Mein Herz, meine Leber und ich
Text: Nina Müller, Nina Woelk, Lea Kossak, Laura Niedermüller, Seban Schmidbauer
einsteins. Feature
Du bist hirntot. Dein Gehirn hat die Funktion unwiderruflich eingestellt, aber dein Herz schlägt weiter. Nun hast du die Möglichkeit, anderen Menschen das Leben zu retten, indem du deine Organe spendest. Wie würdest du dich entscheiden?
Melanie Petrick darf weiterleben. Als 2017 ihre eigene Leber versagte, landete ihr Name auf der High Urgency Liste (dt: Dringlichkeitsliste) für ein Spender*innenorgan. Für sie und ihre Familie begann eine Zeit voller Hoffen und Bangen. Seit mittlerweile drei Jahren lebt die 22-Jährige aus Bayern mit einer neuen Leber. Doch was Melanie Petrick erfahren hat, ist nicht die Regel. Deutschland hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr wenige Organspender*innen. Während es in Spanien und Kroatien 2019 mehr als 40 Spender*innen pro einer Millionen Einwohner*innen gab, waren es in Deutschland nur rund zwölf. Das geht aus der Datenerhebung des internationalen Registers für Organspende und ‑transplantation hervor.
Organspende in Europa
Die gesetzliche Lage in Deutschland bildet eine Hürde. Hierzulande werden nur Organe von Personen entnommen, die vor ihrem Tod deutlich dafür gestimmt haben, oder deren Verwandte zustimmen. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) hält in einer Statistik genau fest, ob es eine Einwilligung gab und wer die Entscheidung über eine Organspende getroffen hat. Im vergangenen Jahr haben nur gut drei Prozent schriftlich festgelegt, dass sie nichts spenden möchten. Bei einem Viertel der potenziellen Spender*innen, bei denen es keine Transplantation gab, wurde die Ablehnung nur vermutet. Bei 40 Prozent entschieden sich die Verwandten gegen die Organspende, ohne zu wissen, was der oder die Verstorbene überhaupt wollte.
Für Angehörige ist der Prozess leichter, wenn sie die Einstellung der verstorbenen Person zur Organspende kennen. Wie sich eine Person entscheidet, kann sie nur über den Organspendeausweis, oder durch die Absprache in der Familie festhalten. Doch wann kommt das Thema in der Familie auf? Meistens erst, wenn es schon zu spät ist, um die Betroffenen nach ihrer Meinung zu fragen.
Wenn man nicht mehr fragen kann
Als sich Andreas Heller 2012 entscheiden musste, trauerte er im Krankenhaus um seinen 16-jährigen Sohn Moses. An einem Sonntag im März war dieser von einem Streethockeyspiel nach Hause gekommen und klagte zuerst über Kopfschmerzen. Vier Tage später starb er im Krankenhaus an einer Hirnblutung.
Seine Eltern entschieden sich für eine Organspende. Rückblickend würde Andreas Heller es jederzeit wieder so machen. Trotzdem sind da Momente, in denen ihn ein mulmiges Gefühl überkommt. Er fragt sich manchmal, was passiert wäre, wenn er nicht gespendet hätte. Wenn die Maschinen, die den Körper seines Sohnes am Leben gehalten hätten, weitergelaufen wären. Ob dann noch ein Wunder geschehen wäre?
„Dieses Gefühl habe ich schon irgendwo im Hinterkopf, aber damit muss ich leben. […] Im vollen Bewusstsein, dass ich da etwas sehr Endgültiges entschieden habe.“
Nur vier Tage liegen zwischen Leben und Tod. Die Entscheidung zur Organspende mussten Moses‘ Eltern sogar innerhalb eines Tages treffen. Donnerstagmittag um halb eins wurde sein Tod offiziell bestätigt. Noch in der Nacht hat Andreas Heller seinen Sohn für die Organentnahme in den OP gefahren. Der Tod ist nicht vorhersehbar. Doch nur wenige beschäftigen sich schon vor dem Ernstfall mit dem Thema Organspende.
