Mit 19 über die Grenze
- von Sebastian Braun
Irmgard Marholdt floh 1965 in die Bundesrepublik — mit einem Boot über den Grenzfluss. Ihr späterer Ehemann Manfred Müller erzählt ihre Geschichte.
Lauchröden in Thüringen war kein Dorf wie jedes andere in der DDR. Die Regeln dort waren besonders streng. Selbst BürgerInnen aus der DDR benötigten einen Passierschein, um in dieses Gebiet zu kommen. Der Grund dafür: Lauchröden befand sich im 500-Meter-Schutzstreifen der DDR, der direkt entlang der deutsch-deutschen Grenze verlief.
In diesem von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf wohnte Irmgard Marholdt bis 1965. Dann floh sie über die Werra ins benachbarte Herleshausen, in die Bundesrepublik. Irmgard Marholdt ist ebenso wie ihre beiden Fluchthelfer bereits verstorben. Dieser Text stützt sich auf die Nacherzählungen ihres Ehemanns Manfred Müller.
Irmgard findet sich im System der DDR nicht mehr zurecht. Sie kann ihre Meinung nicht frei äußern, wird gedrängt, in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) einzutreten. Täglich sieht die 19-Jährige das Leben auf westdeutscher Seite. Von der Scheune des Elternhauses sind es gerade einmal 20 Meter bis zum ersten Zaun der innerdeutschen Grenze, der die Lauchröderin von Herleshausen trennt.
Am westdeutschen Ufer der Werra angelt der Herleshäuser Horst Knierim, ein junger Mann Anfang 20. Trotz der Grenzposten gelingt es ihm und Irmgard, per Handzeichen und Zurufen Kontakt zueinander aufzunehmen. Die beiden vereinbaren ein Treffen in der DDR-Stadt Eisenach. Die Stadt liegt außerhalb des Schutzstreifens und ist somit für Irmgard und Horst zugänglich. Gemeinsam schmieden sie einen Plan für Irmgards Flucht aus der DDR.
Ende August 1965. Gegen Abend soll eine Versammlung in Lauchröden stattfinden. Irmgard erzählt ihrer Mutter, dass sie dort teilnimmt und verlässt das Haus. Nachdem zwei Grenzer an ihr vorbeigegangen sind, nutzt sie den Moment. Sie packt eine Leiter und lehnt sie an den rund drei Meter hohen Zaun. 1965 ist die innerdeutsche Grenze schon befestigt, aber noch gibt es weder Alarmanlagen noch Stacheldraht auf den Zaunspitzen. Irmgard überwindet den ersten Zaun, die Leiter lässt sie zurück. Der Streifen zwischen den Zäunen ist die nächste Herausforderung. Keine hohen Hürden aus Draht, dafür Minen, die in dieser Zone vergraben sein könnten. Jeder falsche Schritt könnte verheerend enden, doch Irmgard schafft es zum zweiten Zaun. Auch über ihn klettert sie. Dann kommt die Werra.
Horst und ein Bekannter steigen an diesem Abend in ihr Boot – scheinbar zum Angeln an der westlichen Seite der Werra. Sie überqueren jedoch die Flussmitte in Richtung Osten, was 1965 längst verboten war. Irmgard steigt in das Boot der beiden Helfer ein. Zu dritt fahren sie zurück zum Westufer. Sie hat es geschafft.
Die Flucht fällt zunächst keinem auf, bis ein DDR-Grenzsoldat die Leiter entdeckt und Alarm schlägt. Das Ufer wird abgesucht. Irmgard wird vermisst. Ihre Mutter wird gezwungen, in den Garten zu gehen und in Richtung des Westufers der Werra zu rufen, dass die Tochter zurückkommen könne und ihr nichts passieren werde.
Die sogenannte „Republikflucht“ aus der DDR bedeutet nicht nur ein hohes Risiko für den Flüchtling selbst, sondern auch für dessen Verwandte und Bekannte in der DDR. Wer von einer Flucht erfährt und sie nicht anzeigt, wird bestraft. So werden auch Irmgards Eltern verhört und verdächtigt. Selbst ihre Schwester, die zur Fluchtzeit aus beruflichen Gründen gar nicht in Lauchröden war, wird befragt. Eine große Belastung für die Familie. Ihre Mutter hofft aber auch, dass Irmgard es auf der anderen Seite vielleicht besser hat.
Irmgard kommt in ein Flüchtlingslager, etwa eine Autostunde entfernt. Dort bleibt sie für zwei Wochen und zieht anschließend zu ihrer Tante nach Herleshausen. Sie findet Arbeit in einer Bekleidungsfabrik. Auf dem Herleshäuser Anglerball lernt Irmgard ihren späteren Ehemann Manfred Müller kennen. Zusammen wagen sie sich im Sommer, ein Jahr nach ihrer Flucht, an die Grenze in die Nähe ihres Elternhauses in Lauchröden. Auf dem Spazierweg am Werraufer beobachtet das junge Paar die Grenzer auf der anderen Seite. Auf Höhe der elterlichen Scheune angekommen, warten sie, bis die Grenzer außer Sichtweite sind und winken hinüber. Nachbarn aus Lauchröden entdecken die Winkenden und verständigen die Eltern. Auf beiden Seiten fließen Tränen.
Diese speziellen Sonntagsspaziergänge wiederholen sich und werden nach und nach zur Gewohnheit. Irmgards Eltern können mit dem nahen und zugleich so weit entfernten Besuch rechnen, manchmal rufen sich beide Seiten sogar ein „Hallo“ oder „Wie geht‘s?“ zu. Aus dem Paar Irmgard und Manfred wird das Ehepaar Müller. Aus dem Ehepaar wird eine Familie und Irmgards Eltern sehen Manfred auf der anderen Seite der Werra ihr Enkelkind in die Höhe halten.
Weil Irmgards Mutter ein paar Jahre darauf Rentnerin und somit ausreiseberechtigt ist, zieht sie 1976 in die Bundesrepublik zu Irmgard und ihrem Mann Manfred. Jetzt kann sie ihr Enkelkind in die Arme schließen. Ohne die Werra oder Grenzzäune dazwischen.