Im Chaos vereint

Der 9. Novem­ber 1989: Von einem auf den ande­ren Tag war es Bür­ger­Innen aus der DDR mög­lich, über die Gren­ze in den Wes­ten zu gelan­gen. Fünf Zeit­zeug­Innen erin­nern sich an jenes Wochen­en­de, das in die deut­sche Geschich­te einging.


von Steffen Grütjen, Simon Müller und Fabian Schell

Her­les­hau­sen in Hes­sen war einer der ers­ten Anlauf­punk­te für Men­schen aus dem Osten. Tau­sen­de aus der Regi­on Eisen­ach ström­ten nach der Grenz­öff­nung in das klei­ne Dorf. Eine außer­ge­wöhn­li­che Situa­ti­on, die alle Betei­lig­ten auf ihre ganz eige­ne Art und Wei­se erleb­ten. Egal ob man aus dem Wes­ten, aus Her­les­hau­sen, kam — oder von der ande­ren Sei­te der Wer­ra, dem öst­li­chen Nach­bar­dorf Lauch­rö­den. Hel­ga Gog­ler, Hel­mut Schmidt, Wil­helm-Ernst Kühn, Sabi­ne Gör­lach und Achim Wilutz­ky waren haut­nah dabei, als die Gren­ze zwi­schen West und Ost nach Jahr­zehn­ten der Tei­lung geöff­net wurde. 

„War­um seid ihr so freund­lich zu uns?“

© Archiv Gemein­de Herleshausen

Es kamen Tau­sen­de aus klei­nen Dör­fern wie Lauch­rö­den, aus dem Osten nach Her­les­hau­sen. Hel­ga Gog­ler war damals 37 Jah­re alt. Eine von zehn Frei­wil­li­gen beim Roten Kreuz, die an die­sem Wochen­en­de die Men­schen aus dem Osten ver­sorgt haben. Die Vie­len, die gekom­men waren, war­te­ten auf den Stra­ßen und Geh­we­gen, haben gefro­ren. Bit­ter­lich am gan­zen Kör­per. „Es war arsch­kalt“, sagt sie. Hel­ga Gog­ler — graue Haa­re, dun­kel­blau­es Sei­den­jäck­chen, leich­te Schram­me an der Nasen­spit­ze — sitzt auf einem braun gepols­ter­ten Stuhl in einem Her­le­shäu­ser Café. Das Wochen­en­de der Wen­de, es ist ihr noch gut in Erin­ne­rung, weil es so emo­tio­nal war. 

Gog­ler hat denen Hil­fe ange­bo­ten, die es drin­gend brauch­ten: Fami­li­en, Jugend­li­chen, klei­nen Kin­dern. Sie waren alle­samt in den Wes­ten gekom­men — die meis­ten zum aller­ers­ten Mal in ihrem Leben. Gog­ler hat an die­sem Wochen­en­de kaum geschla­fen. Sie hat statt­des­sen gehol­fen, „liter­wei­se Brü­he gekocht“. Vor­be­rei­ten konn­ten sich Gog­ler und die ande­ren Frei­wil­li­gen nicht, es muss­te schnell gehen. Immer mehr Men­schen fan­den sich in Her­les­hau­sen ein. „Chao­tisch, aber glück­lich. Da wird spon­tan reagiert und gemacht.“ Tage­lang lief Gog­ler durch Her­les­hau­sen. Mar­ken­zei­chen: die dicke, rote Jacke vom Roten Kreuz. 

Im Zeit­zeu­gen­in­ter­view erzählt Hel­ga Gog­ler unter ande­rem von der Geschich­te eines Flücht­lings unter­halb der Lauch­rö­der Brandenburg.

