Gemeinsam – Einsam

Nach dem Verlust ihrer Partner:innen meistern verwitwete alleinerziehende Eltern die doppelte Bürde, ihre Kinder allein großzuziehen und die erdrückende Einsamkeit zu bewältigen. Obwohl ihre Kinder stets um sie sind, fühlen sie sich tief in sich einsam und allein.

Text und Illustrationen: Wendy Asamoah

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Audioversion des Artikels – eingesprochen von Nina Schülert

Romy (39) sitzt in ihrem Wohnzimmer und reagiert schnell, als sie eine Bewegung im Augenwinkel sieht. Sie beobachtet den Bildschirm des Babyfons und sieht, wie sich ihre acht Monate alte Tochter Mayleen im Babybett wälzt. Als Mayleen anfängt zu quengeln, steht ihre  Mutter auf und eilt in das Zimmer, aus dem munteres Gelächter kommt. Mayleens Nickerchen ist somit beendet. 

An der Wand hängen große Porträtfotos von ihm. Auf dem Regal neben dem Fernseher ist ein kleiner Altar hergerichtet. Er ist mit Steinen, gebastelten Schiffen, Deko-Stücken mit der Aufschrift „Du bist der beste Papa“ beschmückt. Der Altar soll an Andre erinnern, Romys verstorbenem Ehemann. Die beiden lernen sich erstmals 2006 im Fitnessstudio in Wendelstein kennen, in dem Romy als Physiotherapeutin arbeitet. Zunächst verlieren sie sich für einige Jahre aus den Augen. Bis sie 2013 wieder aufeinandertreffen und im Juni endgültig zusammenkommen. Als sie sich nach der langen Zeit wieder treffen, fühlt es sich für Romy an, als hätte sie die letzten Jahre jede Minute mit ihm verbracht. Sie erzählt, dass sie genau dort angeknüpft haben, wo sie 2006 aufgehört haben. 

2019 beschwert sich Andre über Schmerzen im oberen Bauch. Erst erhält er zahlreiche Falschdiagnosen. Aufgrund der Corona-Auflagen können 2020 viele Tests nicht durchgeführt werden.  Anfang Juli entscheiden sich die beiden dazu,  eine Darmspiegelung zu machen. „Er kam mit der niederschmetternden Diagnose nach Hause und hat gesagt, dass sie einen Tumor im Enddarm gefunden haben”, erzählt Romy. Das Paar geht jeden erdenklichen Weg, damit Andre wieder gesund wird: Chemotherapie, ein ambulanter Aufenthalt in einer Naturheilklinik mit einer Hyperthermie-Behandlung. Anfangs scheinen sich alle Bemühungen zu lohnen, bis kurz vor Weihnachten bei Andre Lungen- und Bauchfellmetastasen festgestellt werden. Am 28. Dezember bringt Romy ihren Mann auf die Palliativstation. Andre möchte zu Hause sterben. Auf der Palliativstation wird die Familie auf das Sterben im Eigenheim vorbereitet und Romy kann alles Nötige wie ein Bett, einen Toilettenstuhl und weiteres für ihn bereitstellen. Zwei Tage später verschlechtert sich sein Zustand enorm. 

Engel auf dem Grabstein von Andre
Andres letzte Momente auf der Palliativstation (Quelle: Ausschnitt aus dem Filmbeitrag „L(i)eben nach dem Tod – Verwitwet und alleinerziehend“)

In der Ecke neben dem Fernseher steht eine lila Schultüte mit Einhörnern darauf. Mit dicken weißen Buchstaben prangt der Name „Nikita“ neben dem Einhornkopf. Nikita ist die Tochter von Romy und Andre. Als Andre verstarb, war sie vier Jahre alt. Die Pflegekraft und Romy haben Nikita auf der Palliativstation gefragt, ob sie ihren verstorbenen Vater ein letztes Mal sehen möchte. „Sie hat ganz klar gesagt: Ja, sie möchte in das Zimmer gehen und sich vom Papi verabschieden“, erklärt Romy. 

Nikita verabschiedet sich von ihrem Vater (Quelle: Ausschnitt aus dem Filmbeitrag „L(i)eben nach dem Tod – Verwitwet und alleinerziehend“)

Laut Statistischem Bundesamt teilen 1,57 Millionen alleinerziehende Eltern in Deutschland dasselbe Schicksal wie Romy. Obwohl Alleinerziehende immer in der Gesellschaft ihrer Kinder sind, berichtet ein Großteil von einem Einsamkeitsgefühl. Behördengänge, Entscheidungen zu medizinischen Eingriffen, Windelwechseln und Kochen. Das sind alles Aufgaben, um die sich die Eltern allein kümmern müssen. Die Zeitverwendungserhebung von 2022 zeigt, dass Alleinerziehende mit 40 Prozent die Gruppe sind, die sich am häufigsten einsam fühlt. Zwar gibt es in den meisten Fällen Familie und Freunde, auf die man sich verlassen kann. Nachdem alleinerziehende Eltern jedoch abends die Kinder ins Bett bringen, fallen diese immer allein ins Bett. Sie haben keine Person, die neben ihnen liegt, mit der sie sich über den Tag unterhalten können. 


