Im Chaos vereint
- von Alexandra Rank
Der 9. November 1989: Von einem auf den anderen Tag war es BürgerInnen aus der DDR möglich, über die Grenze in den Westen zu gelangen. Fünf ZeitzeugInnen erinnern sich an jenes Wochenende, das in die deutsche Geschichte einging.
Herleshausen in Hessen war einer der ersten Anlaufpunkte für Menschen aus dem Osten. Tausende aus der Region Eisenach strömten nach der Grenzöffnung in das kleine Dorf. Eine außergewöhnliche Situation, die alle Beteiligten auf ihre ganz eigene Art und Weise erlebten. Egal ob man aus dem Westen, aus Herleshausen, kam — oder von der anderen Seite der Werra, dem östlichen Nachbardorf Lauchröden. Helga Gogler, Helmut Schmidt, Wilhelm-Ernst Kühn, Sabine Görlach und Achim Wilutzky waren hautnah dabei, als die Grenze zwischen West und Ost nach Jahrzehnten der Teilung geöffnet wurde.
„Warum seid ihr so freundlich zu uns?“
© Archiv Gemeinde Herleshausen
Es kamen Tausende aus kleinen Dörfern wie Lauchröden, aus dem Osten nach Herleshausen. Helga Gogler war damals 37 Jahre alt. Eine von zehn Freiwilligen beim Roten Kreuz, die an diesem Wochenende die Menschen aus dem Osten versorgt haben. Die Vielen, die gekommen waren, warteten auf den Straßen und Gehwegen, haben gefroren. Bitterlich am ganzen Körper. „Es war arschkalt“, sagt sie. Helga Gogler — graue Haare, dunkelblaues Seidenjäckchen, leichte Schramme an der Nasenspitze — sitzt auf einem braun gepolsterten Stuhl in einem Herleshäuser Café. Das Wochenende der Wende, es ist ihr noch gut in Erinnerung, weil es so emotional war.
Gogler hat denen Hilfe angeboten, die es dringend brauchten: Familien, Jugendlichen, kleinen Kindern. Sie waren allesamt in den Westen gekommen — die meisten zum allerersten Mal in ihrem Leben. Gogler hat an diesem Wochenende kaum geschlafen. Sie hat stattdessen geholfen, „literweise Brühe gekocht“. Vorbereiten konnten sich Gogler und die anderen Freiwilligen nicht, es musste schnell gehen. Immer mehr Menschen fanden sich in Herleshausen ein. „Chaotisch, aber glücklich. Da wird spontan reagiert und gemacht.“ Tagelang lief Gogler durch Herleshausen. Markenzeichen: die dicke, rote Jacke vom Roten Kreuz.
Helga Gogler nahm sich Zeit für die Menschen, hörte ihnen zu. „Wenn ich zwei, drei Nächte kein Bett brauche, dann kann man sich vorstellen, wie ich voller Adrenalin war.“ Sie war einfach da. So wie in dem Moment, als ein Mann auf sie zukam. „Bleiben Sie bitte mal stehen“, sprach er zu ihr. „Er ist mir um den Hals gefallen und fing an zu heulen. Nach einer Weile schüttelt er sich, guckt mich an und sagt unter Tränen zu mir: ‚Danke, das war nötig!‘“ Der Mann war überwältigt, Helga Gogler auch. „Ich wusste nicht wohin mit meiner Freude.“
Ihre Erlebnisse, von denen sie da spricht, sind bewegend. „Wir haben aus der Backstube die Brötchen aus dem Ofen geholt und den Kindern in die Hand gedrückt, dass sie sich einigermaßen die Hände wärmen konnten.“ Helga Gogler hat gerne geholfen — das ist ihr fast 30 Jahre danach wichtig zu betonen. „Wenn ich heute davon erzähle, kriege ich noch immer eine Gänsehaut.“
Gogler kann nicht verstehen, warum viele Erwachsene aus der DDR über die Hilfe, die die BürgerInnen von Herleshausen angeboten haben, verwundert waren. „Warum seid ihr so freundlich zu uns?“, fragten einige. „Ich weiß nicht, was man vorher für ein Feindbild von uns gemalt hat“, sagt Gogler. „Es war für die ganz schwer nachvollziehbar, dass wir das wirklich aus reiner Nächstenliebe gemacht haben.“
Begrüßungsgeld aus der Aldi-Tüte
© Archiv Gemeinde Herleshausen
„Weißt du, was morgen auf uns zukommt?“, fragte Helmut Schmidt seinen Chef, den damaligen Bürgermeister von Herleshausen. Das war vor 30 Jahren. An dem Abend, der alles verändern sollte. Der Abend des Mauerfalls. Der inzwischen 69-Jährige sitzt auf einem beigen Sessel in seinem Wohnzimmer. Er trägt ein kariertes Hemd und darüber eine graue Weste. Schmidt war 18 Jahre lang Bürgermeister von Herleshausen, seit 2012 ist er im Ruhestand. Zur Zeit der Wende war Schmidt büroleitender Beamter der Gemeindeverwaltung. Er erinnert sich: „Am nächsten Morgen bin ich um kurz nach sieben Uhr zum Amt gegangen, da war der ganze Vorplatz vor dem Bürgermeisteramt schon voller Leute.“ Die Menschen waren unmittelbar nach ihrer Nachtschicht und noch in Arbeitskleidung aus dem Osten in den Westen gekommen.