Hände wärmen — an ofenwarmen Brötchen

Hel­ga Gog­ler nahm sich Zeit für die Men­schen, hör­te ihnen zu. „Wenn ich zwei, drei Näch­te kein Bett brau­che, dann kann man sich vor­stel­len, wie ich vol­ler Adre­na­lin war.“ Sie war ein­fach da. So wie in dem Moment, als ein Mann auf sie zukam. „Blei­ben Sie bit­te mal ste­hen“, sprach er zu ihr. „Er ist mir um den Hals gefal­len und fing an zu heu­len. Nach einer Wei­le schüt­telt er sich, guckt mich an und sagt unter Trä­nen zu mir: ‚Dan­ke, das war nötig!‘“ Der Mann war über­wäl­tigt, Hel­ga Gog­ler auch. „Ich wuss­te nicht wohin mit mei­ner Freude.“ 

Ihre Erleb­nis­se, von denen sie da spricht, sind bewe­gend. „Wir haben aus der Back­stu­be die Bröt­chen aus dem Ofen geholt und den Kin­dern in die Hand gedrückt, dass sie sich eini­ger­ma­ßen die Hän­de wär­men konn­ten.“ Hel­ga Gog­ler hat ger­ne gehol­fen — das ist ihr fast 30 Jah­re danach wich­tig zu beto­nen. „Wenn ich heu­te davon erzäh­le, krie­ge ich noch immer eine Gänsehaut.“ 

Zwischen Feindbild und Nächstenliebe

Gog­ler kann nicht ver­ste­hen, war­um vie­le Erwach­se­ne aus der DDR über die Hil­fe, die die Bür­ger­Innen von Her­les­hau­sen ange­bo­ten haben, ver­wun­dert waren. „War­um seid ihr so freund­lich zu uns?“, frag­ten eini­ge. „Ich weiß nicht, was man vor­her für ein Feind­bild von uns gemalt hat“, sagt Gog­ler. „Es war für die ganz schwer nach­voll­zieh­bar, dass wir das wirk­lich aus rei­ner Nächs­ten­lie­be gemacht haben.“ 

Begrü­ßungs­geld aus der Aldi-Tüte

© Archiv Gemein­de Herleshausen

Weißt du, was mor­gen auf uns zukommt?“, frag­te Hel­mut Schmidt sei­nen Chef, den dama­li­gen Bür­ger­meis­ter von Her­les­hau­sen. Das war vor 30 Jah­ren. An dem Abend, der alles ver­än­dern soll­te. Der Abend des Mau­er­falls. Der inzwi­schen 69-Jäh­ri­ge sitzt auf einem bei­gen Ses­sel in sei­nem Wohn­zim­mer. Er trägt ein karier­tes Hemd und dar­über eine graue Wes­te. Schmidt war 18 Jah­re lang Bür­ger­meis­ter von Her­les­hau­sen, seit 2012 ist er im Ruhe­stand. Zur Zeit der Wen­de war Schmidt büro­lei­ten­der Beam­ter der Gemein­de­ver­wal­tung. Er erin­nert sich: „Am nächs­ten Mor­gen bin ich um kurz nach sie­ben Uhr zum Amt gegan­gen, da war der gan­ze Vor­platz vor dem Bür­ger­meis­ter­amt schon vol­ler Leu­te.“ Die Men­schen waren unmit­tel­bar nach ihrer Nacht­schicht und noch in Arbeits­klei­dung aus dem Osten in den Wes­ten gekommen. 

Im Zeit­zeu­gen­in­ter­view erzählt Wil­helm-Ernst Kühn davon, wel­che Bedeu­tung das Büro­fens­ter der Gemein­de­ver­wal­tung für ihn hat.

Ähn­lich erging es Wil­helm-Ernst Kühn an die­sem Mor­gen: Als er zur Arbeit kam, sah er auf dem Park­platz der Gemein­de­ver­wal­tung einen Tra­bi. „Dann kam auch schon einer nach dem ande­ren vor­ge­fah­ren“, erin­nert sich Kühn. Der 60-Jäh­ri­ge war damals stell­ver­tre­ten­der Kas­sen­lei­ter in Her­les­hau­sen. Ein klei­ner Mann mit grau melier­ten Haa­ren. Er war unter ande­rem für die Aus­zah­lung des Begrü­ßungs­gelds in Höhe von 100 D‑Mark ver­ant­wort­lich, wel­ches die Bun­des­re­pu­blik an jeden DDR-Bür­ger aus­ge­ge­ben hat, der in die BRD ein­ge­reist ist. Und so kamen an die­sem Tag immer mehr Men­schen ins Bür­ger­meis­ter­amt. Was bald zu einem ech­ten Pro­blem wurde. 

