulsystem schnell an seine Grenzen.“
Diese Erfahrung haben auch Michael* und seine Mutter Louise Kaiser* aus München gemacht. Ab der dritten Klasse beklagt sich Michael immer öfter über Bauchschmerzen und Kopfweh, bald darauf bekommt er panische Angst, seine Hausaufgaben falsch zu machen. Immer öfter muss ihn seine Mutter morgens aus dem Bett hieven, anziehen und zur S-Bahn zerren. So quälen sich die beiden durch die Grundschulzeit und hoffen, dass es auf der Realschule besser wird. Doch schon wenige Wochen nach dem Schulwechsel tauchen die Probleme erneut auf und Michael bleibt immer öfter von der Schule zuhause. Kein erzieherisches Druckmittel wirkt mehr. Louise ist hilflos und wundert sich: Bei ihren beiden älteren Söhnen ist Schule nie ein Problem gewesen. Sie nimmt Kontakt zum Schulpsychologen auf. Er rät, stärker auf Michael einzureden, zur Schule zu gehen – ihn auch von Verwandten mehr unter Druck setzen zu lassen und wenn es sein muss, mit der Polizei zu drohen. Enttäuscht von den Lösungsvorschlägen duldet Louise vorerst das Schule-Schwänzen, schließlich sind seine Noten immer noch gut. Doch bald fehlt Michael zwei Tage pro Woche und die Schule schaltet sich ein. Louise soll dafür sorgen, dass ihr Sohn öfter zur Schule geht – für jeden weiteren Fehltag braucht er nun ein ärztliches Attest. Louise fühlt sich im Stich gelassen. Erneut suchen sie und Michael einen Psychologen auf. Das Ergebnis: Schulangst. Eine anerkannte Angststörung, die sich oft in Symptomen wie Übelkeit, Kopfschmerzen und Bauchweh äußert. Die Lösung des Arztes: Zwangsbeschulung in einer stationären Psychiatrie.
Da hat es Klick gemacht. Sie lässt ihren Sohn auf Hochbegabung testen.
Da hat es bei ihr Klick gemacht. „Das kann doch nicht sein, er ist so ein netter Kerl, hat viele Freunde und nur mit der Schule seine Probleme“, sagt Louise. Sie lässt ihren Sohn auf Hochbegabung testen. Er hat einen IQ-Wert von 134, ist damit hochbegabt und benötigt eigentlich eine gesonderte Förderung. Die suchen Louise und Michael erst auf einem Gymnasium, dann auf einer privaten Schule, doch auch da stellen sich die üblichen Probleme bald wieder ein. Er bringt das Schuljahr zu Ende, dann wird Louise endgültig klar: „Mein Sohn hat eine Besonderheit – keine Krankheit, die man therapieren muss. Ich bin nicht gegen Schule, aber ich will nicht, dass man Kinder, die nicht damit klarkommen, gleich als psychisch krank stigmatisiert.“
Seit Anfang 2018 ist der jetzt 14-jährige Michael Freilerner. Louise hat ihren jüngsten Sohn im Ausland gemeldet und umgeht so die Bußgelder. Er macht das für sich zuhause beim Kuchenbacken, Fahrradreparieren, er lernt Englisch durch Onlinespiele und besucht Zoos und Museen. Begleitet wird er von einer Online-Freischule aus den USA. Dafür dokumentiert Louise regelmäßig Michaels Lernfortschritte. Die Online-Schule stellt ihm jährlich eine Art Zeugnis aus. Prüfungen gibt es nicht, nur eine Abschlussarbeit am Ende der zwölften Jahrgangsstufe – durch die er einen amerikanischen Abschluss bekommt – das ist Louise wichtig.
Im EINSTEINS Print-Magazin lernt ihr Malchus in der Reportage „Schwänzen ohne Konsequenzen“ näher kennen.
Einen Abschluss hat auch Malchus gemacht. Im Rahmen seiner Ausnahmegenehmigung musste er jedes Jahr eine Prüfung ablegen. Der mittlerweile 28-Jährige hat so auch seinen externen Hauptschulabschluss gemacht. Heute betreibt er Marketing für Biosupermärkte und Biobauernhöfe in Ravensburg und arbeitet dort zusätzlich als Lagerist. Von seiner Art des Lernens ist er noch immer überzeugt und dafür braucht er Ruhe und sein eigenes Tempo.
