Punkte beim Eurovision Song Contest gehen häufig an Nachbarländer. Besonders die Maximalpunktzahl wird oft an Länder in der Region vergeben. Doch woran liegt das? Und welchen Einfluss haben Punkte-Freundschaften auf das Ergebnis?
Text: Max Danhauser, Sebastian Englschall, Henri Gallbronner, Claudia Moser
einsteins. Bericht
Foto: picture alliance/IMAGNO/Votava, Eurovision Song Contest 1979 in Jerusalem. Israelische Techniker bereiten das Scoreboard für die Entscheidung vor. Israel. Photographie. 1979.
Eingefleischte ESC-Fans können bei der Punktevergabe aus Zypern getrost die Überreste des Käseigels abräumen: Sie wissen im Grunde schon im Voraus, wer die Höchstpunktzahl Zwölf aus dem Inselstaat erhält. Griechenland darf sich nur in wenigen Ausnahmefällen nicht darüber freuen. In den letzten Jahren kam das zwar häufiger vor – jedoch nur, weil sich der griechische Act 2018 und 2016 nicht für das Finale qualifizierte. Lediglich 2015 erhielt Griechenland nur 8 Punkte aus Zypern, obwohl es im Finale vertreten war.
Dass beim Eurovision Song Contest oft Punkte an Nachbarländer vergeben werden, ist nichts Neues. Auf Social Media ist da schnell die Rede von einem angeblich abgekarteten Spiel. Mit Fairness scheinen solche Punkte-Partnerschaften auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben – wer den europäischen Gedanken in dieser Musikshow wirklich leben will, gibt seine Punkte schließlich an den besten Act und nicht aus Prinzip ans Nachbarland. Doch kann man die Wertung beim ESC deswegen als verfälscht bezeichnen? Oder lässt sich vielleicht gerade in regelmäßig vergebenen Höchstpunktzahlen an bestimmte Länder Solidarität erkennen? einsteins. hat sich die Ergebnisse aller ESCs seit der Einführung des Wertungssystems mit zwölf Punkten als Höchstpunktzahl im Jahr 1975 angeschaut. Das Wertungssystem vor 1975 ist mit dem heutigen nicht mehr vergleichbar.
Die erste Grafik stellt die Punkteflüsse zwischen den einzelnen Teilnehmerländern im Verlauf der Zeit dar. Die weiteren Grafiken stellen langjährige Punkte-Freundschaften dar. Hier wurde zur besseren Übersicht nur die Höchstpunktzahl Zwölf miteinbezogen.
Auf den ersten Blick lassen sich einige Muster erkennen: Die enge Verbundenheit zwischen Zypern und Griechenland macht auch vor der ESC-Punktevergabe nicht Halt. Vor allem von Zypern wandern regelmäßig zwölf Punkte nach Griechenland. Auch die nordeuropäischen Länder Norwegen, Schweden, Dänemark und Island verteilen ihre zwölf Punkte häufig unter sich. Nur Finnland orientiert sich eher in Richtung seiner östlichen Nachbarländer.
„douze points“
Die folgenden Grafiken zeigen, an welche Länder wie oft zwölf Punkte vergeben wurden…
Während Griechenland und Zypern sich oft gegenseitig 12 Punkte geben, lässt sich bei Deutschland kein solches Muster erkennen.
Das Publikum stimmt eher für die Nachbarn
Ein Blick auf die verschiedenen Voting-Verfahren, die in der Geschichte des ESC zum Einsatz kamen, hilft, die Muster in der Punkteverteilung zu erklären. Von der Gründung des ESC 1956 bis 1997 bewerteten lediglich Fachjurys die dargebotenen Stücke. Ab 1998 entschied allein das Publikum: Da führte die European Broadcasting Union (EBU), die den ESC veranstaltet, das Televoting ein. Seit 2009 bewerten Jurys und Publikum gemeinsam. Allerdings wurde das Berechnungsverfahren zwischendurch geändert. So vergeben seit 2016 Publikum und Jury jeweils ihre eigenen zwölf Punkte, davor wurde der Durchschnitt aus den beiden Wertungen errechnet. Es werden nun also insgesamt doppelt so viele Punkte wie vorher vergeben.
Auffällig ist, dass sich nach Einführung des Televotings die Punkte-Freundschaften sogar intensivierten. Von flächendeckenden Abmachungen zwischen Fernsehanstalten kann daher wohl kaum die Rede sein, da sich ein TV-Publikum wesentlich schwerer beeinflussen lässt als eine vom Fernsehsender zusammengestellte Jury.
