Leben ohne Papiere

 

Schattenmenschen

Zwischen 150.000 und 450.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung leben in Deutschland – das schätzt die Bremer Wissenschaftlerin Dita Vogel. Rechtlich gesehen sind diese Menschen „Illegale“: Ein Leben ohne Papiere ist in Deutschland eine Straftat.

Die Wege in die Illegalität sind vielfältig, ungeplant und unfreiwillig. Viele Menschen ohne Papiere führen ein Schattendasein. Die Angst, entdeckt zu werden, beeinträchtigt ihr Leben massiv: Sie verlassen das Haus nicht, vertrauen kaum jemandem und passen immer auf, nicht aufzufallen.

Sie schützen sich und sind auf den Schutz anderer angewiesen. Deshalb ist es schwer, diese Menschen zu treffen und ihre Geschichten zu erfahren. Aber Einsteins will sie trotzdem erzählen.

Weil wir diese Menschen nicht persönlich treffen konnten, hat Birgit Poppert uns ihre Geschichten erzählt. Sie berät Menschen, die keine Papiere haben. Tagtäglich arbeitet sie mit ihnen und unterstützt sie bei Problemen. Die Geschichten, die Poppert erzählt, sind Beispiele für Schicksale, die es so oder so ähnlich tausendfach gibt.


Wege in die Illegalität


Keine Papiere – keine Rechte

Menschen, die in der Illegalität leben, haben theoretisch die gleichen Rechte wie alle anderen. Sie können ihre Rechte aber nicht einfordern, weil sie sonst Gefahr laufen, abgeschoben zu werden:

  • Sie können bei schwerer Krankheit nicht einfach in ein Krankenhaus gehen, weil sie immer jemanden brauchen, der die Rechnungen für sie bezahlt. Finden sie niemanden, der sie finanziell unterstützen kann, muss das Sozialamt die Kosten übernehmen. Das Sozialamt ist verpflichtet, Menschen ohne Papiere an die Ausländerbehörde zu melden.
  • Sie können nur schwarz arbeiten, weil ihnen für eine legale Arbeit die Papiere fehlen. Sie sind ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert und haben keinen Anspruch auf einen gerechten Lohn oder faire Arbeitszeiten.
  • Sie trauen sich oft nicht, ihre Kinder zur Schule zu schicken, aus Angst, entdeckt zu werden. Diese Angst ist begründet: Schulen und Schulämter sind zwar bundesweit nicht verpflichtet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu melden, aber Bildung ist Ländersache und in vielen Bundesländern ist ein Aufenthaltsstatus Voraussetzung für den Schulbesuch. Es gibt also in der Praxis, trotz klarer Gesetzeslage, kein einheitliches Vorgehen bei Kindern ohne Aufenthaltsstatus.

Aliou (Zeichnung: Amanda Müller)

Alious Weg

Alious Weg in die Illegalität ähnelt vielen anderen. Er kommt aus dem Sudan. Aber er ist kein typischer „Illegaler“.  Er geht mit seiner Situation ganz anders um, er versteckt sich nicht. Mit Einsteins hat Aliou über seine Geschichte gesprochen, irgendwo in Deutschland. 

Um Aliou zu schützen, hat Einsteins seine persönlichen Daten geändert. In Wirklichkeit ist Aliou nicht 28 Jahre alt und er heißt auch nicht Aliou.

Erzählt hat er auf Arabisch, übersetzt hat seine Freundin Lena. Auch sie muss unerkannt bleiben. Auch ihr Name wurde geändert. Denn Lena lässt Aliou bei sich wohnen, dadurch macht sie sich strafbar.


Aliou erzählt

„Ich habe im Sudan viel Politik gemacht, war in der Opposition. Und ich habe in einer Organisation gearbeitet, in der wir mit benachteiligten Kindern und Waisenkindern gearbeitet haben. Die Regierung von Präsident al-Bashir hatte schon immer ein Problem mit mir und hat mir viele Probleme bereitet. Al-Bashir ist ein Diktator. Es gibt keine freien Wahlen. Menschenrechte werden verletzt.

