Wer das Ziel kennt, findet seinen Weg
Einige beginnen ihn allein und manche beenden ihn in einer Gemeinschaft: Der Jakobsweg führt nicht nur nach Santiago de Compostela, sondern auch zu Klarheit, Selbstreflexion und Ruhe. Was treibt Menschen an, allein zu pilgern?
Text: Viola Köhl und Liljana Kramer
Illustrationen: Viola Köhl
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Neununddreißig Tage braucht Raúl Carreño Ortego (23) für den Weg von Sevilla nach Santiago de Compostela. Neununddreißig Tage, in denen der Lehramtsstudent von der Universität Augsburg über sein Leben nachdenkt. „Ich habe mich gefragt, was für ein Mensch ich sein möchte und wie ich sein werde, wenn ich wieder zurück in Deutschland bin”, erinnert er sich. Hinter sich hat er ein Auslandssemester in Huelva und eine Trennung. „Ich war größtenteils sehr gut gelaunt und dann manchmal eben nachdenklich oder traurig – auch bei dem Gedanken, dass man sich sehr verändert in so einer langen Zeit.“ Tagsüber konzentriert er sich auf sich selbst, meistert allein Schwierigkeiten wie Hitze, Überschwemmungen und körperliche Schmerzen. Abends trifft er in den Herbergen neue Menschen. Redet, lacht und isst mit ihnen gemeinsam.
So wie Raúl brechen jedes Jahr viele Menschen auf, um ihren Weg auf dem Jakobsweg zu finden. Insgesamt pilgerten 2023 laut dem Pilgerbüro in Santiago de Compostela circa 446.000 Menschen aus aller Welt in die spanische Pilgerstadt. Was vor allem im Vergleich zur Zeit vor Corona auffällt: 2019 waren es noch circa 20 Prozent weniger. Laut Prof. Dr. Klaus Herbers, Historiker und Präsident der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft e.V., steigen die Zahlen seit den 80er-Jahren kontinuierlich an. Vor allem der EU-Beitritt Spaniens 1986 hätte unter anderem durch die Bemühungen der katholischen Kirche das Pilgern als individuelle Aktivität in den Fokus gerückt. Ein weiterer Grund des drastischen Anstiegs läge darin, dass die Menschen nach Corona wieder vermehrt nach draußen wollen. So sieht das der Soziologe der FernUniversität Hagen Dr. Christian Kurrat. Er pilgerte selbst auf dem Jakobsweg und hat sich in seiner Forschung intensiv mit den Motiven von Pilger:innen auseinandergesetzt. Doch auch soziale Medien und Bücher tragen zur Faszination des Pilgerns bei.
Ein Beispiel dafür ist der Komiker Hape Kerkeling, der seinem Alltag entflohen und 2001 den Jakobsweg gegangen ist. Seine Erlebnisse hat er in Tagebuchform festgehalten und fünf Jahre später veröffentlicht. 100 Wochen konnte man sein Buch „Ich bin dann mal weg” auf Platz eins der deutschen Bestsellerliste finden. Laut der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft e.V. hat sich die Zahl von deutschen Pilger:innen im ersten Jahr nach Veröffentlichung des Buches um 71 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesteigert – der sogenannte „Kerkeling-Effekt“. Die gleichnamige Verfilmung des Buches erschien 2015 und lockte zahlreiche Besucher:innen in die Kinos.
Heute gehen sehr viele Menschen den Jakobsweg allein. Doch ein durchgehendes Alleinsein herrscht dort nicht. „Wenn man auf dem Camino Francés in Spanien allein läuft, dann hat man eine große Chance, am Abend in der Herberge wieder dieselben Leute zu treffen, die man am vorherigen Tag in der Herberge 20 oder 30 Kilometer zuvor getroffen hat”, sagt Herbers. Doch gerade vor dem geschichtlichen Hintergrund wird klar, dass die Menschen früher aus Sicherheitsgründen nicht individuell, sondern in Gruppen gepilgert seien. Heute könne das Pilgern ohne Begleitung anderer aber durchaus wichtig sein. Das Pilgern sei eine lang geübte Praxis im Christentum und könne helfen, „sich Klarheit über religiöse Gefühle und Anschauungen zu verschaffen“, so Herbers. Auch die Psychologin Barbara Horvatits-Ebner hält das Alleinsein für wichtig. Ihrer Meinung nach hilft es, seinen eigenen Gedanken Raum zu geben, sich auf sich selbst zu fokussieren und so mehr zu sich selbst zu finden.