Die gemeinsame Kultur macht den Unterschied
Die Musikwissenschaftlerin Saskia Jaszoltowski von der Universität Graz, die zum ESC forscht, sagt zur regionalen Punktevergabe: „Wenn man dem Nachbarland die Punkte gibt, dann zeugt das von Solidarität. Solidarität verstehe ich so, dass man einem Freund hilft. Oder sich gegen einen Dritten verbündet.“ Außerdem gebe es keine einheitliche europäische Popkultur. Wichtig für das Abstimmungsverhalten seien vor allem regionale kulturelle Gemeinsamkeiten. Dies könne man unter anderem an den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens sehen: Der gemeinsame Kulturkreis, ähnlicher Musikgeschmack und gleiche Instrumente tragen laut Jaszoltowski dazu bei, dass sich diese Länder häufig gegenseitig die Maximalpunktzahl geben.
Bemerkenswert ist hier vor allem das Jahr 2004: Die fünf teilnehmenden ex-jugoslawischen Länder verteilten ihre zwölf Punkte ausschließlich unter sich – sogar Slowenien und Kroatien gaben dem ehemals verfeindeten Serbien und Montenegro die Höchstpunktzahl. Hier hat der ESC sein selbst gestecktes Ziel also erreicht – ein unpolitischer Wettbewerb für ganz Europa zu sein. Dieses Ziel verfolgen die Macher*innen seit der Gründung. Damals ging es darum, einst verfeindete Länder zusammenzubringen. Auch heute noch ist der Songcontest ein Fest der Begegnung zwischen Musiker*innen und Fans, das Konflikte zwischen Regierungen ausblendet und den Kontinent näher zusammenbringt.
Politik in der Grauzone
Doch die Weltpolitik bleibt nicht immer außen vor: Künstler*innen und Fans aus der LGBTQ-Bewegung rufen häufig Unmut bei konservativen Regierungen hervor. Auch der Ukraine-Konflikt beeinflusste die Show schon mehrfach.
Laut Regularien sind politische Songs beim ESC verboten. Das bezieht sich jedoch nur auf vordergründige politische Statements. Laut Jaszoltowski fallen Aussagen, die in Metaphern verpackt sind, in eine Grauzone. Das trifft auch auf den Siegersong von 2016 zu: „1944“ von Jamala. Das Stück handelt von der Deportation der Krimtataren durch Stalin während des Zweiten Weltkriegs. Der aktuelle Konflikt um die Halbinsel Krim kam zwar in keiner Zeile des Songs vor, doch die Botschaft – Kritik an der Annexion der Krim durch Russland – war klar.
Bei einem Blick auf die Punktevergabe fällt auf: Beim Televoting erhielt Jamala jeweils zehn Punkte aus Russland und Weißrussland, die Jurys der beiden Länder gaben keinen einzigen Punkt an die Ukraine. Ähnliches ist auf der ukrainischen Seite zu beobachten: Das dortige Publikum vergab 2016 zwölf Punkte an Russland, die Jury keinen einzigen. Ob dahinter eine politische Motivation steckt, lässt sich nur mutmaßen.
Der regelmäßige Punktetausch zwischen Nachbarländern kann also einerseits als solidarisch, aber genauso als ungerecht gegenüber dem Rest empfunden werden. Jenseits der Punkte-Vergabe freuen sich tausende ESC-Fans dennoch jedes Jahr auf ihre große europäische Party.
Welchen Einfluss haben die Punkte-Freundschaften auf das Ergebnis? einsteins. hat für drei ausgewählte Song-Contests eine neue Top Drei berechnet, was natürlich nicht die Wertung bei diesen Wettbewerben infrage stellen soll. Dabei wurden die Wertungen bestimmter Punkte-Freundschaften jeweils komplett herausgerechnet – also nicht nur die Punkte, die an Nachbarländer vergeben wurden, sondern alle Punkte, die ein Land vergeben hat. Ergebnis: Punkte-Freundschaften zwischen Teilnehmern können durchaus einen Einfluss auf die Rangliste haben, müssen es aber nicht.
Jerusalem 1999 – Skandinavischer Doppelsieg
In Israel gewann die Schwedin Charlotte Nilsson. Selma Björnsdóttir aus Island belegte den zweiten Platz.
