Gegen das System

Platzverweis

Die Weltmeisterschaft direkt vor der eigenen Haustür – eigentlich der Traum eines jeden Fußballfans. Doch der Lärm stört die Prüfungsphase der Studenten der Staatlichen Universität Moskau. Ein Jahr lang protestierten sie gegen die WM-Fanzone an ihrer Universität.

Die Weltmeisterschaft direkt vor der eigenen Haustür – eigentlich der Traum eines jeden Fußballfans. Doch der Lärm stört die Prüfungsphase der Studenten der Staatlichen Universität Moskau. Ein Jahr lang protestierten sie gegen die WM-Fanzone an ihrer Universität.


von Valérie Nowak und Talitha Waitzinger

 
Marokko! Marokko! Das Gegröle der marokkanischen Fans übertönt die rasende Metro. Dicht aneinander gedrängt fiebern die Fußballanhänger dem anstehenden Spiel gegen Portugal entgegen. Die Menschen verschwimmen zu einem rot-grünen Farbenmeer, das im Moskauer Untergrund klatscht, singt und tanzt. Ruckartig stoppt die Metro an der nächsten Haltestelle und wirft die Fans wie Dominosteine durch den Wagon. Sie sind auf dem Weg zum FIFA Fan Fest, um dort das Spiel ihrer Nationalmannschaft beim Public Viewing mitzuverfolgen. Die Fans strömen in Scharen in den Park der Sperlingsberge, links und rechts von ihnen säumen Soldaten den Weg. Die Nationalgarde sorgt für die Sicherheit der Fans, aus Sorge vor Anschlägen. Mit strengem Blick mustern die Nationalgardisten die Menschenmasse.

Die Hauptleinwand auf dem FIFA Fan Fest, hier werden alle 64 Spiele der WM übertragen.

„Welcome to FIFA Fan Fest!“, schallt es über das Gelände. Die Hauptbühne der Fanzone überragt das Hauptgebäude der Staatlichen Universität Moskau. Auf dem gegenüberliegenden Ufer der Moskva, die den Park vom Häusermeer trennt, steht das Lushniki-Stadion, in dem gleich das nächste Fußballspiel angepfiffen wird.

„Die Fans wissen gar nicht, wie blöd das Fan Fest für uns ist.“

Polizisten aus dem ganzen Land gewährleisten in Moskau die Sicherheit.

Mascha wird sich keines der Spiele anschauen, die die FIFA nur unweit von ihrem Wohnheimzimmer entfernt auf riesigen Leinwänden zeigt. Exakt 300 Meter vor ihren Pforten beginnt die Fanzone, auf der 15 000 Fußballanhänger zusammen feiern. Ein knappes Jahr hat sie gegen diese Meile protestiert. „Die Fans wissen gar nicht, wie blöd das Fan Fest für uns ist“, erzählt Mascha. Die junge Doktorandin lebt auf dem Campus der Staatlichen Universität Moskau zusammen mit 6 500 weiteren Studenten und Lehrkräften. Der Besuch des historischen Universitätsgebäudes gilt als Attraktion für Einheimische wie Touristen. Von dort haben die Besucher einen spektakulären Ausblick über die russische Hauptstadt. Das sonst so beliebte Ausflugsziel ist für die Zeit der WM aus Sicherheitsgründen gesperrt. Vom 14. Juni bis 15. Juli 2018 kontrolliert die Nationalgarde den Campus der Universität, Gäste können ihn nur in Ausnahmefällen betreten. Auf dieser interaktiven Karte seht ihr, wie nah die Uni am Fan Fest liegt.

Freiwillige Helfer der WM begrüßen die ankommenden Fans durch Megafone. Sie tanzen zu lauter Musik, weisen mit ihren riesigen Schaumstofffingern die Richtung zum Event. Freudig springen sie den Besuchern entgegen und verteilen High fives. Im Lushniki-Stadion auf der anderen Flussseite spielen heute die Nationalmannschaften von Marokko und Portugal gegeneinander. Laute Musik dröhnt über die Boxen, gleich überträgt die FIFA das Spiel auf den riesigen Leinwänden auf der Fanmeile, so wie alle 64 Partien der WM.

Der exklusive Standort des Fan Fests hat seinen Preis: 40 000 Studenten der Staatlichen Universität Moskau stecken während der WM mitten in der Prüfungsphase. „Die Physikstudenten müssen ihre Klausuren mit Blick auf das Fan Fest schreiben. Der Lärm stört sie dabei“, sagt Mascha. Bereits im Juli 2017 haben die Studenten deshalb begonnen, sich gegen das Fan Fest vor ihrer Tür zu wehren. In die Hand genommen hat das die Initiative Group Moscow State University, eine Initiative, die aus 50 Studenten besteht. Sie starteten eine Online Petition zur Verlegung des Fan Fests – und sammelten rund 16 000 Unterschriften von Studenten und Dozenten.

Der Wald wurde der Sicherheit wegen gelichtet.

Doch nicht nur der Lärm während ihrer Prüfungsphase ist ein Problem für die Initiative. Die Fanmeile liegt mitten in den Sperlingsbergen, „ein wunderbares Naturschutzgebiet, in dem Touristen und Städter spazieren gehen, mit Öko-Pfaden, seltenen Vögeln und Eichhörnchen“ – so wirbt die FIFA für diesen Park. In dem Gebiet leben geschützte Vogelarten wie Buntspechte, Finken und Raben. Für das Fan Fest hat die Stadt Moskau Bäume und Büsche im Park gefällt und damit den Lebens- und Brutraum der Vögel zerstört, befürchtet die Initiative. Zwar wurden neue Bäume gepflanzt, doch damit gibt sich die Gruppe nicht zufrieden.

