Solidarische Landwirtschaft
Bauernproteste, Agrarsubventionen und Düngeverordnungen. Das Bild, das uns von Landwirten*innen vermittelt wird, ist dominiert von der Berichterstattung über den Preisdruck auf dem Lebensmittelmarkt und politischen Reglementierungen. Solidarische Landwirtschaft, kurz Solawi, ist ein ein Lösungsansatz, der sowohl den Landwirt*innen als auch die Konsument*innen einen nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln ermöglichen soll.
Text: Franziska Hierbeck, Nadja Zinsmeister, Nico Angerstorfer
einsteins. Bericht
Das zentrale Ziel der Solawi ist verantwortungsvolles Wirtschaften, das durch eine enge Bindung zwischen Produzent*in und Konsument*in erreicht werden soll. Landwirt*in und Solawi-Mitglieder bilden eine Wirtschaftsgemeinschaft, die gemeinsam Anbauplanung und Preisgestaltung übernehmen. Dadurch werden Risiko und Gewinn geteilt, sowie eine nachhaltige Lebensmittelversorgung und die Kostendeckung garantiert. Weil die Mitglieder mitbestimmen dürfen und in die Produktion eingebunden werden, erlangen sie einen engeren Bezug zu den Lebensmitteln. „Es gehört bei der Solawi auch dazu, dass die Mitglieder schlechte Erfahrungen machen, wie das Ausfallen der Ernte wegen Parasitenbefalls. Erst dann verstehen sie den Druck, dem man als Landwirt ausgesetzt ist“, erklärt Gerrit Jahnsen, Berater für Neugründungen vom Netzwerk für Solidarische Landwirtschaft e.V.
„Landwirtschaft als Kulturgut und Mittel zur sozialen Verknüpfung untereinander“
Gerrit Jahnsen, Netzwerk für Solidarische Landwirtschaft
Da die strikte Trennung zwischen Konsum und Produktion bei der Solawi aufgehoben wird, spricht man auch von „Prosument*innen“. Die Mitglieder zahlen monatlich einen Betrag, der je nach Hof variiert und erhalten das ganze Jahr über saisonales Obst und Gemüse. Wichtig ist dabei zu unterscheiden, dass die Mitglieder nicht für die Lebensmittel zahlen, sondern dafür, dass der*die Landwirt*in nachhaltig wirtschaften kann. Die ausgeteilten Ernteanteile sind nur eine Zugabe. Gerrit Jahnsen fasst zusammen: „Bei Solawi geht es darum, dass die Landwirtschaft nicht mehr nur als Wirtschaftszweig gesehen wird, sondern auch als Kulturgut und Mittel zur sozialen Verknüpfung untereinander.“
In welchem Maße sich die Prosument*innen finanziell beteiligen, entscheidet jede Solawi-Gemeinschaft selbst. Zusätzlich zu den Beitragszahlungen können die Solawi-Mitglieder die Landwirt*innen in Form von Arbeitseinsätzen unterstützen, beispielsweise in der Erntezeit oder zur Aussaat. Auch der Preis für größere Anschaffungen, wie für neue Traktoren oder andere landwirtschaftliche Maschinen, wird unter den Mitgliedern der Wirtschaftsgemeinschaft aufgeteilt.
Solawi bietet einen Ausweg für viele Landwirt*innen, die zu wenig Fläche bewirtschaften, um von Subventionen zu profitieren. Da die Höhe der Agrar-Subventionen der Europäischen Union anhand der Hektaranzahl einer Landwirtschaft berechnet werden, erhalten landwirtschaftliche Großbetriebe am meisten Geld. Was auf den Flächen angebaut wird und wie nachhaltig diese bewirtschaftet werden, spielt bei der Berechnung der Zuschüsse keine Rolle. Kleinbetriebe erhalten dementsprechend weniger Geld und können daher nicht dem Preisdruck auf dem Lebensmittelmarkt standhalten. Zur Option stehen oft nur die Entwicklung zu einer Massenproduktion oder die Betriebsauflösung.
„Unser Ziel ist es, dass zwischen Naturschutz und Landwirtschaft in der Zukunft nicht mehr unterschieden wird.“
Gerrit Jahnsen, Netzwerk für Solidarische Landwirtschaft
Durch die Solawi findet die Ware garantiert Abnahme, auch bei leichter optischer Beeinträchtigung des Gemüses und Obstes. Die Risikoverteilung unter den Prosument*innen ermöglicht es den Landwirt*innen beispielsweise mit verschiedenem Saatgut zu experimentieren und verschiedene Pflanzen auf dem gleichen Feld anzubauen. Das und der Verzicht auf chemische Düngemittel erhöhen die Biodiversität auf den Feldern. „Unser Ziel ist es, dass zwischen Naturschutz und Landwirtschaft in der Zukunft nicht mehr unterschieden wird“, betont Jahnsen.
