Mit 19 über die Grenze

Irm­gard Mar­holdt floh 1965 in die Bun­des­re­pu­blik — mit einem Boot über den Grenz­fluss. Ihr spä­te­rer Ehe­mann Man­fred Mül­ler erzählt ihre Geschichte. 


von Alexandra Rank und Jakob Schätzle

Lauch­rö­den in Thü­rin­gen war kein Dorf wie jedes ande­re in der DDR. Die Regeln dort waren beson­ders streng. Selbst Bür­ger­Innen aus der DDR benö­tig­ten einen Pas­sier­schein, um in die­ses Gebiet zu kom­men. Der Grund dafür: Lauch­rö­den befand sich im 500-Meter-Schutz­strei­fen der DDR, der direkt ent­lang der deutsch-deut­schen Gren­ze verlief.

In die­sem von der Außen­welt abge­schnit­te­nen Dorf wohn­te Irm­gard Mar­holdt bis 1965. Dann floh sie über die Wer­ra ins benach­bar­te Her­les­hau­sen, in die Bun­des­re­pu­blik. Irm­gard Mar­holdt ist eben­so wie ihre bei­den Flucht­hel­fer bereits ver­stor­ben. Die­ser Text stützt sich auf die Nach­er­zäh­lun­gen ihres Ehe­manns Man­fred Müller.

Irmgards Flucht

Irm­gard fin­det sich im Sys­tem der DDR nicht mehr zurecht. Sie kann ihre Mei­nung nicht frei äußern, wird gedrängt, in die Sozia­lis­ti­sche Ein­heits­par­tei Deutsch­lands (SED) ein­zu­tre­ten. Täg­lich sieht die 19-Jäh­ri­ge das Leben auf west­deut­scher Sei­te. Von der Scheu­ne des Eltern­hau­ses sind es gera­de ein­mal 20 Meter bis zum ers­ten Zaun der inner­deut­schen Gren­ze, der die Lauch­rö­de­rin von Her­les­hau­sen trennt.

Die jun­ge Irm­gard will aus der DDR flie­hen. Quel­le: Man­fred Müller

Am west­deut­schen Ufer der Wer­ra angelt der Her­le­shäu­ser Horst Knie­rim, ein jun­ger Mann Anfang 20. Trotz der Grenz­pos­ten gelingt es ihm und Irm­gard, per Hand­zei­chen und Zuru­fen Kon­takt zuein­an­der auf­zu­neh­men. Die bei­den ver­ein­ba­ren ein Tref­fen in der DDR-Stadt Eisen­ach. Die Stadt liegt außer­halb des Schutz­strei­fens und ist somit für Irm­gard und Horst zugäng­lich. Gemein­sam schmie­den sie einen Plan für Irm­gards Flucht aus der DDR.

Ende August 1965. Gegen Abend soll eine Ver­samm­lung in Lauch­rö­den statt­fin­den. Irm­gard erzählt ihrer Mut­ter, dass sie dort teil­nimmt und ver­lässt das Haus. Nach­dem zwei Gren­zer an ihr vor­bei­ge­gan­gen sind, nutzt sie den Moment. Sie packt eine Lei­ter und lehnt sie an den rund drei Meter hohen Zaun. 1965 ist die inner­deut­sche Gren­ze schon befes­tigt, aber noch gibt es weder Alarm­an­la­gen noch Sta­chel­draht auf den Zaun­spit­zen. Irm­gard über­win­det den ers­ten Zaun, die Lei­ter lässt sie zurück. Der Strei­fen zwi­schen den Zäu­nen ist die nächs­te Her­aus­for­de­rung. Kei­ne hohen Hür­den aus Draht, dafür Minen, die in die­ser Zone ver­gra­ben sein könn­ten. Jeder fal­sche Schritt könn­te ver­hee­rend enden, doch Irm­gard schafft es zum zwei­ten Zaun. Auch über ihn klet­tert sie. Dann kommt die Werra.