Die Doktorandin Mascha auf dem Fan Fest.

Mascha selbst war bei allen Aktionen der Initiative dabei, hunderte weitere Studenten unterstützten die Gruppe. Immer wieder spürte Mascha den Druck des Rektorats, das versuchte, die Proteste klein zu halten. Als ihr Doktorvater von ihrem Engagement erfuhr, wandte er sich direkt ans Rektorat. Die Rektoren der Staatlichen Universität Moskau stellten Mascha zur Rede. „Sie haben zu mir gesagt, dass sie sich Sorgen um mich machen. Ich soll auf keinen Fall mit Journalisten sprechen und nicht weiter protestieren“, erzählt sie aufgebracht.

Protestschild: Studenten für den stillen Campus; Foto: IGMSU

Die Studentengruppe konnte nicht verhindern, dass das Fan Fest auf ihrem Campus stattfindet. Unter dem Hashtag #nofanfestmsu startete sie ihre Online-Kampagne: Mit Protestschildern fotografierten sie sich vor der Uni und posteten die Bilder in den sozialen Netzwerken. Dazu haben sie Flugblätter verteilt, Menschenketten gebildet und tausende Unterschriften gesammelt.

„Die WM soll sich nach der Uni richten, nicht die Uni nach der WM. Das ist ungerecht!“

Als der Rektor Viktor Sadovnichy das Semester verkürzen und die Prüfungen wegen der WM vorverlegen wollte, versuchte die Initiative, ihm eine erste Offline-Petition mit mehr als 4& 000 Unterschriften gegen diese Pläne zu überreichen. Als ihnen jedoch Sicherheitskräfte den Zugang zum Rektorat versperrten, traten sie in einen stundenlangen Sitzstreik. Mitten drin Mascha, die bis heute nicht versteht, warum sich das Rektorat so verhielt: „Die WM soll sich nach der Uni richten, nicht die Uni nach der WM. Das ist ungerecht!“, erzählt sie. Eigentlich hätten die Studenten den Unikomplex während der WM räumen müssen, das Sicherheitsrisiko sei zu groß. Dagegen konnte die Initiative allerdings erfolgreich protestieren: Mascha und die 6 500 weiteren Studenten mussten ihre Wohnungen nicht verlassen.

Auch die FIFA reagierte auf die Proteste: Sie verlegten den Standort des Fan Fests 300 Meter vom Hauptgebäude weg. Außerdem verringerten sie die Kapazität des Geländes von 40 000 zunächst auf 25 000 Besucher, das teilte die FIFA auf Anfrage von Einsteins mit. Die zulässige Besucherzahl wurde laut Protestgruppe sogar noch einmal auf 15 000 reduziert. Sie sehen das allerdings nicht als Reaktion auf ihre Proteste: „Die FIFA hat das falsch geplant, das ist der Grund dafür, dass weniger Menschen kommen dürfen“, sagt Mascha.

Weiter heißt es in der Mitteilung der FIFA: „Das Wohlbefinden der Studenten und ein kleinstmöglicher Einfluss auf das Uni-Leben während dem FIFA Fan Fest ist eine Priorität für die FIFA, das Komitee und die Stadt Moskau.“ Als Mascha das hört, lacht sie ungläubig und reißt ihre Augen auf: „Das haben sie wirklich gesagt? Das kann ich nicht glauben! Die WM hat gar nichts Gutes für mich. Ich sehe nichts Positives daran für ganz Russland“.

„Für mich ist der größte Traum meines Lebens in Erfüllung gegangen.“

„Als ich meine Zusage als Volunteer bei der WM bekommen habe, bin ich vor Freude in Tränen ausgebrochen“, sprudelt es aus Irina* heraus. Sie ist Anfang 20 und arbeitet während der WM als freiwillige Helferin am Spartak-Stadion in Moskau. Von den Protesten der Studenten hat Irina gehört. Trotzdem sagt sie: „Für mich ist der größte Traum meines Lebens in Erfüllung gegangen.“ Die junge Russin reißt ihre blauen Augen auf, hibbelig rutscht sie auf einer Bank auf dem Fan Fest hin und her. Ihr großes Vorbild ist ihr Vater, der selbst als Volunteer bei Großveranstaltungen gearbeitet hat. Irina genießt die Stimmung auf dem Fan Fest, plaudert mit portugiesischen Fans. „Eine WM im eigenen Land erlebt man nur einmal. Von den Protesten habe ich gehört, für die Studenten ist das blöd. Aber es geht leider nicht anders.“ Die Wahl fiel auf das Gelände direkt vor der Staatlichen Universität Moskau, weil sich die Stadt, das lokale Organisationskomitee und die Fifa gemeinsam dafür entschieden hatten. Der Ort erfüllt als einziger die Auflagen für ein Fan Fest der FIFA. Zu den Auflagen zählt, dass das Gebiet mindestens Platz für 15 000 Menschen bietet und die Stadt repräsentiert. Der Rote Platz kam als Alternative nicht infrage, da dort ein striktes Alkoholverbot herrscht. Das ist problematisch, weil verschiedene Bierbrauereien Sponsoren der FIFA Fan Feste sind und somit Alkoholausschank eine Voraussetzung ist. Die Gesamtkosten des Fan Fests belaufen sich auf umgerechnet etwa 16 Millionen Euro.

*Name geändert


Im EINSTEINS Print-Magazin seid ihr mit Moskauer Studenten in der Reportage „Viel Lärm um das Fan Fest“ unterwegs und erfahrt, warum sie die WM-Fanzone am eigenen Uni-Campus ablehnen.