Solawi gleich Solawi?
Das Selbstverständnis von Solawi-Höfen unterscheidet sich zuweilen sehr stark. Das Netzwerk für Solidarische Landwirtschaft warnt vor rechten Gruppierungen, die sich unter dem Deckmantel einer Solawi-Gemeinschaft tarnen. Besonders die „Anastasia-Bewegung“ erhielt in den letzten zehn Jahren einigen Zulauf. Die Philosophie der Anastasia-Anhänger geht zurück auf die Bestseller-Buchreihe „Die klingenden Zedern Russlands“ von Wladimir Megre. Darin erzählt der Autor von einer jungen Frau namens Anastasia, die im Einklang mit der Natur als Selbstversorgerin lebt. Ein zentraler Punkt dieser Bewegung ist der „Familienlandsitz“. Jede Familie soll ein Hektar Land bewirtschaften, auf dem alles, was sie zum Leben benötigt, angebaut wird. So brauchen diese isolierten Gruppen nicht mit der angeblich schädlichen Außenwelt in Kontakt treten. Die Anastasia-Bewegung wird vom Verfassungsschutz beobachtet.
Quelle: Polizei-dein-Partner.de: Die Anastasia-Bewegung in Deutschland. Braune Ideologie auf grünem Grund. Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH.
Bayerischer Rundfunk
Landwirtschaftsform der Zukunft?
Solawi-Experte Gerrit Jahnsen glaubt nicht, dass sich zukünftig der Großteil unserer Gesellschaft durch Solawi ernähren kann. Jedoch sollte der Grundgedanke der Solawi, sich mit den Produzenten*innen unserer Lebensmittel solidarischer zu zeigen und die nachhaltige Landwirtschaft wertzuschätzen, mehr Verbreitung finden, meint er:
Wie kann ich mich selbst in der Solawi engagieren?
Je nachdem, in welchem Maße Du dich in der Solawi-Gemeinschaft einbringen möchtest, kommen verschiedene Höfe in Frage. Möchtest Du auch auf dem Feld mitarbeiten? Willst Du neben Gemüse auch tierische Produkte wie Eier und Milch erhalten? Der Betrag, der monatlich fällig ist, kann zwischen 30 bis 130 Euro variieren. Das Netzwerk für Solidarische Landwirtschaft e.V. hat auf folgender Karte alle deutschen Höfe mit solidarischer Landwirtschaft eingetragen.
Gemüsestatistik
Das Lieblingsgemüse der Deutschen ist die Tomate.
Pro Kopf werden jährlich 97 Kilo Gemüse gegessen, davon sind 27 Kilo Tomaten. 2019 wurden 14,9 Tonnen Tomaten importiert, um den Bedarf zu decken.
36% Selbstversorgungsgrad
2019 produzierte Deutschland 36% des eigenen Bedarfs an Gemüse und Obst selbst. Der Rest musste importiert werden.
400 g Gemüse und 250 g Obst
Soviel sollten wir laut WHO täglich essen. Insgesamt finden Obst und Gemüse aber immer seltener Platz auf unseren Tellern. Im Schnitt essen wir gerade einmal 250g Obst und Gemüse insgesamt. Damit liegt Deutschland im Europa-Vergleich auf Platz 27!
10% Öko-Landbau
90% der deutschen Landwirte*innen bewirtschaften ihr Land konventionell. Im Durchschnitt erwirtschaftet ein*e Landwirt*in in Deutschland Lebensmittel für 140 weitere Personen. 1990 waren es gerade einmal die Hälfte.
6% kaufen Bio
Obwohl Bio-Lebensmittel in den letzten Jahren einen wahren Hype erfahren haben, geben nur 6% der Deutschen an, überwiegend Bio-Lebensmittel zu kaufen. Das liebste Bio-Produkt? Eier.
Hinter der Geschichte
Einsteins 2020 hat uns auf vielen Ebenen gefordert – fachlich, aber auch persönlich. Beim Dreh, der ausnahmsweise vor Ort stattfand, wurde uns als Journalistinnen ein bisher unbekanntes Maß an Sexismus zuteil. Schmerzlich mussten wir feststellen, dass ein solidarischer und weltoffener Gedanke noch nicht überall in unserer Gesellschaft angekommen ist. Doch einmal mehr ist uns bewusst geworden: Man muss lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen und diese klar zu kommunizieren.