Kinder in Deutschland müssen zur Schule – doch genau das sehen Freilerner anders. Ihre Kritik: Das deutsche Schulsystem muss auch individuelle Alternativen zulassen. Die Freilerner verweigern sich der Schule, denn die Kinder sollen beim Lernen selbst über Zeit, Ort und Inhalt bestimmen.
von Marie Campisi und Benedikt Schimmer
Es ist ein Herbsttag im Jahr 2001. Malchus Kern ist elf Jahre alt und gerade in die sechste Klasse gekommen, als ihm endgültig klar wird: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Er hat genug vom ruppigen Umgang zwischen den Schülern und von willkürlichen Standpauken der Lehrer. Ab jetzt wird er nie wieder zur Schule gehen. Sowieso kann Malchus ohne Zwang viel besser lernen. Schon im Kindergarten hat er sich den Schulstoff von seinen älteren Geschwistern erklären lassen.
Malchus im Steinbruch. Statt in der Schule zu sitzen, gräbt er lieber nach Fossilien.
Seine Eltern Karen und Matthias – beide studierte Lehrer – akzeptieren seine Entscheidung und informieren das Schulamt darüber. Während seine ehemaligen Mitschüler im Klassenzimmer sitzen, durchstöbert Malchus ab sofort die örtliche Bücherei, besucht Museen und untersucht die Pflanzen im eigenen Garten. Die Reaktion des Schulamtes allerdings sind Bußgeldbescheide, denn die allgemeine Schulpflicht in Deutschland verbietet Heimunterricht. Insgesamt zahlen seine Eltern 1 000 Euro Strafe für sein Fehlen.
Nach zwei Jahren hat Malchus aber die Nase voll. „Was ist das für ein riesen Theater. Warum reden die immer nur mit meinen Eltern? Ich bin doch aus der Schule raus, weil ich meine Gründe dafür habe“, sagt er. Kurzerhand setzt sich der 13-Jährige an seinen Tisch und schreibt dem Schulamt einen Brief. Sein Hauptanliegen: „Ich fordere Sie auf, erstens meine Eltern zu entlasten und unsere Lösung so stehen zu lassen und keine anderweitigen Bußgelder zu schicken. Sowie zweitens, aufzuhören uns Lösungen zu geben, die uns nicht zum Ziel führen oder gar ins Gegenteil gehen.“ Wenig später lädt ihn das Oberschulamt auf ein persönliches Gespräch ein.
Zusammen mit seiner Mutter und einem Bekannten fährt er mit dem Zug dorthin. Mit im Gepäck: Ein Tagebuch, in dem sie Malchus Lernfortschritte genau dokumentieren sowie eine Liste sämtlicher Museen, die sie in den letzten zwei Jahren besucht haben. Das Oberschulamt sieht ein, dass Malchus nie wieder eine Schule betreten wird und erteilt ihm eine Ausnahmegenehmigung – überraschenderweise. Denn eigentlich bekommen die nur Kinder mit schweren Behinderungen. Seitdem kann Malchus legal auf die für ihn beste Weise lernen – ohne Lehrer, Klassenzimmer und Lehrplan.
In Deutschland herrscht Schulpflicht. Freilernen ist keine legale Alternative zur Schule.
Damit zählt er zu den sogenannten Freilernern, eine kleine, aber wachsende Szene in Deutschland. Eine typische Lernweise gibt es dabei nicht. Manche Kinder lernen aus Büchern, andere lernen beim Einkaufen mit den Eltern und wieder andere sehen sich YouTube-Videos an. Das Problem: In Deutschland herrscht Schulpflicht und damit ist das Freilernen keine legale Alternative zur Schule.
Die Schulpflicht ist für Dr. Ilka Hoffmann absolut notwendig. Sie ist Hauptvorstand für den Organisationsbereich Schule der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft und sieht beim Freilernen besonders ein Problem: „Die Gefahr ist, dass diese Kinder nicht lernen, sich mit Gleichaltrigen auseinanderzusetzen. Sie bleiben also in ihrem Soziotop und das macht es später viel schwerer, mit Konflikten umzugehen.“ Für Hoffmann ist die Schule mehr als Unterricht. Sie sieht die Schule als Ort, andere Lebensentwürfe kennenzulernen, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen und konfliktfähig zu werden.