Durch das Fenster an die Grenze

Die Gemein­de­ver­wal­tung glich schnell einem Schlacht­feld. „Die Schlan­ge stand bis raus auf die Stra­ße“, erzählt Kühn. „Es waren mit Sicher­heit inner­halb der ers­ten zwei, drei Stun­den schon an die tau­send Leu­te, die hier in Herles­hausen ein­ge­fal­len sind.“ Da so vie­le Men­schen nicht auf ein­mal ver­sorgt wer­den konn­ten, muss­te impro­vi­siert wer­den. Kühn soll­te an die Gren­ze fah­ren und dort das Begrü­ßungs­geld direkt aus­zah­len. Dafür pack­te er 10 000 D‑Mark in eine Tasche und woll­te zu sei­nem Auto gehen. „Aber das ging nicht, weil so vie­le Men­schen da waren, dass ich dann durch ein Fens­ter raus­ge­klet­tert bin.“ Eine Anek­do­te, die man sich in Her­les­hau­sen noch heu­te erzählt. Da auf den Stra­ßen so viel los war, dau­er­te die Fahrt zur Gren­ze über 20 Minu­ten — nor­ma­ler­wei­se waren es fünf. 

An der Gren­ze ange­kom­men wur­de Kühn sofort klar, dass er die rie­si­ge Men­schen­men­ge nicht abar­bei­ten konn­te. So muss­te die Aus­zah­lung in Her­les­hau­sen selbst orga­ni­siert wer­den. In der Mehr­zweck­hal­le wur­de kur­zer­hand eine pro­vi­so­ri­sche Aus­zah­lungs­stel­le errich­tet. „Wir haben damals gegen sämt­li­che Kas­sen­re­geln ver­sto­ßen“, gibt Kühn heu­te zu. Das Geld lag in offe­nen Geld­kas­set­ten her­um oder stand ein­fach so an der Wand. „Nor­ma­ler­wei­se hät­te das in einen Tre­sor gehört“, erin­nert er sich. 

Mit dem Bus in den Westen

Im Zeit­zeu­gen­in­ter­view erzählt Hel­mut Schmidt von dem Ver­spre­chen, dass sich die Ein­woh­ne­rIn­nen von Her­les­hau­sen und Lauch­rö­den gege­ben haben.

Hel­mut Schmidt muss­te der­weil orga­ni­sie­ren, wie die vie­len Leu­te aus dem Osten auch ohne Auto über die Gren­ze nach Her­les­hau­sen kom­men konn­ten. Er regel­te mit den Behör­den der DDR, dass Bus­se, die eigent­lich an der Gren­ze hal­ten muss­ten, bis in den Wes­ten und wie­der zurück­fah­ren durf­ten. „Fahr­plä­ne wur­den da nicht mehr ein­ge­hal­ten“, berich­tet er. Die Bus­se aus Eisen­ach waren rand­voll. Der Andrang war so groß, dass sie zum Teil gar nicht mehr an den Bus­hal­te­stel­len hal­ten konn­ten. „Dann stie­gen die Leu­te eben ein­fach mit­ten auf der Stra­ße aus.“ 

Bald war das Geld in Her­les­hau­sen auf­ge­braucht und so muss­ten die Ban­ken neu­es besor­gen. Mit Pan­zer­wa­gen und Poli­zei­schutz wur­den Geld­kof­fer in den Ort gebracht, die dann in den Tre­so­ren der Ban­ken ein­ge­la­gert wur­den. Doch wie soll­te das Geld nun zur Aus­zah­lungs­stel­le für das Begrü­ßungs­geld gelan­gen? Hier kam Wil­helm-Ernst Kühn ins Spiel: Er ging mit einer Aldi-Tüte in eine der Ban­ken und hol­te dort 700 000 D‑Mark ab. Anschlie­ßend lief er mit dem Geld in der Tüte durch die Men­schen­men­gen hin­durch zurück zur Aus­zah­lungs­stel­le. Eigent­lich unvor­stell­bar, doch für Kühn war es in die­sem Moment das Nor­mals­te der Welt: „Das ist gar nicht auf­ge­fal­len, weil jeder DDR-Bür­ger eine Ein­kaufs­tü­te in der Hand hat­te.“ Das Trans­port­ma­nö­ver glück­te und so konn­te dank Kühn wie­der Begrü­ßungs­geld an die Besu­che­rIn­nen aus dem Osten gezahlt werden. 