Karsten nimmt Anlauf und rennt mit seinem Sohn Lennard händchenhaltend die steilste Rampe auf dem Skateplatz hoch. Die Oberflächen sind vom Regen des Vortags noch nass, der Fünfjährige lässt sich davon nicht aufhalten, rutscht mit seiner Regenhose die Rampe runter und flitzt jede weitere Rampe hoch und runter. Karsten ist ihm immer dicht auf den Fersen und gibt ihm oft seine Hand, wenn er allein nicht auf die Rampen kommt. An diesem Skateplatz in Burgthann verbringen Karsten und sein Sohn viel Zeit miteinander, denn hier sammelten sie zahlreiche Erinnerungen mit Lennards Mutter Nicole.

Ein Familienfoto von Nicole, Karsten und Lennard (Quelle: Privat)

Nicole kämpft lange gegen Blutkrebs an. Nach einer Knochenmarkspende braucht ihr Körper etwas Zeit, um sich zu regenerieren, doch es geht ihr Schritt für Schritt besser. Sie hatte vor, Anfang 2023 wieder arbeiten zu gehen und ging zur Weihnachtsfeier. Doch kurz vor Weihnachten bekommt Nicole plötzlich eine schwere Lungenentzündung und verstirbt. 

Seitdem ist Karsten alleinerziehend und kümmert sich um ihren gemeinsamen Sohn Lennard. Lennard kam als Frühchen zur Welt, er verbrachte die ersten drei Monate seiner Lebenszeit unter strenger Beobachtung im Krankenhaus. Es scheint ihm endlich besser zu gehen und die Familie darf das Baby endlich mit nach Hause nehmen. Sie verbringen jede gemeinsame Minute glücklich miteinander und unternehmen viel zusammen. Nach ein paar Wochen stellen die Ärzt:innen eine Hirnhautentzündung fest. Erneut müssen sie mit ihrem Sohn vier Wochen auf der Intensivstation auf seine Genesung warten. Lennard hat es in seiner Entwicklung seitdem schwer, mit fünf Jahren kann er noch nicht sprechen. „Er ist trotzdem ein kleiner Entdecker und unglaublich neugierig. Er liebt alles, was mit Technik zu tun hat und kochen tut er auch sehr gerne“, sagt Karsten mit einem Lächeln im Gesicht. 


Im Jahr 2022 gab es 239.000 alleinerziehende Väter; sie machen 15 Prozent aller alleinerziehenden Eltern aus. Einer von ihnen ist Karsten aus Burgthann. 2023 gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass die Zahl der alleinerziehenden Väter mit minderjährigen Kindern in den letzten zehn Jahren um 44 Prozent gestiegen ist. 

Die Partner:innensuche gestaltet sich nicht nur für alleinerziehende Väter, sondern für alle Betroffenen kompliziert. 37 Prozent der Alleinerziehenden  geben laut einer Untersuchung von ElitePartner an, dass sie in der Kennenlernphase mit einer neuen Person ihre Familiensituation selten gänzlich erklären. Das kann im Fortgang einer Beziehung dazu führen, dass die neue Person denkt, dass wichtige Themen vorenthalten wurden. Wie Karsten machen sich auch viele Gedanken darüber, wie sich eine neue Beziehung auf die Kinder auswirken kann. 



Karsten und Romy haben in ihrer Trauerzeit Halt bei der Evangelischen Fachstelle Alleinerziehende gefunden. Sie veranstalten einmal im Monat ein Samstagstreffen für junge verwitwete Eltern. Bei diesem Treffen können die Alleinerziehenden mit anderen Betroffenen in Kontakt treten und sich über ihre Erfahrungen und Herausforderungen austauschen.

Auch in München gibt es wichtige Anlaufstellen. „Allfabeta” ist ein Projekt des Trägervereins siaf und bietet einen Ort der Zusammenkunft für alleinerziehende Mütter mit Kindern mit Behinderung. Die Mütter können sich regelmäßig im Café „Glanz” treffen. Es gibt Kaffee und Kuchen und auch eine Kinderbetreuung wird angeboten.