Einsam(e) Spitze?
Einsamkeit im Leistungssport ist für viele Athlet:innen Alltag. Beim Namen nennen können das Problem jedoch die Wenigsten. Denn Einsamkeit kommt selten allein, sondern geht oft mit anderen Diagnosen einher. Sportpsychologie und Prävention gewinnen immer mehr an Bedeutung.
Text: Jakob Lüers
Illustrationen: Anna Grimbs
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„Ich kann sagen, dass ich pro Woche zwanzig Stunden trainiert habe“, erzählt Paulina Klimsa und blickt durch den Raum. Auf dem Schrank neben ihrem Bett reiht sich ein Pokal neben den nächsten. „Irgendwann habe ich meine Ruhetage gestrichen und quasi sieben Tage die Woche trainiert, ich hatte überhaupt keine Regeneration mehr.“ Paulina ist 24 Jahre alt, lebt in München. 2017 und 2018 wurde sie deutsche Jugendmeisterin im Bahnradrennen, im Einzel und mit der Mannschaft. Zeit für Freund:innen, Hobbies oder irgendetwas anderes außer Rennradfahren hatte Paulina spätestens dann noch kaum, als sie aus dem Jugend- in den Damenbereich wechselt.
Leistungssport fordert von Athlet:innen wie Paulina unheimlich viel. Um erfolgreich zu sein und den Traum vom Profi leben zu können, sind sie häufig auf sich allein gestellt: auf Reisen, im Hotel, im Training oder im Wettkampf. Wir haben uns gefragt: wie präsent ist die Einsamkeit im Leistungssport wirklich? Immer wieder hört man von Personen aus dem Spitzensport, die mit mentalen Problemen zu kämpfen haben, von „Einsamkeit“ ist aber in den seltensten Fällen die Rede. Im Vorfeld unserer Recherche haben wir über 40 Leistungsportler:innen angefragt und um ein Statement zum Thema Einsamkeit gebeten – explizit dazu geäußert haben sich Drei.
Das untermalte unseren Eindruck: Über psychische Probleme, Depressionen und über Einsamkeit spricht man nicht im Leistungssport. Zumindest noch nicht genug. Vielleicht ist das Thema aber auch gar nicht so groß, wie wir denken. Wie einsam ist es wirklich an der Spitze?
Keine Diagnose, eher ein Symptom
Für Paulina beginnen ihre mentalen Probleme, als sie aus der Jugend in den Damenbereich wechselt. Zum ersten Mal in ihrer Karriere gehört sie nicht mehr zu den Besten und bekommt immer öfter ihre Grenzen aufgezeigt. Das will sie ändern. Immer mehr Training, aber auch immer mehr Druck. „Ich habe irgendwann das Gefühl gehabt, dass ich nicht mehr für mich selbst sondern für andere fahre“. Eine unberechtigte Angst, diese Anderen zu enttäuschen, kriecht nach und nach in Paulina rein: „Es war für mich ganz schwierig, den Spaß zu behalten. Ich habe den Bogen nicht mehr bekommen“, erzählt sie. 2021 beendete sie ihre Karriere, erst danach kann Paulina reflektieren, dass sie einsam war.
Wie hängen Einsamkeit und Leistungssport miteinander zusammen? Dr. Thomas Ritthaler ist Sportwissenschaftler und Psychologe, ihn besuchte Paulina während ihrer schweren Zeit. „Ich erlebe oft Sportler, die zu mir kommen, und sagen: naja wenn ich nicht performe, dann bin ich nicht mehr berechtigt zu leben“, erzählt Dr. Ritthaler über seine Arbeit. „Man ist oft an Orten, an denen man allein ist: Zuhause, in der Reha. Oder auch in Leistungszentren, wo man nicht aufgewachsen ist.” Oftmals sei das erste Anliegen von Athlet:innen, die Leistung aus dem Training nicht in den Wettkampf übertragen zu können. Daraus würden sich dann prozesshaft weitere mentale Probleme ergeben. Grundsätzlich seien Sportarten verschieden anfällig für Einsamkeit. Dass Sportler:innen zu ihm kommen und offen von Einsamkeit sprechen, das sei jedoch noch nie vorgekommen. „Einsamkeit ist eher etwas, wo jemand darunter leidet und sein Leben beeinträchtigt wird.”