Nach der Teilung des Sudans 2011 wurde die Lage für unsere Organisation noch schwieriger. Damals kam es zu immer mehr bewaffneten Konflikten und da wurden wir plötzlich zum Ziel politischer Verfolgung. Unsere Organisation wurde verboten.

Ich hatte dann eigentlich beschlossen, Richtung Süden aufzubrechen. Ich wollte in ein anderes Land gehen. Spontan habe ich mich, neben meinen Auswanderungsplänen, für einen Vortrag in Europa beworben. Ich habe schon immer viel auf Konferenzen und Versammlungen gesprochen. Das war Teil meiner politischen Arbeit. Die Zusage für den Vortrag kam sehr kurzfristig. Ich habe das Nötigste gepackt und bin nach Europa geflogen. Mein Besuchervisum galt fünf Tage lang. Ich habe damals mein Land verlassen, ohne zu wissen, dass das wahrscheinlich für immer ist.

Schon am Flughafen habe ich andere Sudanesen getroffen. Wir haben festgestellt, dass wir das gleiche Ziel haben: den Vortrag in Europa. Ein schöner Zufall. Wenn sich Sudanesen auf einer Reise treffen, ist immer direkt eine Basis da.

Hinterher haben mich Leute, die meinen Vortrag gehört haben, gewarnt, dass ich jetzt nicht mehr zurückkönne. Ich habe erst überhaupt nicht verstanden, was sie damit meinten. Ich brauchte eine Erklärung: Die Typen vom Flughafen waren sudanesische Regierungsmitglieder! Und die mögen es nicht, wenn man schlecht über ihr Land spricht.

Die anderen haben mir noch mal klar gemacht, dass ich jetzt, nach dem, was ich gesagt habe, ein Problem kriegen werde und dass ich nicht einfach so wieder zurückfliegen kann. Es war also klar: Ich musste in Europa bleiben. Aber wo? Und wie? Das war so nicht geplant. Ich hatte mich ja gar nicht verabschiedet. Von niemandem.“

Die rechtliche Lage

Das Aufenthaltsgesetz schreibt in Paragraph 87 fest, wer Menschen melden muss, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland leben: Wer privat Kontakt zu Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung hat, ist von dieser Übermittlungspflicht befreit. Außerdem sind seit 2011 Schulen, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sowie Krankenhäuser ausgenommen. Das bedeutet, dass sie nicht dazu verpflichtet sind, Informationen über eine Person, die in Deutschland ohne Papiere lebt, an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Alle anderen öffentlichen Stellen wie Sozial- und Jugendämter, Standesämter oder Verwaltungsgerichte müssen einen in Deutschland illegal lebenden Menschen melden.

Ärzte, Krankenhäuser und auch deren Verwaltungen sind von der Übermittlungspflicht entbunden, da hier die ärztliche Schweigepflicht über dem Aufenthaltsgesetz steht. Außerdem steht die medizinische Hilfe im Vordergrund. Der Status des Patienten ist dabei egal.

Personen, die Menschen ohne Papiere medizinisch, psychologisch oder beratend unterstützen, sind seit 2007 nicht mehr strafrechtlich verfolgbar. Wer allerdings einem in Deutschland illegal lebenden Menschen eine Unterkunft stellt und somit die Illegalität unterstützt, macht sich strafbar. Inwieweit es zu diesen Bestrafungen kommt, weiß Katharina Camerer. Sie ist Rechtsanwältin in München und auf Asylrecht spezialisiert. Sie kann Einsteins sagen, ob in Deutschland überhaupt aktiv nach illegal lebenden Menschen gesucht wird:


Politische Sichtweisen

Birgit Poppert hat vor 15 Jahren das Café 104 in München ins Leben gerufen: eine Beratungsstelle für Menschen ohne Papiere. Sie fordert die Abschaffung der Übermittlungspflicht.


