Lauchröden war wie ein Gefängnis
- von Merle Schüning
Hannelore Semisch und Doris Drude lebten im Sperrgebiet in der DDR. Sie mussten sich entscheiden: Für ein Leben unter ständiger Bewachung — oder dafür, wegzuziehen.
Hannelore Semisch hatte Angst. Angst, etwas Falsches zu sagen, zu tun. Die heute 83-Jährige wollte nicht auffallen. Sie lebte in Lauchröden, im Sperrgebiet. Genauer gesagt im 500-Meter-Schutzstreifen. Dieses Gebiet lag direkt an der innerdeutschen Grenze in der ehemaligen DDR und durfte nur von den BewohnerInnen oder von DDR-BürgerInnen mit einem Passierschein betreten werden. Semisch wollte vermeiden, mit ihrer Familie durch Maßnahmen wie die „Aktion Ungeziefer“ von dort weggebracht zu werden. Also entschied sie sich zu schweigen. 44 Jahre lang, bis zum Fall der Mauer.
Doris Drude war anders. Der heute 66-Jährigen war alles zu eng, sie fühlte sich eingesperrt. Drude lebte in Gerstungen, ebenfalls im Osten in einer Sperrzone. Diese Sperrzone war etwas weiter von der Grenze entfernt als der 500-Meter-Schutzstreifen, in dem sich Lauchröden befand. Auch dieses Gebiet durfte nur von BewohnerInnen oder mit einer Sondergenehmigung betreten werden. Die BewohnerInnen waren nahezu abgeschottet von der Außenwelt. Raus durften sie zwar, doch rein konnten nur wenige. Sie hielt das Leben dort nicht mehr aus und zog 1978 nach Berlin – weg von ihrer Familie und weg von ihrer Heimat.
Das Tausend-Einwohner-Dorf Lauchröden liegt in Thüringen und gehört zur Gemeinde Gerstungen. Es liegt keinen Kilometer entfernt vom hessischen Herleshausen. Die beiden Dörfer trennt nur der Fluss Werra. Er markiert die Grenze zwischen Herleshausen und Lauchröden und trennte in DDR-Zeiten Systeme.
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Teilung. Semisch war zu dieser Zeit neun Jahre alt. Am 1. Juli 1945 wurde das kleine Dorf Lauchröden russische Besatzungszone. Auf Lauchröder Seite der Werra wachten die Russen und auf Herleshäuser Seite die Amerikaner. Niemand durfte die Werra ohne Genehmigung passieren ‒ egal in welche Richtung. Semisch bezeichnet die Werra als ihre zweite Heimat, da sie große Teile ihrer Jugend direkt am Fluss verbracht hat.
Am Anfang waren die Grenzkontrollen noch nicht so streng. Wer auf die andere Seite wollte, brachte dem russischen Posten eine Flasche Schnaps und der Posten entfernte sich, erzählt Semisch. Auch sie konnte immer wieder in das Nachbardorf Herleshausen, indem sie die Werra durchquerte: „Wir wussten genau, wo es flach war“, sagt sie. Doch einige Monate später musste Semisch die Ausflüge in den Westen einstellen.
Die 83-Jährige erinnert sich an ein prägendes Ereignis. Damals besetzten Russen die Grenzposten, deutsche Grenzer gab es noch nicht. Das Ereignis müsse etwa im Jahr 1946 oder 1947 gewesen sein, erzählt Semisch. Sie traf sich mit FreundInnen im Nachbardorf zu einem Tanzabend. Als sich die Gruppe im Dunkeln auf den Weg nach Hause machte, bemerkte sie einen Grenzsoldaten. Angst machte sich breit. Die FreundInnen fürchteten, beschossen zu werden, erzählt Semisch. Deshalb versteckten sie sich in einer Mühle. Der Müller kannte sie und ließ sie dort übernachten. „Die Leute haben sich untereinander geholfen.“ Das war einer der Gründe, warum sie in ihrem Dorf blieb. Die Unterstützung untereinander, der Zusammenhalt in dem kleinen Dorf – für Semisch ein „einzigartiges Gefühl“.