Tatsächlich auszusprechen einsam zu sein, kommt in der Sportwelt eher selten vor. Oftmals erkranken Athlet:innen an Depressionen oder erleiden einen Burn-Out. „Zu uns sind noch nie Sportler gekommen, die das Erstanliegen Einsamkeit hatten“, sagt auch Dipl.-Psych. Marion Sulprizio von der Initiative „MentalGestärkt“, die schon mehr als 1000 Sportler:innen Hilfsangebote machen konnte, indem sie an verschiedenstes Fachpersonal weitervermittelt wurden. Vielmehr sei es so, dass bei Betroffenen Komorbiditäten auftreten könnten – bedeutet: eine Diagnose bezieht zunächst eine psychische Hauptstörung ein, es können aber auch mehrere Störungen gleichzeitig auftreten, die sich vermischen. Einsamkeit äußert sich demnach eher als Begleiterscheinung übergeordneter, psychischer Probleme, die in dem Moment von den Athlet:innen gar nicht als solche erkannt wird – ganz ähnlich wie bei Paulina. Zwischen Einsamkeit und anderen psychischen Problemen kann also nicht trennscharf differenziert werden – die Übergänge sind fließend.
Rita Regös, seit über 20 Jahren Sportpsychologin, bestätigt diesen Eindruck: „Ich habe bisher sehr selten, eigentlich fast gar nicht mit Einsamkeit zu tun gehabt“. Das Problem der Einsamkeit im Leistungssport sei insofern relativ, als dass Einsamkeit ein generelles, soziales Phänomen sei, das von vielen Faktoren abhänge. Ein exklusives Problem für Spitzensportler:innen sei es nicht. Trotzdem gehe man „mit mentalen Problemen natürlich nicht gerne an die Öffentlichkeit.” Im Sport sei man durchaus verwundbar, denkt Regös.
Statistiken lassen zumindest vermuten, dass im Leistungssport schneller bzw. stärker mentale Verstimmungen einsetzen als im Rest in der Bevölkerung. Zahlen, die sie unmittelbar mit der Einsamkeit beschäftigen, gibt es kaum. Eine Studie zur Lebenssituation von Spitzensportler:innen der „Stiftung Deutsche Sporthilfe“ aus dem Jahr 2018 zeigt: Im Schnitt sind Athlet:innen deutlich unzufriedener mit ihrer Lebenssituation in den Bereichen Familie und Freizeit, also in den Bereichen, in denen es viel soziale Interaktionen gibt. Das Ausbleiben dieser Interaktionen kann Einsamkeit fördern.
Außerdem lässt sich ablesen: Je besser die Sportler:innen sind, sprich je höher sie in Kaderstrukturen aufsteigen, desto unzufriedener sind sie mit ihrer Lebenssituation im Ganzen. Aber: Eine statistische Aussage, die belegt, dass Leistungssport einsam macht, gibt es nicht. Doch zur Wahrheit gehört auch: Unzufriedenheit in Lebensbereichen wie Familie und Freizeit sind ein Indiz dafür, dass im Leistungssport definitiv Nährboden für psychische Probleme vorhanden ist. Von Essstörungen sind Leistungssportler:innen deutlich häufiger betroffen als Andere, wie Marion Sulprizio erklärt: „Laut Forschung entwickeln bis zu 45 Prozent aller Athlet:innen im Laufe ihres Lebens eine Essstörung, im Bevölkerungsschnitt sind es normalerweise drei bis fünf Prozent.“
Dem Teufelskreis entfliehen
Ausbleibende Leistung führt dauerhaft zu Motivationsproblemen – eine Rechnung, die sicher nicht immer, aber bei manchen Sportler:innen aufgeht. Ausbleibendes Training führt wiederum zu noch schwächeren Leistungen, mentale Probleme können ihren Lauf nehmen. In diesen Teufelskreis ist auch Paulina irgendwann hineingerutscht. Um im Radsport besser zu werden, trainiert sie 2020 und 2021 wie besessen. Teures Material oder überzogene Ernährungspläne bringen sie jedoch nicht weiter. Das setzt Paulina stark zu: „Ich weiß noch, wie ich beim Doktor saß und gehofft habe, dass mit meinen Blutwerten etwas nicht stimmt, also, dass ich irgendwie krank bin, damit ich den Leuten erklären kann: es liegt nicht an mir.“ Und tatsächlich – die Blutwerte ergaben: Paulina hat an Übertraining gelitten. Dies kann zu einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit und Herzrhythmusstörungen führen.Verletzungsanfälligkeit und Herz-Rhythmus-Störungen führen.
Wie gefährlich so ein Teufelskreis aus psychischen Problemen sein kann, weiß Dr. Valentin Markser. Er ist renommierter Sportpsychiater mit Praxis in Köln und betreute den deutschen Fußballnationaltorwart Robert Enke, der sich 2009 das Leben nahm; dieser litt an Depressionen. Auch Markser unterstützt den Eindruck: Einsamkeit ist kein Erstanliegen. Oft sei es eher ein Zustand der depressiven Verstimmung. Im Vergleich zu anderen mentalen Problemen werde Einsamkeit wenig kommuniziert.