Ähnlich erging es Wilhelm-Ernst Kühn an diesem Morgen: Als er zur Arbeit kam, sah er auf dem Parkplatz der Gemeindeverwaltung einen Trabi. „Dann kam auch schon einer nach dem anderen vorgefahren“, erinnert sich Kühn. Der 60-Jährige war damals stellvertretender Kassenleiter in Herleshausen. Ein kleiner Mann mit grau melierten Haaren. Er war unter anderem für die Auszahlung des Begrüßungsgelds in Höhe von 100 D‑Mark verantwortlich, welches die Bundesrepublik an jeden DDR-Bürger ausgegeben hat, der in die BRD eingereist ist. Und so kamen an diesem Tag immer mehr Menschen ins Bürgermeisteramt. Was bald zu einem echten Problem wurde.
Die Gemeindeverwaltung glich schnell einem Schlachtfeld. „Die Schlange stand bis raus auf die Straße“, erzählt Kühn. „Es waren mit Sicherheit innerhalb der ersten zwei, drei Stunden schon an die tausend Leute, die hier in Herleshausen eingefallen sind.“ Da so viele Menschen nicht auf einmal versorgt werden konnten, musste improvisiert werden. Kühn sollte an die Grenze fahren und dort das Begrüßungsgeld direkt auszahlen. Dafür packte er 10 000 D‑Mark in eine Tasche und wollte zu seinem Auto gehen. „Aber das ging nicht, weil so viele Menschen da waren, dass ich dann durch ein Fenster rausgeklettert bin.“ Eine Anekdote, die man sich in Herleshausen noch heute erzählt. Da auf den Straßen so viel los war, dauerte die Fahrt zur Grenze über 20 Minuten — normalerweise waren es fünf.
An der Grenze angekommen wurde Kühn sofort klar, dass er die riesige Menschenmenge nicht abarbeiten konnte. So musste die Auszahlung in Herleshausen selbst organisiert werden. In der Mehrzweckhalle wurde kurzerhand eine provisorische Auszahlungsstelle errichtet. „Wir haben damals gegen sämtliche Kassenregeln verstoßen“, gibt Kühn heute zu. Das Geld lag in offenen Geldkassetten herum oder stand einfach so an der Wand. „Normalerweise hätte das in einen Tresor gehört“, erinnert er sich.