Rainer Schmidt* sieht das anders. Er lebt mit seinen Kindern Tobias*, Melody* und Atilla* in Karlsruhe und ist schon lange in der Freilerner-Szene unterwegs. Die drei Kinder waren von Beginn an Freilerner. Für Rainer stellen die sozialen Kontakte kein Problem dar, da man diese auch in Vereinen finde. Deshalb ist der 13-jährige Tobias auch in vielen Vereinen aktiv, unter anderem dem Schachclub, den HipHop-Chicks, der Wasserwacht und den Pfadfindern. Sein neunjähriger Bruder Atilla hat Freunde beim Fußball und unternimmt viel mit den Nachbarskindern. Bei Melody hat sich das gewandelt: Früher hat auch sie in der Nachbarschaft viele Kinder getroffen. Mittlerweile hat die Zwölfjährige gemerkt, dass ihre Freundinnen weniger Zeit haben, seitdem sie auf weiterführenden Schulen sind. Um nicht den Kontakt zu ihnen zu verlieren, hat sie sich vor zwei Monaten am Gymnasium einschulen lassen. In ihrem Fall waren dafür eine Anmeldung für den Aufnahmetest und einige Wochen Vorbereitung ausreichend. Bis jetzt gefällt es ihr dort. Sie sagt, die Struktur helfe ihr beim Lernen.
„Wir haben so viele neue Lernmöglichkeiten und Lernmedien. Was soll dieses alte Schulgebäude mitten in unserer Lernlandschaft?“
Ihre Freilerner-Methoden nutzt sie aber trotzdem noch zur Unterstützung. Genau wie ihre Geschwister lernt sie mit kostenlosen Online-Kursen wie „Khanacademy“, „Udemy“ oder „Coursera“. Mit Erklärvideos und Übungsaufgaben arbeiten sich die Kinder von einer zur nächsten Schwierigkeitsstufe hoch. Ihr Vater Rainer ist begeistert von den Möglichkeiten, die das Internet bietet. Er ist überzeugt, dass die Schule mit der Digitalisierung nicht mithält. „Wir haben mittlerweile so viele neue Lernmöglichkeiten und Lernmedien, dass man sich wundert, was dieses alte Schulgebäude mitten in unserer Lernlandschaft soll“, sagt der studierte Informatiker. So hat sich Melody mithilfe von YouTube beispielsweise das Zeichnen beigebracht.
Doch trotz sämtlicher Online-Kurse und Fortbildungsmöglichkeiten zählen Tobias und Atilla zu Schulverweigerern. Wie Vater Rainer die Bußgeldbescheide umgeht, will er nicht verraten. Da er sich aber schon lange damit auseinandersetzt, weiß er, wie er die Probleme umgeht.
Um die Schulpflicht zu vermeiden, melden Freilerner-Familien den Wohnsitz ihrer Kinder häufig im Ausland an. Anders als in Deutschland ist der Heimunterricht in einigen anderen europäischen Ländern erlaubt. So verschwinden die Familien von den Listen der deutschen Schulen und Behörden und somit auch von deren Radar. Professor Thomas Spiegler sieht aber genau beim „unter dem Radar bleiben“ die Gefahr des Freilernens. Er ist Professor an der Theologischen Hochschule Friedensau und hat sich als einer der ersten deutschen Wissenschaftler empirisch mit Freilernen auseinandergesetzt. „Durch die strikte Schulpflicht drängt man das Ganze in den Untergrund und man hat keinen Einblick mehr“, sagt Spiegler. Eine mögliche Lösung sieht er in der Einführung einer Bildungspflicht statt einer Schulpflicht, da so Kontrollen möglichen wären. So könnte man Freilerner-Familien begleiten und damit auch vorbeugen, dass das Kindeswohl gefährdet wird.
Bildungs- und Schulpflicht in Europa
Mit einem Klick auf das jeweilige Land erfahrt ihr mehr.