„Einsamkeit wird im Leistungssport oft maskiert, ist aber ein großes, wichtiges Thema vor allem bei Einzelsportarten“, meint Markser und erklärt, warum so wenig über Einsamkeit gesprochen wird: „Während der Karriere werden die mentalen Probleme oft durch den Erfolg überdeckt, nach der Karriere gibt es diese Erfolge aber nicht mehr“. Viele Sportler:innen suchen sich erst nach ihrer Karriere professionelle Hilfe, das sei aber oft schon zu spät. Thomas Ritthaler hat da andere Erfahrungen gemacht. Er habe nur ganz selten mit Athlet:innen zu tun, die nach ihrer Karriere zu ihm kommen: „Ganz klar sind die Aktiven das Thema“, stellt er fest. Eine Generalisierung kann hier also nicht getroffen werden. Durch den hohen Leistungsdruck sei es laut Markser oftmals ein Zeichen der Schwäche, sich im Sport mentale Probleme einzugestehen. „Leistungssportler wollen keine Probleme zugeben, weil sie schon so viel in ihre Karriere und den Sport investiert haben.”
Licht im Tunnel
Zumindest innerhalb der Sportwelt ist das Thema der mentalen Gesundheit angekommen. Wie eingangs erwähnt: der Begriff Einsamkeit fällt sehr selten. „Die Kommunikation wird immer besser, immer mehr Sportler reden offen über ihre Probleme“, weiß Markser. Auch Dr. Rita Regös, die schon für viele Verbände als Sportpsychologin gearbeitet hat, unterstützt die Meinung: „Das Thema wurde auf jeden Fall auf die Agenda gesetzt.”
Ähnlich wie Physiotrainer:innen, sind mittlerweile auch Sportpsycholog:innen wie Rita Regös fester Bestandteil vieler Sportvereine und Verbände. Zwischen Sportpsycholog:innen und Psychotherapeut:innen besteht jedoch nochmal ein Unterschied. Sportpsycholog:innen helfen Sportler:innen dabei, ihre Leistung zu maximieren, sie mental auf Wettkämpfe vorzubereiten oder aus kleinen mentalen Tälern zu befreien. Liegt jedoch eine psychisch-medizinische Diagnose wie die einer Depression vor, muss klinisch behandelt werden. Das geschieht mit Psychotherapeut:innen. An denen mangelt es jedoch noch an manchen Stellen im Leistungssport.
Mit ihrer Initiative „MentalGestärkt“ vermittelt Marion Sulprizio Athlet:innen je nach Bedarf entweder an Sportpsycholog:innen oder an Psychotherapeut:innen bzw. Psychiater:innen aus dem klinischen Bereich. Das Verhältnis hat sich über die Jahre geändert: „Zum Anfang der Initiative 2011 war es eigentlich recht ausgeglichen – fifty-fifty. Zuletzt haben wir jedoch immer mehr an klinisches Personal vermittelt“. In den vergangenen fünf Jahren seien es vor allem die 18 bis 24-Jährigen, die sich vermehrt bei „MentalGestärkt“ gemeldet haben.
Nicht zuletzt kann Sport auch dabei helfen, Einsamkeit und psychische Probleme zu überwinden. „Es ist wie ein Rezept gegen psychische Verstimmungen. Sport hilft gegen Einsamkeit“, sagt Rita Regös. Auch Paulina Klimsa treibt nach dem Ende ihrer Rad-Karriere wieder viel Sport, der ihr guttut: „Die Einsamkeit habe ich auf jeden Fall überwunden. Ich bin aus dem Loch rausgekommen und ich finde, ich habe das gut gemacht“, sagt sie.
Andere Sportler:innen wiederum suchen ganz bewusst danach, allein zu sein, so wie die Ultraläuferin Eva-Maria Sperger. Natürlich ist Breiten- und Freizeitsport nicht mit Leistungssport zu vergleichen. Leistungsdruck von außen, viel Verzicht und viel Zeit allein – all das sind Faktoren, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen, wenn es um die mentale Gesundheit von Spitzensportler:innen geht. Auch wenn Einsamkeit kein akutes, einzelnes Problem zu sein scheint, sondern eher mit anderen Problemen einhergeht, so ist festzuhalten: An der Spitze kann es einsam werden. Gesprochen wird darüber zwar wenig, aber zumindest immer mehr.
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