Helmut Schmidt musste derweil organisieren, wie die vielen Leute aus dem Osten auch ohne Auto über die Grenze nach Herleshausen kommen konnten. Er regelte mit den Behörden der DDR, dass Busse, die eigentlich an der Grenze halten mussten, bis in den Westen und wieder zurückfahren durften. „Fahrpläne wurden da nicht mehr eingehalten“, berichtet er. Die Busse aus Eisenach waren randvoll. Der Andrang war so groß, dass sie zum Teil gar nicht mehr an den Bushaltestellen halten konnten. „Dann stiegen die Leute eben einfach mitten auf der Straße aus.“
Bald war das Geld in Herleshausen aufgebraucht und so mussten die Banken neues besorgen. Mit Panzerwagen und Polizeischutz wurden Geldkoffer in den Ort gebracht, die dann in den Tresoren der Banken eingelagert wurden. Doch wie sollte das Geld nun zur Auszahlungsstelle für das Begrüßungsgeld gelangen? Hier kam Wilhelm-Ernst Kühn ins Spiel: Er ging mit einer Aldi-Tüte in eine der Banken und holte dort 700 000 D‑Mark ab. Anschließend lief er mit dem Geld in der Tüte durch die Menschenmengen hindurch zurück zur Auszahlungsstelle. Eigentlich unvorstellbar, doch für Kühn war es in diesem Moment das Normalste der Welt: „Das ist gar nicht aufgefallen, weil jeder DDR-Bürger eine Einkaufstüte in der Hand hatte.“ Das Transportmanöver glückte und so konnte dank Kühn wieder Begrüßungsgeld an die BesucherInnen aus dem Osten gezahlt werden.
An den ersten zwei Tagen nach der Grenzöffnung ist Wilhelm-Ernst Kühn kaum nach Hause gekommen. Wenn er doch einmal kurz in seine Wohnung kam, dann aß er eine Kleinigkeit, duschte kurz und ging direkt wieder. Schließlich musste er sich um die Auszahlung des Begrüßungsgeldes in der Mehrzweckhalle kümmern. Die Halle wurde aber nicht nur als Auszahlungsstelle benutzt, sondern fungierte in den ersten beiden Nächten auch als Notlager für Menschen, die nicht mehr nach Hause kamen. Dafür wurden unzählige Sportmatten in Reihen ausgelegt. „Die waren so kaputt, dass sie da einfach hingefallen und eingeschlafen sind“, erinnert sich Kühn.
Nicht nur die Angestellten der Verwaltung waren damals im Dauereinsatz, das ganze Dorf packte mit an. Zahlreiche ehrenamtliche Kräfte aus dem Ort halfen mit, unter anderem die Landfrauen, das Rote Kreuz, die Feuerwehr und sogar verschiedene Sportvereine. „Alle haben gesagt, hier werde ich gebraucht und hier werde ich auch mit dabei sein“, erzählt Helmut Schmidt.
Wilhelm-Ernst Kühn blieb hingegen eine andere Sache besonders in Erinnerung: die musikalische Untermalung. „Am ersten oder zweiten Tag der Grenzöffnung war auf einmal Blasmusik draußen vor der Halle.“ Eine Blaskapelle aus der Nähe von Eisenach war nach Herleshausen gekommen und tat sich spontan mit den Einheimischen zusammen. Auf dem Dorfplatz machten sie gemeinsam Musik, als Zeichen der Annäherung.
Allein am ersten Wochenende hat man in Herleshausen insgesamt 2,8 Millionen D‑Mark Begrüßungsgeld ausgezahlt, was 28 000 Anträgen entspricht. Bis Ende des Jahres stieg die Zahl auf über 7 Millionen D‑Mark. Vermutlich sind also in diesem Zeitraum gut 70 000 Leute in dem kleinen Ort gewesen. „Es war ein chaotisches, aber auch ein glückliches Wochenende“, wie es Helmut Schmidt zusammenfasst.
Vom Osten in die Freiheit
© M. Heide
In Lauchröden erlebt Sabine Görlach die Grenzöffnung auf der anderen Seite der Werra, im Osten. „Dieses Wochenende war das größte Erlebnis meines Lebens“, sagt Görlach, wenn sie an jene kalten Novembertage 1989 zurückdenkt. Sie fällt auf, ist groß, blond und trägt eine schwarze Lederjacke. Görlach ist eine von vielen DDR-BürgerInnen, für die dieses Wochenende zur Erlösung wurde. Bis dahin: Gefangen in ihrem Staat. Gefangen im System. Gefangen in Lauchröden. Im Müllershaus an der alten Mühle geboren und aufgewachsen, hatte Görlach ihr Leben lang die Freiheit vor der Haustür und konnte sie trotzdem nie erfahren. Bis zum 9. November 1989, als die Grenze zum nur einen Kilometer entfernten Nachbarort Herleshausen endlich offen war.