Keine Zeit für Pausen

An den ers­ten zwei Tagen nach der Grenz­öff­nung ist Wil­helm-Ernst Kühn kaum nach Hau­se gekom­men. Wenn er doch ein­mal kurz in sei­ne Woh­nung kam, dann aß er eine Klei­nig­keit, dusch­te kurz und ging direkt wie­der. Schließ­lich muss­te er sich um die Aus­zah­lung des Begrü­ßungs­gel­des in der Mehr­zweck­hal­le küm­mern. Die Hal­le wur­de aber nicht nur als Aus­zah­lungs­stel­le benutzt, son­dern fun­gier­te in den ers­ten bei­den Näch­ten auch als Not­la­ger für Men­schen, die nicht mehr nach Hau­se kamen. Dafür wur­den unzäh­li­ge Sport­mat­ten in Rei­hen aus­ge­legt. „Die waren so kaputt, dass sie da ein­fach hin­ge­fal­len und ein­ge­schla­fen sind“, erin­nert sich Kühn. 

Nicht nur die Ange­stell­ten der Ver­wal­tung waren damals im Dau­er­ein­satz, das gan­ze Dorf pack­te mit an. Zahl­rei­che ehren­amt­li­che Kräf­te aus dem Ort hal­fen mit, unter ande­rem die Land­frau­en, das Rote Kreuz, die Feu­er­wehr und sogar ver­schie­de­ne Sport­ver­ei­ne. „Alle haben gesagt, hier wer­de ich gebraucht und hier wer­de ich auch mit dabei sein“, erzählt Hel­mut Schmidt. 

Wil­helm-Ernst Kühn blieb hin­ge­gen eine ande­re Sache beson­ders in Erin­ne­rung: die musi­ka­li­sche Unter­ma­lung. „Am ers­ten oder zwei­ten Tag der Grenz­öff­nung war auf ein­mal Blas­mu­sik drau­ßen vor der Hal­le.“ Eine Blas­ka­pel­le aus der Nähe von Eisen­ach war nach Her­les­hau­sen gekom­men und tat sich spon­tan mit den Ein­hei­mi­schen zusam­men. Auf dem Dorf­platz mach­ten sie gemein­sam Musik, als Zei­chen der Annäherung. 

Ein denkwürdiges Wochenende

Allein am ers­ten Wochen­en­de hat man in Her­les­hau­sen ins­ge­samt 2,8 Mil­lio­nen D‑Mark Begrü­ßungs­geld aus­ge­zahlt, was 28 000 Anträ­gen ent­spricht. Bis Ende des Jah­res stieg die Zahl auf über 7 Mil­lio­nen D‑Mark. Ver­mut­lich sind also in die­sem Zeit­raum gut 70 000 Leu­te in dem klei­nen Ort gewe­sen. „Es war ein chao­ti­sches, aber auch ein glück­li­ches Wochen­en­de“, wie es Hel­mut Schmidt zusammenfasst. 

