Zypern: Der vergessene Konflikt
- von Sophia Dittmann
1974 marschierten türkische Soldaten in Zypern ein. Damals war Katie Economidou 14 Jahre alt. Heute, 45 Jahre später, hat sich wenig verändert: Die Truppen sind immer noch da, das Land ist geteilt und Katies Familie kann in ihrem eigentlichen Zuhause nicht leben.
Das geteilte Land
Von Ost nach West gibt es auf Zypern einen Streifen Land, in dem keine Menschen wohnen. Nur Soldaten der Vereinten Nationen (UN) sind in dieser Pufferzone stationiert. Wie ein Strich teilt sie das Land in zwei Teile, Nord und Süd. Im Süden leben die griechischen Zyprioten, im Norden eigentlich die türkischen Zyprioten.
Katie Economidou holt uns kurz vor der Pufferzone ab. „Das Erste, das ihr über mich wissen müsst ist: Ich bin eine ‚Crazy Lady’.“ Lächelnd dreht sie sich zu uns von ihrem Fahrersitz aus um. Katie ist 59 Jahre alt und trägt eine eckige Brille mit rosa Brillenrahmen und schwarzen Bügeln. Sie fährt mit uns über die Grenze, von Süd nach Nord. Erst müssen wir die Ausweise an der griechisch-zypriotischen Kontrolle abgeben. Kurz werden sie gescannt. Hundert Meter durchfahren wir die Pufferzone. Am Straßenrand ein paar grüne Sträucher, von Gebäuden keine Spur. Beim türkisch-zypriotischen Checkpoint wiederholt sich die Prozedur: Ausweis abgeben, überprüfen lassen, weiterfahren. Betretenes Schweigen im Auto. Wir sind im ehemaligen Kriegsgebiet. Katie fährt mit uns zu einer Kirche aus dem 14. Jahrhundert, die während der Invasion der türkischen Soldaten 1974 geplündert wurde.
Krieg im Urlaubsparadies
Zypern wurde 1960 ein unabhängiger Staat, doch ab 1963 nahmen die innenpolitischen Spannungen immer weiter zu. Die griechische Mehrheit der Bevölkerung, unterdrückte die Minderheit der türkischen ZypriotInnen. Es kam zu Massakern auf beiden Seiten. Die Konflikte erreichten ihren Höhepunkt, als am 15. Juli 1974 die damalige Regierung aus dem Amt geputscht wurde. Die Putschisten wollten, dass Zypern zu Griechenland gehört. Die Türkei entschied sich, die zypriotische Verfassung zu schützen. Deshalb landete sie Truppen an der Küste Zyperns an. Damit verteidigte die Türkei die Rechte der türkisch sprechenden ZypriotInnen und ihr Mitspracherecht auf Zypern. Katie war damals 14, heute ist sie 59. Und die Truppen sind immer noch da.
Katie fährt rasant, redet und gestikuliert viel am Steuer. Oft zieht sie an langsamer fahrenden Autos vorbei, muss wieder abbremsen und sich neu einordnen, weil sie den Gegenverkehr nicht bedacht hat. Wir sind auf dem Weg zur “Summer-Serenade” des „Kyrenia Chamber Choir “. Katie darf hier zwei Soli singen.
Das Sommerkonzert ist die erste Veranstaltung in der Kirche seit der Plünderung 1974. Sonst kommen nur Reisegruppen dorthin. Kahle Wände, beschädigte Fresken — die Spuren der Verwüstung sind immer noch zu erkennen. Vor ihrem zweiten Solo wendet sich Katie an das Publikum. „Es war schon immer ein Traum von mir, hier, an diesem besonderen Ort, singen zu dürfen.“
Katie ist griechische Zypriotin, im Süden geboren. Als Touristenführerin zeigt sie jedoch beide Teile der Insel. Wie sich herausstellt, kann Katie Deutsch. Sogar fließend und nahezu ohne Grammatikfehler. Mit 17 Jahren hat sie angefangen Deutsch zu lernen. Sie wollte unbedingt „Das Kapital“ von Karl Marx im Original lesen. Ihr Vater hielt sie für verrückt, darum musste sie zu Fuß zu ihren Deutschstunden am Goethe-Institut in Nikosia gehen. Trotzdem: Mit uns spricht sie weiter Englisch — ihr Deutsch sei zu eingerostet.
Nach dem Konzert will sie uns noch etwas vom Norden zeigen. Wir fahren zum venezianischen Hafen in Kyrinea. Zwei- bis dreistöckige alte Häuser mit hellen Fassaden stehen dicht gedrängt nebeneinander. Vor ihnen Tische, Stühle und Sonnenschirme der Restaurants. Die Segelboote liegen im Wasser, das Meer rauscht. Wir steigen zurück ins Auto und denken, wir fahren nach Nikosia. Dann sagt Katie: „Und jetzt zeige ich euch, wo die türkischen Soldaten das erste Mal an Land gegangen sind.“
„Es ist der ganzen Welt egal.“
Innerhalb weniger Momente ist nichts mehr von der Leichtigkeit übrig. Katie fängt an zu erzählen. Sie redet erregter als zuvor. „Die meisten der Leute, die im Hafen spazieren gegangen sind, sind keine türkischen Zyprioten. Das sind Festland-Türken.“ Die Festland-TürkInnen wüssten nicht, was in den Siebzigern passiert sei. „Sie denken, dass Zypern eine Provinz der Türkei ist, zu der sie kommen, um zu arbeiten oder sie zu besuchen, dort Urlaub zu machen.“ Die Festland-TürkInnen in Istanbul hätten keine Ahnung. Es sei ihnen egal. „Sie haben ihre eigenen Probleme, es interessiert niemanden. Es ist der ganzen Welt egal.“
Gelegentlich nimmt Katie ihre Hände vom Lenkrad und fuchtelt damit in der Luft herum. Es surrt, Katie lässt das Autofenster auf ihrer Seite ein paar Zentimeter runter. „Ein bisschen frische Luft für mich.“
Katie wünscht sich, man könnte die Vorurteile vergessen. Stattdessen: sich gegenseitig unterstützen, vertrauen und wie früher wieder zusammenzuleben. Als gäbe es immer noch über hundert gemischte Gemeinden aus türkischen und griechischen ZypriotInnen. Dann könnte sich mit der Zeit das Verhältnis normalisieren. „Aber das wird nicht passieren.“ Immer mehr Türkinnen und Türken vom Festland und andere Zugereiste ziehen in den Norden der Insel, kaufen Land, verdrängen die ursprünglichen BewohnerInnen. Dadurch verlieren türkische Zyprioten ihre Identität.
