Sieben Stunden warten in Wartha
- von Alexandra Rank
Ilse Altenbrunn ist mittlerweile 82 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben lang im thüringischen Wartha verbracht. Über ein 70-Seelen-Dorf, das es sogar in den Kölner Karneval geschafft hat.
„Mir war klar, dass das kritisch wird“, sagt Ilse Altenbrunn. Für sie ist die Wiedervereinigung nur teilweise gelungen. Unsicherheit, Existenzangst, Identitätslosigkeit. Es sind Erscheinungsbilder des Mauerfalls 1989, die besonders im Westen oft nicht wahrgenommen und vergessen werden. Bei aller Euphorie ging unter, dass viele Menschen wie Ilse Altenbrunn ihr Leben lang im DDR-System gelebt hatten und dessen sozialistische Strukturen gewohnt waren. Jede und jeder hat eigene Erfahrungen gemacht. „Die einen meinen so, die anderen so. Wie es einen persönlich eben betrifft.“ Ilse Altenbrunn hatte auf ihrem Bauernhof zunächst Schwierigkeiten, sich an die freie Marktwirtschaft zu gewöhnen, schaffte es aber, ihren Hof am Leben zu halten. Über allem steht trotzdem die Erleichterung, dass ihr geliebtes Wartha heute nicht mehr von Zäunen eingekesselt, sondern ein verschlafenes und vor allem freies Dörfchen an der Werra ist.
„Wo gehören wir eigentlich hin?“ Ilse Altenbrunn lebt seit 1937 in ihrem beschaulichen Wartha in Thüringen auf der westlichen Seite der Werra. Es gehörte aber trotzdem zum Osten und lag auf dem Gebiet der DDR. Denn hier bildete seit Jahrhunderten nicht die Werra die Grenze zwischen Thüringen und Hessen. Einen Kilometer entfernt lag auf der gleichen Seite der Werra das hessische Herleshausen, das zur Bundesrepublik gehörte.
„Damals hat jeder Zug gehalten. Und jetzt, wo wir mitfahren könnten, hält keiner“, meint Ilse Altenbrunn, wenn sie an den alten Bahnhof in ihrem Ort denkt. Ihr 70-Seelen-Dorf kannte beinahe jeder in Berlin — wegen des Bahnhofs. Das Dorf war im letzten Jahrhundert lange Zeit hoch brisantes und teilweise gefährliches Grenzgebiet und international vor allem als Transitstelle für Schienenverkehr bekannt. In Westberlin hing ein Schild mit der Aufschrift „Wartha 370 km“. Dass da viel los war und vor allem viel und lange kontrolliert wurde, haben auch die Menschen in Wartha bemerkt. „Im westdeutschen Karneval hieß es immer: Wartha hat den größten Bahnhof der Welt, da braucht der Zug sieben Stunden bis er durch ist“, erinnert sich Ilse Altenbrunn. In der ganzen getrennten Republik war der kleine Ort ein Begriff.
Ilse Altenbrunn hat trotz aller Widrigkeiten gerne in Wartha gelebt. „Wir waren eben hier zuhause. Das war das Wichtigste.“ Fluchtgedanken kamen bei ihr nie auf. Obwohl sie spätestens seit 1960 wusste, welche Art von System in der DDR herrschte. Die landwirtschaftliche Genossenschaft LPG verstaatlichte ihr Land. Von nun an gehörte der Hof der Altenbrunns, den sie später von ihren Eltern übernahm, dem Staat. Sie mussten ein Soll an Vieh und Getreide abliefern. „Das hat hier eben alles anders funktioniert.“
November 1989: Das Wochenende, das in die deutsche Geschichte einging. Für Ilse Altenbrunn kam die Wende überraschend. „Damit war nicht sofort so zu rechnen“, sagt sie. „Besonders wenn man die Stimmung, die zu der Zeit in den Städten herrschte, nicht wirklich mitbekommen hatte.“ Weit fahren hätte Ilse Altenbrunn nicht müssen, wenn sie nach Herleshausen gewollt hätte. Doch an dem Wochenende der Grenzöffnung wollte sie noch nicht direkt in den Westen. „Ich habe die Tiere versorgt und dachte, dass die jungen Leute erstmal fahren sollen. Ich habe mich zunächst hier in Wartha gefreut“, erzählt Ilse. Erst einige Wochen später; zwischen Weihnachten und Neujahr, besuchte sie den Westen. Ihr Leben in Unauffälligkeit hat sie all die Jahre geprägt. Trotz ihrer Freude über die Grenzöffnung, spürte sie eben schon bald, dass mit dem Zerfall der DDR, auch die „neuen Sorgen aufkamen“.
Längst hält kein Zug mehr in Wartha. Nach der Wiedervereinigung wurde der Bahnhof geschlossen und nur ein großes Straßenschild vor dem Ortseingang erinnert noch an die Grenze, die viele Jahre lang Ost und West trennte. Auch wenn das kleine Dorf im letzten Jahrhundert ständig wechselnde Systeme und Gesetze über sich ergehen lassen musste, so war es wegen seines Bahnhofes weit über das Werratal hinaus bekannt. Für Ilse Altenbrunn war es aber vor allem eines: „Wartha, das ist eben einfach Heimat.“