Phillip Anderson ist Migrationsforscher und hat 2003 die erste groß angelegte deutschsprachige Studie zum Thema Illegalität publiziert. Seiner Meinung nach erschwert vor allem der Umgang mit Fremden in Deutschland eine Verbesserung der Situation für in der Illegalität lebenden Menschen.

Aliou: ein neues Leben – aber wo?

„Ich war also in Europa und musste dort bleiben. In welchem Land ich bleiben sollte, wusste ich aber nicht. Fünf Tage hatte ich Zeit, mich zu entscheiden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das war keine leichte Entscheidung. Ich wollte dort, wo der Vortrag war, Asyl beantragen. Gleichzeitig fürchtete ich aber, dass ich direkt abgeschoben werden könnte. Meine Daten waren ja bekannt. Es wäre für die Behörden ganz leicht gewesen, herauszufinden, woher ich komme.

Die anderen haben mir geraten, in ein anderes Land zu gehen. Dort sollte das Asylverfahren schnell und einfach sein. Wenn man so weit weg ist von seiner Heimat, ist so eine Entscheidung wirklich schwierig. Auf wen hört man? Welcher Empfehlung folgt man? Es war ein ständiges Abwägen.

Die letzte Nacht war die schlimmste. Schlafen konnte ich nicht. Ich wusste: Diese Entscheidung wird die nächsten Jahre meines Lebens bestimmen.

Im Endeffekt habe ich auf die anderen gehört. Sie haben mir ein Zugticket gekauft und ich bin in den Zug gestiegen. Ohne zu wissen, was mich erwartet.

Heute frage ich mich manchmal, ob ich nicht in dem ersten Land hätte bleiben sollen. Vielleicht wäre mein Antrag dort durchgekommen. Vielleicht hätten sie mich als politisch Verfolgten anerkannt. Aber wer weiß das schon. Ich habe dann in dem anderen europäischen Land erst nach zwei Monaten einen Asylantrag gestellt, aber ohne Papiere. Ich hatte Angst, dass sie mich zurückschicken, sobald sie meinen Ausweis sehen.

Zu der Zeit gab es eine ziemlich starke Bewegung im Sudan. Ich habe eigentlich gehofft, dass sich die Situation dort wieder ändert und ich wieder zurückkann. Deshalb habe ich so lange gewartet, bis ich den Asylantrag gestellt habe. Aber es hat sich nichts geändert.

Asyl habe ich nicht bekommen. Sie glaubten mir meine Geschichte nicht oder sie wollten sie mir nicht glauben. Es ging damals vielen so. Ich bin dann untergetaucht. Ich habe in besetzten Häusern gelebt und mir mit anderen Flüchtlingen und Unterstützern mein Leben organisiert. Seit einigen Monaten bin ich in Deutschland – immer noch illegal.“


Aliou gibt nicht auf

„Schon im Sudan habe ich für die Freiheit gekämpft. Hier kämpfe ich weiter. Jeder soll das Recht haben, überall zu sein. Dafür demonstriere ich. Ich fahre durch ganz Europa und habe dabei keine Angst. Wenn ich mich der Angst ausliefern würde, würde sie mich umbringen. Genau das sage ich auch immer zu anderen: ‚Geh los! Nimm dir die Freiheit, die dir zusteht!’ Wir geflüchteten Leute müssen Teil dieser Gesellschaft werden. Über vieles müssen wir noch hinwegkommen, als Gesellschaft: Es gibt keine guten und schlechten Religionen, keine guten und schlechten Kulturen. Dieser Weg ist nicht einfach. Es ist Freude und Leid zugleich. – Hier fällt mir ganz schön oft die Decke auf den Kopf. Wie gern würde ich mein Politikstudium beenden. Und arbeiten! Aber ich darf nicht, nicht ohne Papiere.“


 

Autoren: Maren Schubart

Protokoll: Christoph Eiben, Nikolai Russ, Maren Schubart, Mirjam Uhrich

Titelbild: Nikolai Russ

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