Horst und ein Bekann­ter stei­gen an die­sem Abend in ihr Boot – schein­bar zum Angeln an der west­li­chen Sei­te der Wer­ra. Sie über­que­ren jedoch die Fluss­mit­te in Rich­tung Osten, was 1965 längst ver­bo­ten war. Irm­gard steigt in das Boot der bei­den Hel­fer ein. Zu dritt fah­ren sie zurück zum West­ufer. Sie hat es geschafft.

Die Flucht fällt zunächst kei­nem auf, bis ein DDR-Grenz­sol­dat die Lei­ter ent­deckt und Alarm schlägt. Das Ufer wird abge­sucht. Irm­gard wird ver­misst. Ihre Mut­ter wird gezwun­gen, in den Gar­ten zu gehen und in Rich­tung des West­ufers der Wer­ra zu rufen, dass die Toch­ter zurück­kom­men kön­ne und ihr nichts pas­sie­ren werde.

Die soge­nann­te „Repu­blik­flucht“ aus der DDR bedeu­tet nicht nur ein hohes Risi­ko für den Flücht­ling selbst, son­dern auch für des­sen Ver­wand­te und Bekann­te in der DDR. Wer von einer Flucht erfährt und sie nicht anzeigt, wird bestraft. So wer­den auch Irm­gards Eltern ver­hört und ver­däch­tigt. Selbst ihre Schwes­ter, die zur Flucht­zeit aus beruf­li­chen Grün­den gar nicht in Lauch­rö­den war, wird befragt. Eine gro­ße Belas­tung für die Fami­lie. Ihre Mut­ter hofft aber auch, dass Irm­gard es auf der ande­ren Sei­te viel­leicht bes­ser hat.

Irmgard im Westen

Irm­gard kommt in ein Flücht­lings­la­ger, etwa eine Auto­stun­de ent­fernt. Dort bleibt sie für zwei Wochen und zieht anschlie­ßend zu ihrer Tan­te nach Her­les­hau­sen. Sie fin­det Arbeit in einer Beklei­dungs­fa­brik. Auf dem Her­le­shäu­ser Ang­ler­ball lernt Irm­gard ihren spä­te­ren Ehe­mann Man­fred Mül­ler ken­nen. Zusam­men wagen sie sich im Som­mer, ein Jahr nach ihrer Flucht, an die Gren­ze in die Nähe ihres Eltern­hau­ses in Lauch­rö­den. Auf dem Spa­zier­weg am Werrau­fer beob­ach­tet das jun­ge Paar die Gren­zer auf der ande­ren Sei­te. Auf Höhe der elter­li­chen Scheu­ne ange­kom­men, war­ten sie, bis die Gren­zer außer Sicht­wei­te sind und win­ken hin­über. Nach­barn aus Lauch­rö­den ent­de­cken die Win­ken­den und ver­stän­di­gen die Eltern. Auf bei­den Sei­ten flie­ßen Tränen.

Die­se spe­zi­el­len Sonn­tags­spa­zier­gän­ge wie­der­ho­len sich und wer­den nach und nach zur Gewohn­heit. Irm­gards Eltern kön­nen mit dem nahen und zugleich so weit ent­fern­ten Besuch rech­nen, manch­mal rufen sich bei­de Sei­ten sogar ein „Hal­lo“ oder „Wie geht‘s?“ zu. Aus dem Paar Irm­gard und Man­fred wird das Ehe­paar Mül­ler. Aus dem Ehe­paar wird eine Fami­lie und Irm­gards Eltern sehen Man­fred auf der ande­ren Sei­te der Wer­ra ihr Enkel­kind in die Höhe halten.

Weil Irm­gards Mut­ter ein paar Jah­re dar­auf Rent­ne­rin und somit aus­rei­se­be­rech­tigt ist, zieht sie 1976 in die Bun­des­re­pu­blik zu Irm­gard und ihrem Mann Man­fred. Jetzt kann sie ihr Enkel­kind in die Arme schlie­ßen. Ohne die Wer­ra oder Grenz­zäu­ne dazwischen.


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