Tatsächliche Wertung:
Land | Künstler*in | Song | Punkte |
---|---|---|---|
🇸🇪 Schweden | Charlotte Nilsson | Take Me To Your Heaven | 163 |
🇮🇸 Island | Selma Björnsdóttir | All Out Of Luck | 146 |
🇩🇪 Deutschland | Sürpriz | Reise nach Jerusalem (Küdüs’e seyahat) | 140 |
Zieht man die Wertungen von Schweden, Norwegen, Dänemark und Island ab, ergibt sich allerdings ein anderes Bild:
Wertung ohne skandinavische Punkte:
Land | Künstler*in/Band | Song | Punkte |
---|---|---|---|
🇸🇪 Schweden | Charlotte Nilsson | Take Me To Your Heaven | 131 |
🇩🇪 Deutschland | Sürpriz | Reise nach Jerusalem (Küdüs’e seyahat) | 125 |
🇭🇷 Kroatien | Doris Dragovic | Marija Magdalena | 113 |
Helsinki 2007 – Balkan-Länder tragen Serbien zum Sieg
Serbien nahm 2007 zum ersten Mal als eigenständiges Land am ESC teil und holte direkt den Sieg – auch dank der anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken.
Tatsächliche Wertung:
Land | Künstler*in/Band | Song | Punkte |
---|---|---|---|
🇷🇸 Serbien | Marija Šerifović | Molitva | 268 |
🇺🇦 Ukraine | Verka Serduchka | Dancing Lasha Tumbai | 235 |
🇷🇺 Russland | Serebro | Song #1 | 207 |
Für die einsteins.-Berechnung wurden die Wertungen aus Serbien, Montenegro, Bosnien & Herzegowina, Kroatien, Slowenien und Mazedonien abgezogen. Hätten diese Länder nicht abstimmen dürfen, hätte ein anderer Act die Trophäe mit nach Hause genommen.
Wertung ohne Punkte der ex-jugoslawischen Staaten:
Land | Künstler*in/Band | Song | Punkte |
---|---|---|---|
🇺🇦 Ukraine | Verka Serduchka | Dancing Lasha Tumbai | 214 |
🇷🇸 Serbien | Marija Šerifović | Molitva | 208 |
🇷🇺 Russland | Serebro | Song #1 | 181 |
Moskau 2009 – der Rekordsieger
2009 gewann der Russe Alexander Rybak die ESC-Trophäe für Norwegen und holte den Wettbewerb nach Oslo. Dort triumphierte im Folgejahr bekanntlich Lena für Deutschland. Sie konnte allerdings bei weitem nicht so viel Punkte holen wie Rybak, der bis zur Verdopplung der pro Land vergebenen Punkte 2016 den ESC-Rekord hielt.
Tatsächliche Wertung:
Land | Künstler*in/Band | Song | Punkte |
---|---|---|---|
🇳🇴 Norwegen | Alexander Rybak | Fairytale | 387 |
🇮🇸 Island | Yohanna | Is It True? | 218 |
🇦🇿 Aserbaidschan | AySel & Arash | Always | 207 |
Den hätte er ohne die anderen skandinavischen Länder zwar nicht geholt, sein Sieg wäre aber auch so eine klare Sache gewesen. Abgezogen wurden hier die Punkte, die von Norwegen, Schweden, Dänemark und Island vergeben wurden.
Wertung ohne die skandinavischen Länder:
Land | Künstler*in/Band | Song | Punkte |
---|---|---|---|
🇳🇴 Norwegen | Alexander Rybak | Fairytale | 351 |
🇮🇸 Island | Yohanna | Is It True? | 186 |
🇦🇿 Aserbaidschan | AySel & Arash | Always | 181 |
Hinter der Geschichte
Wir hatten schon gar nicht mehr geglaubt, dass uns ESC-Kommentatoren-Legende Peter Urban noch für ein Interview zusagen würde. Wochen waren seit der ersten Anfrage vergangen. Doch kurz vor Produktionsschluss meldete sich Urban doch noch und wir konnten kurzfristig ein Zoom-Interview mit ihm aufzeichnen – für die eingefleischten ESC-Fans in unserer Gruppe erfüllte sich damit ein großer Traum! Da das ganze Gespräch nicht in unseren TV-Beitrag passen würde, haben wir es hier in voller Länge online gestellt.