Sabine Görlach, damals 32 Jahre alt, erfuhr erst am Morgen danach über das Radio von der Grenzöffnung. Riesige Freude machte sich breit. Tränen flossen. Doch während andere schon nach Herleshausen aufgebrochen waren, fuhr sie zunächst zur Arbeit ins Büro nach Eisenach, wo sie als Bauingenieurin arbeitete. Sabine Görlach beratschlagte sich mit ihren KollegInnen. Sind wir jetzt freie Menschen? Können wir einfach so in den Westen? Was erwartet uns dort? Von ihrem Büro aus beobachtete sie die Autobahnstrecke nach Herleshausen. „Da war alles dicht“. Görlach beschloss, einen Tag später selbst in die Freiheit zu fahren.
Dann war es soweit. Ab in den Westen. Unglaublich, unfassbar, aber eben nicht mehr unmöglich für Sabine Görlach. „Mein Ziel war nur die andere Seite des Flusses.“ Heute steht wieder eine Fußgängerbrücke zwischen Herleshausen und Lauchröden. Damals, 1989, war es eine Werra ohne Brücke, die beide Dörfer trennte. Görlach fuhr mit ihrem Auto zunächst über die Autobahn von Eisenach in Richtung Herleshausen. Auf der West-Seite angekommen, verließ sie die Autobahn und fuhr über die kleinen Dörfer bis nach Herleshausen. „Ich wusste gar nicht wo ich bin, kannte mich überhaupt nicht aus, obwohl es ja eigentlich meine Nachbarschaft war“, sagt sie. Und dann stand sie da, auf der anderen Seite des Flusses. Angekommen am Ziel ihrer Träume. „Es war ein so schöner Moment, ich wusste gar nicht wohin mit mir. Endlich war ich auf dieser Seite der Werra.“ Nach einigen Minuten purer Freude ging sie die noch wenigen hundert Meter nach Herleshausen.
„Menschen über Menschen, da waren einfach überall Menschen.“ So beschreibt sie die Situation in Herleshausen. „Die haben sich gefreut, geweint, gelacht. Unbeschreiblich.“ Die Bilder von damals haben sich für immer in Sabine Görlachs Gedächtnis eingebrannt. Nachdem sie das Begrüßungsgeld im völlig überfüllten Gemeindehaus in Herleshausen abgeholt hatte, „habe ich mich erstmal zu meinen Verwandten gerettet“. Die Fleischerei Schramm in Herleshausen. Dass ihr Onkel Metzger war und mit seiner Familie dort wohnte, wusste sie zwar von ihrem Vater, aber Sabine Görlach hatte die Schramms noch nie gesehen. Sie lagen sich in den Armen. Konnten es alles noch nicht fassen. Und während die Menschenmassen weiterhin durch Herleshausen zogen, biss Görlach bei ihrem Onkel in die erste westdeutsche Knackwurst. „Die war so gut, das bleibt einfach in Erinnerung.“
Sofort breitete sich große Dankbarkeit aus. „Was die Herleshäuser organisiert haben, gerade mit dem Begrüßungsgeld und wie sie uns verpflegt haben mit Essen und Trinken, das war schon überwältigend“, sagt Sabine Görlach. Auch viele Gemeinsamkeiten wurden schnell entdeckt. Der ähnliche Dialekt, dieselben Hobbys, das gemeinsame Werratal. „Wir lebten in anderen Welten, in anderen Ländern und waren doch so gleich.“
Wenn die Grenzöffnung zu früh kommt
© Achim Wilutzky
Achim Wilutzky bestellt ein Nackensteak mit einer großen Portion Schmorzwiebeln. Dazu ein Pils. Mit seiner schwarzen Trainingsjacke, darunter ein knallrotes T‑Shirt, sitzt er in einer urigen Wirtschaft in Herleshausen und erinnert sich an den 9. November 1989. Er war zufällig in Kassel, als er im Auto die Meldungen aus Berlin hörte. Von Günter Schabowskis legendärer Rede auf der SED-Pressekonferenz, von einer Ausreise, die anscheinend in der DDR möglich war. „Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich“, sprach der Regierungssprecher seinerzeit in die Kameras. „Wir sind gleich am Abend an der Grenze vorbeigefahren. Nichts auffällig“, sagt Wilutzky heute. Er fuhr mit seiner Familie nach Hause, nach Herleshausen, und legte sich schlafen.