In den 1960er Jahren wurde die Grenze zwischen Ost und West vollständig ausgebaut. Zaunanlagen aus Metall, Beobachtungstürme, Bunkeranlagen. Auch der sogenannte Zehn-Meter-Streifen, ein Geländestreifen, der zu Kontrollzwecken für ein Sicht- und Schussfeld diente, wurde errichtet. Häuser, die direkt an der Grenze lagen, wurden abgerissen. Die Kontrollen wurden schärfer. Da Lauchröden im 500-Meter-Schutzstreifen lag, wurden um das Dorf herum Zäune gebaut. Eine Cousine von Hannelore Semisch bezeichnete Lauchröden in einem Brief aus dem Jahr 1990 als „Gefängnisareal, nicht viel größer als der Augsburger Zoo“.
Semisch arrangierte sich mit diesem „Gefängnis“: „Wir haben uns angepasst, man hat es eben hingenommen.“ Nur nicht auffallen, nur keine Dummheiten machen, das System akzeptieren. An eine Flucht dachte sie nie: „Da hätte ich viel zu viel Angst davor gehabt.“
Ost-Berlin. Doris Drude hatte hingegen keine Angst. Keine Angst davor, ihre Heimat Gerstungen zu verlassen und in Berlin einen kompletten Neuanfang zu starten. Das Leben, eingezäunt im Sperrgebiet, erdrückte die 25-Jährige. Jeder kannte jeden in Gerstungen, es wurde ihr zu eintönig. „Da passiert nichts mehr. Das muss man mögen“, erzählt sie heute. Also zog sie 1978 nach Berlin.
Das neue Leben währte nicht lange: Aus familiären Gründen musste Doris Drude schon 1982 zurück nach Gerstungen. Aber dauerhaft hielt sie das nicht aus. Als sich ihre familiäre Situation wieder änderte, wollte sie raus aus dem Sperrgebiet. 1986 zog Doris Drude erneut nach Ost-Berlin.
© Doris Drude
„Manchmal denke ich, meine Freiheit in der DDR war größer als heute.“
Doris Drude
Mit einer Freundin besetzte sie dort eine Wohnung. In Ost-Berlin war das möglich. Einen freien Wohnungsmarkt gab es nicht. Menschen, die nach Berlin wollten, suchten Häuser nach leerstehenden Wohnungen ab und besetzten sie dann. Dieses sogenannte „Schwarzwohnen“ wurde von den DDR-Behörden hingenommen. Später bekam Drude sogar eine Wohnung zugeteilt, für 45 Mark Miete. In Berlin ging es Doris Drude gut. Sie arbeitete drei Tage die Woche, betreute die Kinder einer Opernsängerin. Sie bekam Pakete und Unterstützung aus ihrer Heimat und aus dem Westen. „Wir haben nicht an die Zukunft gedacht, es war ja alles gesichert. Die Rente war sicher. Man konnte ja, im Gegensatz zu heute, nicht tief fallen“, erzählt die 66-Jährige. Ihr gefiel dieses entspannte Leben in der „Hängematte“, wie sie es selbst bezeichnet. „Manchmal denke ich, meine Freiheit in der DDR war größer als heute.“
Lauchröden. Hannelore Semisch bekam ‒ wie alle BürgerInnen in Lauchröden ‒ einen Stempel in den Ausweis, mit dem sie aus dem Sperrgebiet in den Osten reisen durfte. Der Ausweis gab Semisch Sicherheit. Er nahm ihr die Angst, negativ aufzufallen. Die BewohnerInnen des Sperrgebietes erhielten auch eine sogenannte „Sperrzonenzulage“. Als Ausgleich dafür, dass sie an der Grenze lebten, permanent überwacht wurden und eingezäunt waren. Die BewohnerInnen bekamen bis 1958 mehr Lebensmittelkarten als andere, später Lohnzuschläge, Steuererleichterungen und ein verbessertes Angebot an Lebensmitteln. Semisch erzählt, sie habe bis zu 15 Prozent mehr Lohn erhalten. „Wir sollten eben still sein“, sagt sie. Schon damals war ihr das bewusst und sie akzeptierte es.
