Selbstliebe oder Selbst-beschränkung?

von Valentin Kronberger

Die Revolution beginnt auf 25 Quadratmetern. Hier soll das neue Glück wohnen, eingeklemmt zwischen Klappbett und Komposttoilette. Das Tiny House verspricht Befreiung vom Ballast des Besitzes. Endlich weg von überflüssigen Zimmern, nutzlosen Kellern und sinnfreien Speichern.

Deutschlands Mittelschicht packt ihre Träume in Schuhkartons. Aus dem Eigenheim wird das Eigenheimchen. Die Küche schrumpft zur Küchenzeile, das Wohnzimmer zum Wohnwinkel, das Schlafzimmer zur Schlafnische. Multifunktional nennt man das heute. Vor 20 Jahren hieß das noch beengt.


Was ist ein Tiny House?


Der Trend kommt aus Amerika, wo alles größer ist – auch die Verkleinerung. Dort bauen sich Menschen freiwillig ins Hamsterrad. Hier folgen wir begeistert nach, als hätten wir nicht schon genug kleine Wohnungen.

Minimalismus wird zum Maximalismus des Verzichts. Jeder Gegenstand muss sich rechtfertigen. Brauche ich dieses Buch wirklich? Diesen zweiten Teller? Diese Privatsphäre? Das Tiny House stellt Fragen, die niemand stellen wollte. Selbstliebe bedeutet hier Selbstbeschränkung.

Eine schlichte Wand mit verstecktem Potenzial.
Vorher Trennwand, jetzt Esstisch mit Bank.
Schlafen mit Einschränkungen: Das Bett unter der Decke bietet nur Platz zum Liegen.
Stauraum unter der Decke: Nur mit Leiter erreichbar.
Notwendiges Übel: Ohne Klimaanlage wird das Tiny House im Sommer zum Backofen – Minimalismus hat seine Grenzen.
Jeder Zentimeter zählt: Unter der Treppe versteckt sich zusätzlicher Stauraum.
Improvisierter Keller im Freien: Der Spalt zwischen Tiny House und Boden dient als Stauraum.

Die Anhänger:innen schwärmen von Nachhaltigkeit und Umweltschutz wie die Instagram-Blogger:innen „Living Tiny and Green“. Weniger Raum bedeute angeblich weniger Verbrauch. Das klingt vernünftig, ist aber oft nur Marketing. Viele Tiny Houses brauchen vor allem wegen ihrer großen Außenfläche mehr Energie pro Quadratmeter als normale Häuser. Nachhaltigkeit wird zum Verkaufsargument, nicht zur Realität.

Soziale Medien feiern jeden Quadratzentimeter. Der Instagram-Account „Tiny House Perfect“ explodiert vor perfekt arrangierten Miniküchen und Klappbetten mit Fernblick. Die Realität sieht anders aus: Wo versteckt man den Staubsauger? Wo lagert man Winterkleidung? Wo streitet man sich, ohne dass es alle hören?


Wie nachhaltig ist ein Tiny House?


Das Tiny House verspricht Freiheit durch Beschränkung: Wer weniger besitzt, soll mehr leben können. Diese Philosophie überzeugt Menschen, die ihr ganzes Leben nach Vergrößerung gestrebt haben. Plötzlich gilt das Gegenteil. Selbstliebe durch Selbstverkleinerung: Ist das die neue Formel für das perfekte Leben?

Doch die Tiny-House-Bewegung hat ihre Grenzen. Kinder wachsen, Eltern altern, Partner:innen brauchen Rückzugsorte. Das Tiny House funktioniert am besten als Übergangsphase zwischen Schulabschluss und richtigem Leben. Oder als Experiment für Menschen, deren Probleme größer sind als ihre Häuser.

Am Ende bleibt die Frage: Macht weniger Raum mehr Mensch? Oder ist das Tiny House nur der neueste Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen? Die Antwort liegt vermutlich irgendwo zwischen 25 und 250 Quadratmetern – je nach Lebenslage und Leidensfähigkeit.

Fotos: Valentin Kronberger

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Und das sind wir:

v.l.n.r: Valentin Kronberger, Janek Schermer, Elisabeth Sutner, Yannick Glocker

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