Der Morgen danach. Er saß am Frühstückstisch, hörte Radio, „als die Freudensnachrichten aus Berlin kamen. Das ging mir schon nahe. Ich habe den Fehler gemacht und die ganze Situation falsch eingeschätzt“. Denn Achim Wilutzky ist zur Arbeit gefahren, kam erst nachmittags wieder. „Das Dorf sah dann schon ganz anders aus. Es war kaum ein Parkplatz zu finden, überall standen Trabis und knatterten durch die Gegend“, sagt er heute, „ein herrliches, schönes Chaos“.
Sofort schnappte er sich seinen Fotoapparat und schoss Fotos im ganzen Ort. Von den Menschen, die sich im Dorf versammelten, die vor dem Gemeindezentrum ausharrten und auf ihr Begrüßungsgeld warteten. „Man hat es immer noch nicht ganz einschätzen können.“ Also ging er ins Haus, machte das, „was an dem Tag anstand: Renovieren“. Wilutzky, damals 27 Jahre alt, hörte auf einmal Geräusche von draußen. Hupen. Er schaute aus dem Fenster, sah, dass plötzlich zwei Trabis aus Lauchröden vor der Tür standen. Eine entfernte Verwandte mit ihren Söhnen und der Familie. „An dem Wochenende kamen immer mehr Verwandte“, sagt er und strahlt kurz.Im Ort überschlugen sich die Ereignisse währenddessen. „Die Geschäfte wurden im Grunde leergekauft“, sagt Wilutzky. „Und die großen Supermarktketten hatten ihre Lastwagen hierhergeschickt, um neue Orangen zu bringen.“
Für den Samstag hatten Kirmesgesellschaft und Dorfjugend ein Fest in Herleshausen geplant. Ein Fest für die BürgerInnen von Herleshausen und Lauchröden. Gemeinsam, nach der langen Zeit der Trennung. Achim Wilutzky organisierte den Getränkeverkauf auf dem Vorplatz „Am Anger“. Von der letzten Kirmes gab es einen Überschuss an Bier. „Verschenken ist auch blöd. Lasst uns doch 50 Pfennig Ost nehmen“, sagt Wilutzky. „Alle Westler, die etwas trinken wollten, sollten eins zu eins mit den DDR-Bürgern tauschen. Damit der Westler sein Getränk für 50 Pfennig Ost gekriegt hat, hat er dem DDR-Mann 50 Pfennig West gegeben.“ Ein ungleicher Tausch, bei dem die Dörfer wieder aufeinander zugingen.
© Archiv Gemeinde Herleshausen
Sonntagfrüh stand Fußball im Ort an, ein Heimspiel. „Für den Gegner war es schwer nach Herleshausen zu kommen, so verstopft waren die Straßen“, sagt Wilutzky über den Sonntag. Er hatte ein Spiel gegen die Nachbarn aus Sontra, 20 Kilometer von Herleshausen entfernt. „Ich wollte alles an dem Tag, nur kein Fußballspielen. Aber wir waren knapp an Leuten.“ Wilutzky musste ran, „ich war überhaupt nicht bei der Sache“, gibt er zu. Holte sich zwischenzeitlich sogar eine Ansage von einem Mitspieler ab, er solle sich doch auf das Spiel konzentrieren.
Nach der Partie ging es für ihn direkt wieder mit der Kamera raus auf die Straßen — Wilutzkys Spitzname „Achim Überall“ wird geboren. Wieder schoss er Schnappschüsse in ganz Herleshausen. Von Szenen, wie sich Menschen in den Armen liegen. „Dass das Werratal nicht mehr geteilt ist, dieser schlimme Grenzzaun verschwunden ist — das steht über allem.“ Er hat dokumentiert, wie die Dörfer wieder zueinander gefunden haben. „Für mich kam die Grenzöffnung eigentlich ein bisschen zu früh, weil ich mir gerade in den Jahren vorgenommen hatte, viel in Eisenach zu fotografieren. Das Visum war beantragt“, sagt Wilutzky ganz nebenbei. Die Fotos waren nun nichts Besonderes mehr. Wenige Wochen später brauchte er keine Genehmigung mehr — die innerdeutsche Grenze sollte endgültig der Geschichte angehören.