„Wir haben das niemandem erzählt. Wir haben immer Angst gehabt.“
Hannelore Semisch
Semisch handelte, wie es der Staat verlangte. Sie heiratete, bekam zwei Kinder. Doch sie kann sich an einen Moment erinnern, in dem sie in Panik geriet. Zum 16. Geburtstag schenkte sie ihrer Tochter eine Fotokamera. Als Semisch und ihr Mann arbeiten, geht ihre Tochter auf einen kleinen Berg im Dorf und fotografiert die Grenze Richtung Herleshausen. Als Semisch abends davon erfährt, wird sie nervös. Denn sie weiß, dass das Fotografieren im Ort strengstens verboten ist. „Sie hat sich nichts dabei gedacht, das Harmloseste der Welt“, erinnert sich Semisch. Und doch stehen, eine halbe Stunde nachdem sie nach Hause kommt, drei Offiziere und ein Polizist vor ihrer Tür. Semisch gesteht sofort und händigt die Kamera aus. „Wir haben das niemandem erzählt. Wir haben immer Angst gehabt.“ Angst vor Maßnahmen wie der „Aktion Ungeziefer“ und davor, weg zu müssen. Während sie davon erzählt, kullern Tränen ihre Wange hinunter und ihre Stimme zittert. Wer sich politisch nicht korrekt gefügt und nicht alles mitgemacht hat, der wurde mit Aktionen wie der „Aktion Ungeziefer“ aus dem Sperrbezirk in unbekannte Orte in der DDR ausgewiesen. Zwei Jahre lang leben Semisch und ihre Familie mit der Angst vor der Zwangsumsiedelung. Dann die Nachricht: Als Strafe müssen sie dem Staat 99 Pfennig per Post überweisen. So viel kosteten damals zwei Flaschen Bier.
Doris Drude hat an das Leben in Berlin nicht nur schöne Erinnerungen. „Im Laufe der Jahre ist die Depression immer größer geworden. Der Verfall, die morbiden Häuser, das kriecht in einen rein“, erzählt sie. Man sah an den Häusern immer noch die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg. In dieser Zeit, den späten 80er Jahren, habe sie gemerkt, dass Berlin für sie auch nicht anders sei als ihre Heimat Gerstungen im Sperrgebiet, sagt Drude. „Ich hatte dann die Sehnsucht, die Mauer zu durchbrechen, um das wirkliche Leben kennenzulernen“, erzählt sie. Nicht nur Drude wollte weg aus der DDR. Vielen anderen ging es ähnlich, sie seien dann über Ungarn abgehauen, so Drude. „Es gab keine Motivation mehr, das Leben schön zu finden. Es war so eine Endzeitstimmung.“
Als sie eines Tages aus ihrem Urlaub zurück in die Wohnung in Berlin kam, erkannte sie im Treppenhaus ihre Fußabdrücke. Sie war die Einzige, die in der gesamten Zeit die Treppe benutzt hatte – alle anderen waren geflüchtet. Das Haus stand leer. Am 7. Oktober 1989, dem Tag des 40-jährigen Jubiläums der DDR, bekam Drude einen Anruf von einer Freundin. Es gebe einen Demonstrationszug vom Alexanderplatz Richtung Schönhauser Allee.
© Robert-Havemann-Gesellschaft/Nikolaus Becker/RHG_Fo_NiBe_010_67
Diese Demo war nicht die erste im Jahr, in dem die Mauer fiel. Der Unmut der Bevölkerung und die Kritik an der Partei und der Staatsführung waren deutlich sichtbar. An diesem Jubiläumstag geht Doris Drude mit ihrer Freundin in Richtung Demo am Alexanderplatz, obwohl sie weiß, wie gefährlich das ist. „Wir waren ganz fiebrig und aufgeregt, wir wollten das sehen“, erzählt sie heute noch mit einem Funkeln in den Augen. Die beiden Freundinnen gehen in die Stadt, halten sich aber bewusst von der Demo fern.