Vom Osten in die Freiheit

© M. Heide

In Lauch­rö­den erlebt Sabi­ne Gör­lach die Grenz­öff­nung auf der ande­ren Sei­te der Wer­ra, im Osten. „Die­ses Wochen­en­de war das größ­te Erleb­nis mei­nes Lebens“, sagt Gör­lach, wenn sie an jene kal­ten Novem­ber­ta­ge 1989 zurück­denkt. Sie fällt auf, ist groß, blond und trägt eine schwar­ze Leder­ja­cke. Gör­lach ist eine von vie­len DDR-Bür­ger­Innen, für die die­ses Wochen­en­de zur Erlö­sung wur­de. Bis dahin: Gefan­gen in ihrem Staat. Gefan­gen im Sys­tem. Gefan­gen in Lauch­rö­den. Im Mül­lers­haus an der alten Müh­le gebo­ren und auf­ge­wach­sen, hat­te Gör­lach ihr Leben lang die Frei­heit vor der Haus­tür und konn­te sie trotz­dem nie erfah­ren. Bis zum 9. Novem­ber 1989, als die Gren­ze zum nur einen Kilo­me­ter ent­fern­ten Nach­bar­ort Her­les­hau­sen end­lich offen war. 

Sabi­ne Gör­lach, damals 32 Jah­re alt, erfuhr erst am Mor­gen danach über das Radio von der Grenz­öff­nung. Rie­si­ge Freu­de mach­te sich breit. Trä­nen flos­sen. Doch wäh­rend ande­re schon nach Her­les­hau­sen auf­ge­bro­chen waren, fuhr sie zunächst zur Arbeit ins Büro nach Eisen­ach, wo sie als Bau­in­ge­nieu­rin arbei­te­te. Sabi­ne Gör­lach berat­schlag­te sich mit ihren Kol­le­gIn­nen. Sind wir jetzt freie Men­schen? Kön­nen wir ein­fach so in den Wes­ten? Was erwar­tet uns dort? Von ihrem Büro aus beob­ach­te­te sie die Auto­bahn­stre­cke nach Her­les­hau­sen. „Da war alles dicht“. Gör­lach beschloss, einen Tag spä­ter selbst in die Frei­heit zu fahren. 

Im Zeit­zeu­gen­in­ter­view erzählt Sabi­ne Gör­lach , wie sie in der DDR ein­ge­sperrt war und was nach der „Befrei­ung“ kam.

Die erste Knackwurst aus dem Westen

Dann war es soweit. Ab in den Wes­ten. Unglaub­lich, unfass­bar, aber eben nicht mehr unmög­lich für Sabi­ne Gör­lach. „Mein Ziel war nur die ande­re Sei­te des Flus­ses.“ Heu­te steht wie­der eine Fuß­gän­ger­brü­cke zwi­schen Her­les­hau­sen und Lauch­rö­den. Damals, 1989, war es eine Wer­ra ohne Brü­cke, die bei­de Dör­fer trenn­te. Gör­lach fuhr mit ihrem Auto zunächst über die Auto­bahn von Eisen­ach in Rich­tung Her­les­hau­sen. Auf der West-Sei­te ange­kom­men, ver­ließ sie die Auto­bahn und fuhr über die klei­nen Dör­fer bis nach Her­les­hau­sen. „Ich wuss­te gar nicht wo ich bin, kann­te mich über­haupt nicht aus, obwohl es ja eigent­lich mei­ne Nach­bar­schaft war“, sagt sie. Und dann stand sie da, auf der ande­ren Sei­te des Flus­ses. Ange­kom­men am Ziel ihrer Träu­me. „Es war ein so schö­ner Moment, ich wuss­te gar nicht wohin mit mir. End­lich war ich auf die­ser Sei­te der Wer­ra.“ Nach eini­gen Minu­ten purer Freu­de ging sie die noch weni­gen hun­dert Meter nach Herleshausen. 

Men­schen über Men­schen, da waren ein­fach über­all Men­schen.“ So beschreibt sie die Situa­ti­on in Her­les­hau­sen. „Die haben sich gefreut, geweint, gelacht. Unbe­schreib­lich.“ Die Bil­der von damals haben sich für immer in Sabi­ne Gör­lachs Gedächt­nis ein­ge­brannt. Nach­dem sie das Begrü­ßungs­geld im völ­lig über­füll­ten Gemein­de­haus in Her­les­hau­sen abge­holt hat­te, „habe ich mich erst­mal zu mei­nen Ver­wand­ten geret­tet“. Die Flei­sche­rei Schramm in Her­les­hau­sen. Dass ihr Onkel Metz­ger war und mit sei­ner Fami­lie dort wohn­te, wuss­te sie zwar von ihrem Vater, aber Sabi­ne Gör­lach hat­te die Schramms noch nie gese­hen. Sie lagen sich in den Armen. Konn­ten es alles noch nicht fas­sen. Und wäh­rend die Men­schen­mas­sen wei­ter­hin durch Her­les­hau­sen zogen, biss Gör­lach bei ihrem Onkel in die ers­te west­deut­sche Knack­wurst. „Die war so gut, das bleibt ein­fach in Erinnerung.“ 