Angela Dellemann ist 23 Jahre alt und studiert im Master Geographie und Englisch an der Universität Freiburg. Sie gehört zu denen, die den Jakobsweg aus religiöser Sicht erlebt haben. „Ich bin Christ und habe dann natürlich auch entlang des Weges Kirchen und Messen besucht. In Gesprächen habe ich nach der Perspektive von den Anderen gefragt und das hat meine Perspektive erweitert – auch im religiösen Sinne”, sagt sie. Ihre primäre Motivation war aber die Konzentration auf sich selbst und ihre Mitmenschen, weshalb sie auch allein gestartet ist. Sie nimmt sich Zeit für sich, schreibt Briefe und Tagebucheinträge und trifft neue Menschen. Doch plötzlich wird sie krank. Sie muss den Weg abbrechen und verabschiedet sich in Burgos von ihren Mitpilger:innen. Eines Tages möchte sie ihn zu Ende gehen – wann weiß sie noch nicht. Doch trotz des frühzeitigen Abbruchs hat der Jakobsweg etwas in ihr verändert: „Ich habe in letzter Zeit gemerkt: Wenn ich mir bewusst Zeit für mich und Gott nehme, gibt es mir ultraviel Kraft für meinen Alltag, weil ich doch eine Person bin, die sehr viel macht. Und auf dem Jakobsweg wusste ich einfach, manchmal brauche ich Zeit zum Auftanken, sozusagen die Balance zwischen Menschen und Alleinsein.“
Die Motive, warum Leute pilgern, unterscheiden sich. „Man kann sicherlich davon ausgehen, dass die religiöse Motivation in früheren Zeiten größer gewesen ist“, sagt Herbers. Mittlerweile sei es ein Mix aus unterschiedlichen Beweggründen geworden, zu denen auch kulturelle und sportliche Motive gehören. Aus psychologischer Sicht sucht man, laut Horvatits-Ebner, beim Alleinreisen allgemein vor allem nach Einsamkeit, Ruhe und Selbstentfaltung.
Doch es gibt noch weitere Vorteile. „Wenn man allein reist, dann steht man ganz allein vor Problemen. Die Lösung dieser Probleme oder auch das Umgehen damit ist wirklich eine unglaubliche Quelle der Selbstwirksamkeit. Wenn man das gelöst hat, dann denkt man danach: Ich kann alles schaffen“, sagt Horvatits-Ebner, „und was auch noch positiv ist: Man lernt viele neue Menschen kennen.” Dreiviertel der Alleinreisenden wären dabei sogar aktiv auf der Suche nach neuen Kontakten, das hinge auch mit der eigenen Persönlichkeit zusammen. Extrovertierte würden tendenziell andere Orte – an denen man mehr unter Menschen ist – bevorzugen als introvertierte Menschen.
Es sei wichtig zu beachten: Trotz allem wäre es etwas anderes, nur auf einem Wanderweg zu laufen, denn obwohl man dort, wie auch beim Pilgern, die Natur genießen würde, sei Letzteres nochmal mit mehr Spiritualität verbunden. „Es ist wirklich hochintrinsisch (Anmerkung der Redaktion: Motivation, die aus einem selbst kommt), wobei das aber in den letzten Jahren vielleicht ein bisschen abgeschwächt wurde, weil es mittlerweile auch ein bisschen sozial erwünscht ist”, sagt sie. Es gehe um die Reflexion über das eigene Leben, Freiheit, selektive Kontakte und die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Doch auch in Krisenzeiten würden sich viele für das Pilgern entscheiden, weil sie sich eine innere Transformation erhoffen. „Pilgern hat definitiv etwas Therapeutisches. Durch diesen Prozess wachsen wir und durch dieses Wachsen schaffen wir dann die Dinge“, sagt Horvatits-Ebner.
Auch Raúl Carreño Ortego konnte sich durch seine Pilgerreise weiterentwickeln. „Seitdem ich wieder da bin, habe ich sehr das Verlangen, mich nur noch mit Menschen zu umgeben, bei denen ich das Gefühl habe, sie tragen etwas Positives zu meinem Leben bei“, sagt er. Während er es früher gehasst hat, allein zu sein, konnte er auf dem Jakobsweg lernen, damit umzugehen. Auch an Selbstvertrauen konnte er gewinnen: „Ich bin absolut mehr denn je überzeugt: Ich kann alles schaffen, was ich schaffen möchte.”