Aufruf zu einer Entscheidung
Genau da will Jutta Falke-Ischinger ansetzen. Sie ist Vorsitzende des Vereins „Leben Spenden“, einem Bündnis für Organspende. „Wir wollen niemanden zwingen Organspender zu werden, aber wir wollen moralisch dazu aufrufen, sich mit dem Thema zu beschäftigen.“
Ein Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und weiteren Abgeordneten sah Anfang des Jahres die Einführung der Widerspruchslösung vor. Bei dieser Regelung muss eine Person ausdrücklich dagegen stimmen, wenn sie ihre Organe nicht spenden will. Das ist unter anderem in Spanien die gängige Praxis, dem Land mit den meisten Organspender*innen je eine Million Einwohner*innen in Europa. Wer sich mit dem Thema nicht beschäftigt, wird automatisch zum*zur potenziellen Organspender*in. Die Abstimmung zum Entwurf fand im Januar 2020 statt. Doch die meisten Abgeordneten stellten sich gegen die Widerspruchslösung. 379 Nein- zu 292 Ja-Stimmen. Eine Niederlage, laut Falke-Ischinger. „Die Niederlande und Großbritannien haben beispielsweise auch die Widerspruchslösung. Wir sind da fast ganz allein. Das ist innerhalb der europäischen Union nicht solidarisch.“ Denn durch die Organisation Eurotransplant werden, je nach Dringlichkeit, Organe in andere Länder transportiert. In Deutschland ist die Spendenbereitschaft vergleichsweise niedriger. Folglich kommen prozentual mehr Spender*innenorgane aus anderen Ländern nach Deutschland als umgekehrt. 6 881 Menschen standen im Jahr 2019 bei Eurotransplant auf der Liste, die in Deutschland auf eine Niere warteten.
Die Organspende von Moses rettete fünf Menschen das Leben. Von einem Empfänger aus Frankreich hat Heller sogar einen handgeschriebenen Brief bekommen. Darin schreibt der Empfänger einer Niere, wie sich sein Leben zum Positiven verändert hat. Vor der Organspende habe er zwei bis dreimal die Woche zur Dialyse gemusst, habe sich ständig krank gefühlt. Dank der Niere von Moses habe sich sein Leben komplett verändert, er fühle sich nun wie ein gesunder Mensch. Manchmal denkt Heller darüber nach, wie es wohl wäre, die Organempfänger*innen zu treffen. Zu sehen, wo das Herz seines Sohnes schlägt. Doch er selbst würde nicht den ersten Schritt machen. Er hätte Angst, dass die Begegnung nicht auf Augenhöhe stattfinden kann. „Was soll er denn sagen, wenn er vor mir steht?“ Vielleicht fände er die Person unsympathisch, wenn sie keine seiner Werte teilt. Vielleicht ginge es der Person nicht gut, trotz des Organs seines Sohnes.
Organspende rettet Leben
Melanie Petrick geht es nicht gut. Sie hat mit vielen Einschränkungen zu kämpfen, kann keinen Sport machen, wahrscheinlich nie wieder arbeiten. Für den Rest ihres Lebens muss sie Medikamente nehmen, damit ihr Körper die fremde Leber nicht abstößt. Doch ohne die Transplantation wäre die 22-Jährige heute nicht mehr am Leben.
„Also warum lassen wir zu, dass Menschen unnötig sterben, wenn unser Schöpfer uns die Möglichkeit gibt, so etwas zu lösen?“
Andreas Heller
Die Organspende hat Andreas Heller nicht über den Verlust von Moses hinweggetröstet. Aber er weiß, dass andere Eltern wegen der Spende nicht das gleiche durchmachen mussten wie er. Wenn es nach Andreas Heller und Melanie Petrick geht, sollte sich jede*r die Frage stellen, ob er*sie Organe spenden möchte. Aus Solidarität für alle, die auf ein Organ warten. Und um seinen Angehörigen nach dem eigenen Tod eine Last zu nehmen.
Hinter der Geschichte
Vor der Recherche besaßen vier von fünf Reporter*innen aus dem Team einen Organspendeausweis. Nach vielen bewegenden Gesprächen mit Hinterbliebenen, einer Fragerunde mit einem Mediziner und dem Durcharbeiten von unzähligen Statistiken wurden es fünf von fünf.