Bildung in Europa
Dennoch, die Schulpflicht ist eine große Errungenschaft in Deutschland. „Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, und das muss der Staat gewährleisten“, sagt Hoffmann. Der Anteil der Eltern, die die Zeit hätten, die Bildung ihrer Kinder zuhause sicherzustellen, sei verschwindend gering – der Anteil der Familien dagegen, in denen der Staat Bildung gewährleisten müsse, sei viel größer. Trotzdem sieht Hoffmann, dass Schulen oft wenig auf den Einzelfall eingehen. Auch Spiegler meint: „Dort, wo wir große Abweichungen haben, zum Beispiel Kinder mit Lernschwierigkeiten oder mit Hochbegabung, kommt das Schulsystem schnell an seine Grenzen.“
Diese Erfahrung haben auch Michael* und seine Mutter Louise Kaiser* aus München gemacht. Ab der dritten Klasse beklagt sich Michael immer öfter über Bauchschmerzen und Kopfweh, bald darauf bekommt er panische Angst, seine Hausaufgaben falsch zu machen. Immer öfter muss ihn seine Mutter morgens aus dem Bett hieven, anziehen und zur S-Bahn zerren. So quälen sich die beiden durch die Grundschulzeit und hoffen, dass es auf der Realschule besser wird. Doch schon wenige Wochen nach dem Schulwechsel tauchen die Probleme erneut auf und Michael bleibt immer öfter von der Schule zuhause. Kein erzieherisches Druckmittel wirkt mehr. Louise ist hilflos und wundert sich: Bei ihren beiden älteren Söhnen ist Schule nie ein Problem gewesen. Sie nimmt Kontakt zum Schulpsychologen auf. Er rät, stärker auf Michael einzureden, zur Schule zu gehen – ihn auch von Verwandten mehr unter Druck setzen zu lassen und wenn es sein muss, mit der Polizei zu drohen. Enttäuscht von den Lösungsvorschlägen duldet Louise vorerst das Schule-Schwänzen, schließlich sind seine Noten immer noch gut. Doch bald fehlt Michael zwei Tage pro Woche und die Schule schaltet sich ein. Louise soll dafür sorgen, dass ihr Sohn öfter zur Schule geht – für jeden weiteren Fehltag braucht er nun ein ärztliches Attest. Louise fühlt sich im Stich gelassen. Erneut suchen sie und Michael einen Psychologen auf. Das Ergebnis: Schulangst. Eine anerkannte Angststörung, die sich oft in Symptomen wie Übelkeit, Kopfschmerzen und Bauchweh äußert. Die Lösung des Arztes: Zwangsbeschulung in einer stationären Psychiatrie.
Da hat es Klick gemacht. Sie lässt ihren Sohn auf Hochbegabung testen.
Da hat es bei ihr Klick gemacht. „Das kann doch nicht sein, er ist so ein netter Kerl, hat viele Freunde und nur mit der Schule seine Probleme“, sagt Louise. Sie lässt ihren Sohn auf Hochbegabung testen. Er hat einen IQ-Wert von 134, ist damit hochbegabt und benötigt eigentlich eine gesonderte Förderung. Die suchen Louise und Michael erst auf einem Gymnasium, dann auf einer privaten Schule, doch auch da stellen sich die üblichen Probleme bald wieder ein. Er bringt das Schuljahr zu Ende, dann wird Louise endgültig klar: „Mein Sohn hat eine Besonderheit – keine Krankheit, die man therapieren muss. Ich bin nicht gegen Schule, aber ich will nicht, dass man Kinder, die nicht damit klarkommen, gleich als psychisch krank stigmatisiert.“
Seit Anfang 2018 ist der jetzt 14-jährige Michael Freilerner. Louise hat ihren jüngsten Sohn im Ausland gemeldet und umgeht so die Bußgelder. Er macht das für sich zuhause beim Kuchenbacken, Fahrradreparieren, er lernt Englisch durch Onlinespiele und besucht Zoos und Museen. Begleitet wird er von einer Online-Freischule aus den USA. Dafür dokumentiert Louise regelmäßig Michaels Lernfortschritte. Die Online-Schule stellt ihm jährlich eine Art Zeugnis aus. Prüfungen gibt es nicht, nur eine Abschlussarbeit am Ende der zwölften Jahrgangsstufe – durch die er einen amerikanischen Abschluss bekommt – das ist Louise wichtig.
Im EINSTEINS Print-Magazin lernt ihr Malchus in der Reportage „Schwänzen ohne Konsequenzen“ näher kennen.
Einen Abschluss hat auch Malchus gemacht. Im Rahmen seiner Ausnahmegenehmigung musste er jedes Jahr eine Prüfung ablegen. Der mittlerweile 28-Jährige hat so auch seinen externen Hauptschulabschluss gemacht. Heute betreibt er Marketing für Biosupermärkte und Biobauernhöfe in Ravensburg und arbeitet dort zusätzlich als Lagerist. Von seiner Art des Lernens ist er noch immer überzeugt und dafür braucht er Ruhe und sein eigenes Tempo.
*Namen geändert