Warum Menschen den Jakobsweg allein pilgern, hat unterschiedlichste Gründe. Mit den Beweggründen von Menschen, die zum ersten Mal allein und über eine längere Strecke gepilgert sind, hat sich Dr. Christian Kurrat befasst. Er führte auf dem Jakobsweg wissenschaftliche Interviews mit Pilger:innen und konnte in seiner Forschung fünf Typen herausbilden: den Krisenpilger, Bilanzierer, Auszeitpilger, Neustarter und Übergangspilger. Laut Kurrat scheint es vor allem Letztere sehr häufig zu geben. „Menschen, die nach der Schule und vor der Ausbildung, nach dem Studium und vor dem Jobanfang, nach dem Erwerbsleben und vor dem Renteneintritt pilgern. An diesen Übergangsphasen des Lebens, wo es in unserer modernen Welt keine Rituale gibt. Das scheint offenbar für viele Menschen der Jakobsweg zu sein”, sagt er. Für die fünf Typen habe das Alleinsein unterschiedliche Gewichtung. So suche der Bilanzierer bewusst die Einsamkeit, um über bisherige Stationen seines Lebens nachzudenken. Dem Auszeitpilger helfe das Alleinsein, weil er oft viele Anforderungen an seinen Alltag hätte und er so neue Perspektiven auf sein Alltagsleben gewinnen könne. Dem Krisenpilger helfe eher die Körperlichkeit des Laufens, um psychischen Schmerz zu verarbeiten. Der Neustarter pilgere oft nach selbstgewählten Veränderungen wie einer Kündigung oder einer Trennung. Für die Verarbeitung sei besonders das Gespräch mit anderen auf dem Jakobsweg für ihn von großer Bedeutung.
Für Kurrat habe gerade das Wechselspiel aus Alleinsein und Gemeinschaft eine besondere Anziehungskraft am Jakobsweg. Insbesondere fühlen sich dabei viele in die Gemeinschaft der historischen Jakobspilger:innen eingebettet. In vielen Menschen löse das Wissen ein gutes Gefühl aus, dass schon vor 50, 100 oder auch 1000 Jahren andere mit dem gleichen Ziel auf den gleichen Wegen gepilgert seien – und das auch in vielen Jahren noch tun werden.
Was ist der Jakobsweg?
Eine Vielzahl von Pilgerwegen führen durch Europa und unter anderem auch durch Deutschland. Der bekannteste von ihnen ist der Camino Francés, der sich über 800 km durch Spanien erstreckt. Ziel ist die Kathedrale von Santiago de Compostela, denn die Pilger:innen wandern zum Grab des Apostels Jakobus und das schon seit 1000 Jahren.
Das Pilgern allein kann aber auch Nachteile haben. In der Vergangenheit berichteten Medien wie der Bayerische Rundfunk vermehrt darüber, dass das Pilgern allein gerade für Frauen ein Risiko berge. Dr. Christian Kurrat kann das nicht bestätigen. „Man ist nicht in Gefahr auf dem Jakobsweg“, sagt er, „inzwischen sind über 50 Prozent aller Pilger weiblich, das sah in den 80ern noch ganz anders aus. Und ich glaube das hängt damit zusammen, dass Pilger wissen, dass man nicht allein ist. Man trifft dort auf Gemeinschaft und hat doch immer wieder die Möglichkeit, dort allein zu sein.” Doch das sah in der Geschichte nicht immer so aus. Für Frauen sei früher die Gefahr beim einsamen Pilgern höher gewesen als für Männer. Grundsätzlich sei es für Frauen schwieriger gewesen, überhaupt zu pilgern, da diese nicht so einfach im Haushalt fehlen konnten wie Männer. „Aber zum Beispiel die Holzschnitte des Pilgerführers des 15. Jahrhunderts zeigen durchaus auch Frauen, die am Grab des heiligen Jakobus auftauchen, mit der Pilgertasche, mit dem Pilgerstab und der Muschel”, sagt Herbers.
Die Zukunft des Pilgerns sehen sowohl Prof. Dr. Klaus Herbers als auch Dr. Christian Kurrat positiv. Es gäbe immer wieder Menschen, die Phasen in ihrem Leben hätten, in denen sie sich nach dem Alleinsein sehnen würden und ein Bedarf an „Besinnung” bestehen würde, so Herbers. Ähnlich sieht es auch Kurrat: „Solange die Grenzen in Europa offen sind, solange Menschen fasziniert sind von Pilgerberichten, die sie lesen oder aus dem Freundeskreis hören, wird diese Faszination des Pilgerns fortbestehen.”
Für Raúl Carreño Ortego war das Pilgern ohne Begleitung eine Erfahrung, die ihn prägte und ihn lange begleiten wird. „Es ist etwas sehr Schönes und etwas sehr Heilendes. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich diesen Weg gegangen bin.“
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