Danke Herleshausen

Sofort brei­te­te sich gro­ße Dank­bar­keit aus. „Was die Her­le­shäu­ser orga­ni­siert haben, gera­de mit dem Begrü­ßungs­geld und wie sie uns ver­pflegt haben mit Essen und Trin­ken, das war schon über­wäl­ti­gend“, sagt Sabi­ne Gör­lach. Auch vie­le Gemein­sam­kei­ten wur­den schnell ent­deckt. Der ähn­li­che Dia­lekt, die­sel­ben Hob­bys, das gemein­sa­me Wer­ra­tal. „Wir leb­ten in ande­ren Wel­ten, in ande­ren Län­dern und waren doch so gleich.“ 

Wenn die Grenz­öff­nung zu früh kommt

© Achim Wilutzky

Achim Wilutz­ky bestellt ein Nacken­steak mit einer gro­ßen Por­ti­on Schmor­zwie­beln. Dazu ein Pils. Mit sei­ner schwar­zen Trai­nings­ja­cke, dar­un­ter ein knall­ro­tes T‑Shirt, sitzt er in einer uri­gen Wirt­schaft in Her­les­hau­sen und erin­nert sich an den 9. Novem­ber 1989. Er war zufäl­lig in Kas­sel, als er im Auto die Mel­dun­gen aus Ber­lin hör­te. Von Gün­ter Schab­ow­skis legen­dä­rer Rede auf der SED-Pres­se­kon­fe­renz, von einer Aus­rei­se, die anschei­nend in der DDR mög­lich war. „Das tritt nach mei­ner Kennt­nis… ist das sofort, unver­züg­lich“, sprach der Regie­rungs­spre­cher sei­ner­zeit in die Kame­ras. „Wir sind gleich am Abend an der Gren­ze vor­bei­ge­fah­ren. Nichts auf­fäl­lig“, sagt Wilutz­ky heu­te. Er fuhr mit sei­ner Fami­lie nach Hau­se, nach Her­les­hau­sen, und leg­te sich schlafen. 

Im Zeit­zeu­gen­in­ter­view erzählt Achim Wilutz­ky von der Neu­aus­rich­tung Her­le­shau­sens nach der Wende.

Der Mor­gen danach. Er saß am Früh­stücks­tisch, hör­te Radio, „als die Freu­den­snach­rich­ten aus Ber­lin kamen. Das ging mir schon nahe. Ich habe den Feh­ler gemacht und die gan­ze Situa­ti­on falsch ein­ge­schätzt“. Denn Achim Wilutz­ky ist zur Arbeit gefah­ren, kam erst nach­mit­tags wie­der. „Das Dorf sah dann schon ganz anders aus. Es war kaum ein Park­platz zu fin­den, über­all stan­den Tra­bis und knat­ter­ten durch die Gegend“, sagt er heu­te, „ein herr­li­ches, schö­nes Chaos“. 