Plötzlich kommt ein Armeefahrzeug. Soldaten packen sie und die anderen Leute, die auf der Straße sind, an Armen und Beinen und hieven sie auf den LKW. Der LKW fährt mehrere Gefängnisse an. Doch Doris Drude hat Glück im Unglück: Die Gefängnisse sind überfüllt. Sie und die anderen Gefangenen müssen auf der Ladefläche des LKWs eine Nacht ausharren. Es war kalt, „bestimmt minus drei Grad“, erinnert sich Drude. Die Bewacher sind sehr streng – nicht einmal auf die Toilette dürfen sie gehen. „Dann schiffen Sie doch in die Hose, oder hier auf den Boden“, sagen sie zu Drude und den anderen Gefangenen.
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Trotz der beängstigenden Situation: In jener Nacht des 7. Oktobers fürchtete sich niemand, ist sich Drude sicher. Sie sangen zusammen die Internationale, ein Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung. „Man wollte den Mund aufmachen, nicht wieder so feige sein wie in der Hitlerzeit“, erzählt Doris Drude. Am nächsten Morgen, dem 8. Oktober, wird sie von einem Beamten verhört. „In Ihrem Interesse: Vermeiden sie Menschenansammlungen“, rät ihr der Mann. Er drückt ihr zwanzig Pfennig für den Heimweg in die Hand, dann darf sie gehen. Glück gehabt.
Lauchröden. „Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben“, sagt Semisch, wenn sie an die Grenzöffnung denkt. Dass sie jemals wieder in den Westen und in das Nachbardorf Herleshausen kommen würde, daran hatte sie nicht mehr geglaubt. Doch dann kommt der Mauerfall. Semisch steht am nächsten Morgen um vier Uhr morgens auf und kocht Brei für ihren Mann. Dabei läuft Westfernsehen. Sie sieht die Grenzöffnung, hört, was am Vorabend verkündet wurde. Sie kann es gar nicht realisieren. Sie und ihr Mann gehen ganz normal zur Arbeit. Dort bekommt Semisch mit, dass die Grenze tatsächlich geöffnet wurde. Am nächsten Tag fährt sie nach Herleshausen. Fremde liegen sich in den Armen. Die Straßen sind völlig überfüllt mit Trabis und Menschen. „Es gab Tränen auf beiden Seiten“, erzählt Semisch.
Berlin. Doris Drude erlebte die Grenzöffnung im Westen. Sie durfte wegen dem Geburtstag ihrer Tante nach Westberlin reisen. Als sie von der Grenzöffnung erfährt, sitzt sie bei ihrem Cousin im Wohnzimmer vor dem Fernseher. „Jetzt kannst du immer kommen“, sagt er. Drude kann es nicht glauben. Sie ist erleichtert, aber auch misstrauisch. „Viele Jahre ist man in diesem Käfig herumgelaufen, viele haben ihr Leben riskiert und auf einmal machen sie die Mauer auf“, erzählt Drude.
1990 entscheidet sich Drude dafür, zurück nach Gerstungen, in ihr kleines Heimatdorf zu gehen. Heute lebt die 66-Jährige immer noch dort. Sie ist viel gereist, hat Italien und Frankreich gesehen. Daran war während der DDR-Zeit nicht zu denken. Die Öffnung der Grenze war für Doris Drude ein großes Glück. „Mein Leben hat nochmal eine ganz andere Wendung genommen. Ich wäre sonst in diesem Land vergammelt und vertrocknet.“
Auch für Semisch war die Grenzöffnung und die damit wiedererlangte Freiheit ein Segen. Über die Zeit in der DDR sagt sie heute: „Es war schlimm, aber wir haben uns damit abgefunden. Es ist unser Leben“. Sie schaut aus dem Fenster, Richtung Herleshausen. Dorthin, wo die Grenze jahrzehntelang ihr Leben beeinflusste. Ihr Mann sitzt in der Küche, kann nach einem Schlaganfall nicht mehr richtig reden, Semisch muss sich um ihn kümmern. Sie ist auch nicht mehr gut zu Fuß, doch klagen hört man sie nicht. Sie hat es akzeptiert. Das ist ihr Leben in Lauchröden. Während des Krieges, während der Teilung und auch heute, 30 Jahre nach der Grenzöffnung.