„All das hier ist das Land von meinem Ehemann.“
Wir rollen eine Straße hinunter, Richtung Meer. Es ist dunkel, nur die Scheinwerfer des Autos leuchten. „So, wir betreten jetzt mein Eigentum. All das hier ist das Land von meinem Ehemann.“ Das Grundstück ist riesig: ein Haus mit Garten, ein Restaurant und ein Waldstück. Aber leben kann sie mit ihrer Familie hier nicht. So geht es nicht nur Katies Familie. Viele ZypriotInnen leiden darunter.
Als Folge der Invasion der türkischen Armee hat Zypern 37 Prozent seines Staatsgebietes verloren. Diese 37 Prozent wurden zur türkischen Republik Nordzypern. Ein Jahr nach Beginn der Invasion wurden die im Norden verbliebenen GriechInnen mit den im Süden verbliebenen Türken ausgetauscht. 48 000 Menschen wanderten in den Norden und 162 000 in den Süden. Bis zum April 2003, also 28 Jahre lang, blieb die Grenze geschlossen. Viele ZypriotInnen, sowohl griechische als auch türkische, verloren damals alles. Sie mussten all ihr Hab und Gut, ihre Grundstücke, einfach so zurücklassen – ohne Chance, je wieder etwas davon ihr Eigen nennen zu können.
„Jetzt fahren wir in den Garten.“ Sie klingt erschöpft. Die Scheinwerfer des Autos strahlen einen großen Hof voll mit Kieselsteinen und ein paar kleinen Büschen vor einem großen weißen Haus an. Die Bediensteten des Restaurants wohnen jetzt hier. „Das war das Restaurant von meinem Ehemann, von seiner Familie.“ Die TürkInnen wollten ihrem Mann das Grundstück abkaufen. Doch er weigerte sich. Eine Erlaubnis, das Grundstück, das Haus oder das Restaurant seiner Familie zu nutzen, hat er nie jemandem ausgesprochen – und trotzdem betreiben Fremde sein Restaurant und wohnen in seinem Haus.
Der Tag der Invasion
Seit dem 20. Juli 1974 werden die Eltern und die Schwester von Katies Ehemann vermisst. Sie waren hier, als die türkischen Invasionstruppen landeten. Katies späterer Mann war in den Bergen, gegen die Putschisten kämpfen, „sein Land verteidigen“. Seine Mutter stellte immer eine weiße Kerze in ein Fenster, falls etwas nicht in Ordnung war. Deswegen kam er am 20. Juli, dem Tag der Invasion, mit seinem Auto die Berge runter zu seinem Elternhaus – er hatte die Kerze erspäht. Er konnte schon die türkischen Schiffe Richtung Strand fahren sehen. Katie erzählt: „Aber im Restaurant war niemand. Im Haus auch nicht. Dann hörte er, wie die Schiffe begannen, die Küste zu beschießen.“ Seit der Invasion werden 1 619 Personen vermisst.
Wir fahren aus dem Hof und halten 40 Meter von Katies Haus entfernt auf dem Nachbargrundstück „Das hier vorne ist das türkische Monument zu Ehren der türkischen Invasionstruppen. Das ist der Ort, an dem die türkischen Truppen angelandet sind. In dieser Bucht hier.“ Sie bewegt sich nicht, ist tief in ihren Sitz gesunken: „Es ist einfach genau hier passiert…“, ihre Hände umklammern immer noch das Lenkrad. Das Auto steht direkt vor dem Monument, das zwischen den Bäumen hervorragt. Ein Dutzend weißer, langer Metallplatten ragen schräg in den Himmel. Darüber thront im Nachthimmel ein Halbmond. Zusammen mit der Straßenbeleuchtung lässt das die weißen Stahlplatten rötlich schimmern.
„Ich hatte viel Hass in mir.“
Wir wenden und fahren auf die Hauptstraße, zurück in Richtung Hafen. Katie ist immer noch ruhig, keine „Crazy-Lady“ mehr wie am Nachmittag. Sie öffnet ihr Fenster um ein paar Zentimeter. Die Meeresluft wärmt, nach der Kälte der letzten Minuten. „Ich hatte viel Hass in mir. Ich musste viel an mir arbeiten um ihn loszuwerden. Ich wollte meine Kinder einfach nicht mit Hass aufwachsen lassen.“ Auch wenn sie nicht daran glaubt, dass der Zypern-Konflikt je gelöst wird, hofft sie weiter. Sie fühlt sich gesegnet, auf Zypern geboren worden zu sein — obwohl die Menschen hier so viel ertragen mussten.