Auf einmal standen zwei Trabis vor der Tür

Sofort schnapp­te er sich sei­nen Foto­ap­pa­rat und schoss Fotos im gan­zen Ort. Von den Men­schen, die sich im Dorf ver­sam­mel­ten, die vor dem Gemein­de­zen­trum aus­harr­ten und auf ihr Begrü­ßungs­geld war­te­ten. „Man hat es immer noch nicht ganz ein­schät­zen kön­nen.“ Also ging er ins Haus, mach­te das, „was an dem Tag anstand: Reno­vie­ren“. Wilutz­ky, damals 27 Jah­re alt, hör­te auf ein­mal Geräu­sche von drau­ßen. Hupen. Er schau­te aus dem Fens­ter, sah, dass plötz­lich zwei Tra­bis aus Lauch­rö­den vor der Tür stan­den. Eine ent­fern­te Ver­wand­te mit ihren Söh­nen und der Fami­lie. „An dem Wochen­en­de kamen immer mehr Ver­wand­te“, sagt er und strahlt kurz.Im Ort über­schlu­gen sich die Ereig­nis­se wäh­rend­des­sen. „Die Geschäf­te wur­den im Grun­de leer­ge­kauft“, sagt Wilutz­ky. „Und die gro­ßen Super­markt­ket­ten hat­ten ihre Last­wa­gen hier­her­ge­schickt, um neue Oran­gen zu bringen.“ 

50 Pfennig Ost, 50 Pfennig West

Für den Sams­tag hat­ten Kir­mes­ge­sell­schaft und Dorf­ju­gend ein Fest in Her­les­hau­sen geplant. Ein Fest für die Bür­ger­Innen von Her­les­hau­sen und Lauch­rö­den. Gemein­sam, nach der lan­gen Zeit der Tren­nung. Achim Wilutz­ky orga­ni­sier­te den Geträn­ke­ver­kauf auf dem Vor­platz „Am Anger“. Von der letz­ten Kir­mes gab es einen Über­schuss an Bier. „Ver­schen­ken ist auch blöd. Lasst uns doch 50 Pfen­nig Ost neh­men“, sagt Wilutz­ky. „Alle West­ler, die etwas trin­ken woll­ten, soll­ten eins zu eins mit den DDR-Bür­gern tau­schen. Damit der West­ler sein Getränk für 50 Pfen­nig Ost gekriegt hat, hat er dem DDR-Mann 50 Pfen­nig West gege­ben.“ Ein unglei­cher Tausch, bei dem die Dör­fer wie­der auf­ein­an­der zugingen. 

© Archiv Gemein­de Herleshausen

Sonn­tag­früh stand Fuß­ball im Ort an, ein Heim­spiel. „Für den Geg­ner war es schwer nach Her­les­hau­sen zu kom­men, so ver­stopft waren die Stra­ßen“, sagt Wilutz­ky über den Sonn­tag. Er hat­te ein Spiel gegen die Nach­barn aus Son­tra, 20 Kilo­me­ter von Her­les­hau­sen ent­fernt. „Ich woll­te alles an dem Tag, nur kein Fuß­ball­spie­len. Aber wir waren knapp an Leu­ten.“ Wilutz­ky muss­te ran, „ich war über­haupt nicht bei der Sache“, gibt er zu. Hol­te sich zwi­schen­zeit­lich sogar eine Ansa­ge von einem Mit­spie­ler ab, er sol­le sich doch auf das Spiel konzentrieren. 

Achim Überall

Nach der Par­tie ging es für ihn direkt wie­der mit der Kame­ra raus auf die Stra­ßen — Wilutz­kys Spitz­na­me „Achim Über­all“ wird gebo­ren. Wie­der schoss er Schnapp­schüs­se in ganz Her­les­hau­sen. Von Sze­nen, wie sich Men­schen in den Armen lie­gen. „Dass das Wer­ra­tal nicht mehr geteilt ist, die­ser schlim­me Grenz­zaun ver­schwun­den ist — das steht über allem.“ Er hat doku­men­tiert, wie die Dör­fer wie­der zuein­an­der gefun­den haben. „Für mich kam die Grenz­öff­nung eigent­lich ein biss­chen zu früh, weil ich mir gera­de in den Jah­ren vor­ge­nom­men hat­te, viel in Eisen­ach zu foto­gra­fie­ren. Das Visum war bean­tragt“, sagt Wilutz­ky ganz neben­bei. Die Fotos waren nun nichts Beson­de­res mehr. Weni­ge Wochen spä­ter brauch­te er kei­ne Geneh­mi­gung mehr — die inner­deut­sche Gren­ze soll­te end­gül­tig der Geschich­te angehören. 


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