Selbstliebe oder Selbst-beschränkung?
Aus Villen werden Vogelhäuschen, aus Palästen Puppenstuben. Willkommen in der Welt der Tiny Houses – wo weniger mehr sein soll, aber oft einfach nur weniger ist.
von Valentin Kronberger

Die Revolution beginnt auf 25 Quadratmetern. Hier soll das neue Glück wohnen, eingeklemmt zwischen Klappbett und Komposttoilette. Das Tiny House verspricht Befreiung vom Ballast des Besitzes. Endlich weg von überflüssigen Zimmern, nutzlosen Kellern und sinnfreien Speichern.
Deutschlands Mittelschicht packt ihre Träume in Schuhkartons. Aus dem Eigenheim wird das Eigenheimchen. Die Küche schrumpft zur Küchenzeile, das Wohnzimmer zum Wohnwinkel, das Schlafzimmer zur Schlafnische. Multifunktional nennt man das heute. Vor 20 Jahren hieß das noch beengt.
Was ist ein Tiny House?
Eine feste Definition für ein Tiny House gibt es in Deutschland laut der Verbraucherzentrale nicht. Das Gebäudeenergiegesetz definiert es als ein „kleines Gebäude” mit bis zu 50 Quadratmeter Nutzfläche. Der Bundesverband Mikrohaus legt die Nutzfläche für ein Tiny House auf 15 bis 45 Quadratmeter fest. Außerdem soll es über eine Küche, ein Bad, einen Schlafbereich und Anschlüsse an Strom sowie Wasser verfügen. Ein Tiny House kann zwischen 30.000 und 250.000€ kosten, so die Verbraucherzentrale.

Der Trend kommt aus Amerika, wo alles größer ist – auch die Verkleinerung. Dort bauen sich Menschen freiwillig ins Hamsterrad. Hier folgen wir begeistert nach, als hätten wir nicht schon genug kleine Wohnungen.
Minimalismus wird zum Maximalismus des Verzichts. Jeder Gegenstand muss sich rechtfertigen. Brauche ich dieses Buch wirklich? Diesen zweiten Teller? Diese Privatsphäre? Das Tiny House stellt Fragen, die niemand stellen wollte. Selbstliebe bedeutet hier Selbstbeschränkung.
Die Anhänger:innen schwärmen von Nachhaltigkeit und Umweltschutz wie die Instagram-Blogger:innen „Living Tiny and Green“. Weniger Raum bedeute angeblich weniger Verbrauch. Das klingt vernünftig, ist aber oft nur Marketing. Viele Tiny Houses brauchen vor allem wegen ihrer großen Außenfläche mehr Energie pro Quadratmeter als normale Häuser. Nachhaltigkeit wird zum Verkaufsargument, nicht zur Realität.
Soziale Medien feiern jeden Quadratzentimeter. Der Instagram-Account „Tiny House Perfect“ explodiert vor perfekt arrangierten Miniküchen und Klappbetten mit Fernblick. Die Realität sieht anders aus: Wo versteckt man den Staubsauger? Wo lagert man Winterkleidung? Wo streitet man sich, ohne dass es alle hören?
Wie nachhaltig ist ein Tiny House?
Ein Tiny House sei keine ökologische und nachhaltige Form des Wohnens, teilt die Verbraucherzentrale auf ihrer Webseite mit. Die kleinen Häuser hätten pro Quadratmeter Nutzfläche einen hohen Material-, Flächen- und Heizenergiebedarf. Das liege daran, dass jedes Haus freistehend aufgestellt werde und somit verhältnismäßig viel Fläche beanspruche. Außerdem sei der gesamte Innenraum des Tiny Houses von Außenflächen umhüllt, wodurch Heizenergie verloren gehe.

Das Tiny House verspricht Freiheit durch Beschränkung: Wer weniger besitzt, soll mehr leben können. Diese Philosophie überzeugt Menschen, die ihr ganzes Leben nach Vergrößerung gestrebt haben. Plötzlich gilt das Gegenteil. Selbstliebe durch Selbstverkleinerung: Ist das die neue Formel für das perfekte Leben?
Eigenheimchen statt Eigenheim: Das Tiny House verspricht Freiheit durch Verzicht

Doch die Tiny-House-Bewegung hat ihre Grenzen. Kinder wachsen, Eltern altern, Partner:innen brauchen Rückzugsorte. Das Tiny House funktioniert am besten als Übergangsphase zwischen Schulabschluss und richtigem Leben. Oder als Experiment für Menschen, deren Probleme größer sind als ihre Häuser.
Am Ende bleibt die Frage: Macht weniger Raum mehr Mensch? Oder ist das Tiny House nur der neueste Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen? Die Antwort liegt vermutlich irgendwo zwischen 25 und 250 Quadratmetern – je nach Lebenslage und Leidensfähigkeit.
Fotos: Valentin Kronberger
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