Gewerkschaften gelten seit jeher als Inbegriff von Solidarität. Vor gut zwei Jahrhunderten haben Arbeitnehmer*innen erste Vorläufer ins Leben gerufen. Die Anfänge waren beschwerlich, mittlerweile sind sie aber in vielen Branchen fester Bestandteil unserer Gesellschaft.
Text: Laura Feuerlein, Jonathan Guthy, Lisa-Maria Schröpfer, Alexander Steger
einsteins. Interview
Was heute für Arbeitnehmer*innen selbstverständlich ist, musste hart erkämpft werden. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Kevin Kühnert, erinnert im Gespräch mit einsteins. an die Relevanz von Gewerkschaften für die Demokratie und blickt auf die gewerkschaftliche Situation während der Corona-Pandemie. Außerdem erklärt der Direktor des Institutes für Soziale Bewegung an der Ruhr-Universität Bochum, Stefan Berger, im Interview mit einsteins. die Motive zur Gründung von gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen. In einem Zeitstrahl zur Gewerkschaftshistorie beleuchten einsteins. und Berger außerdem Meilensteine der Entstehungsgeschichte.
Bilduelle: IGM Geschäftsstelle Nürnberg
„Es braucht ein gewisses Drohpotenzial“
Kevin Kühnert, Juso-Bundesvorsitzender
Den Tag der Arbeit mit traditionellen Großdemonstrationen am 1. Mai zu begehen, konnte 2020 erstmals nur online stattfinden. Nach dem beschwerlichen Weg der flächendeckenden Legalisierung von Arbeiter*innenprotesten, stehen Gewerkschaften nun während der Corona-Pandemie vor der nächsten großen Herausforderung. Die hartnäckigen Kämpfe der Arbeitnehmer*innen, die unten im Zeitstrahl detaillierter betrachtet werden, haben sich gelohnt.
Warum es sinnvoll ist, als Arbeitnehmer*in Teil einer Gewerkschaft zu sein, welche Lehren wir aus der Corona-Krise ziehen können und warum das Einstehen für gemeinschaftliche Werte ein wichtiges Gut unserer Demokratie ist: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD und Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert, 30, über die Bedeutung von Gewerkschaften.
Bildquelle: SPD
Herr Kühnert, warum sollte man als Arbeitnehmer*in Teil einer Gewerkschaft sein?
Am Ende ist es ja immer der Arbeitgeber, mit dem ich meine Urlaubsansprüche, den Lohn, die Arbeitszeit und auch meine Arbeitsbedingungen aushandle. Und zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt es ein Machtgefälle. Wir leben nun mal nicht in einer idealen Welt, in der wir alle einen Super-Arbeitgeber haben, der immer nur das Beste für uns möchte. Es geht also für Beschäftigte darum, die eigenen Interessen bestmöglich zu vertreten. Und genau das funktioniert am besten, wenn man seine Kräfte bündelt und gemeinsam und organisiert mit einem mächtigen Verhandlungspartner verhandelt.
Sind Gewerkschaften also ein Zeichen von Solidarität?
Für mich gilt das alte Mantra: „Gemeinsam ist man stärker“. Das ist auch das vorrangige Prinzip von Gewerkschaften. Der Dachverband Deutscher Gewerkschaftsbund hat nahezu sechs Millionen Mitglieder. Und darum geht’s: ernst genommen zu werden vom Tarifpartner. Es braucht eben ein gewisses Drohpotenzial, sonst lächelt mancher Arbeitgeber nur müde.
„Das Ziel von Gewerkschaften ist nicht, Unternehmen plattzumachen. “
Die jährlichen Demonstrationen am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, sind dieses Jahr der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Warum sind diese Demonstrationen wichtig?
Demonstrationen erfüllen mehrere Zwecke. Einerseits das Ziel, Forderungen und Positionen in den öffentlichen Raum zu tragen und andere Menschen damit zu erreichen. Das mussten wir dieses Jahr erstmals online durchführen. Andererseits gibt es da aber eine noch viel wichtigere zweite Funktion.
Erklären Sie, bitte!
Die Demonstrationen zum Tag der Arbeit sind auch ein Zeichen von Selbstvergewisserung in der Gewerkschaftsbewegung. Zu wissen und zu zeigen: Wir sind viele und das eben nicht nur abstrakt auf dem Papier. Konkret zu sehen, welche Größe eine Gewerkschaft hat. Bundesweit für gemeinsame Interessen einzustehen, egal aus welcher Branche. Das Ziel von Gewerkschaften ist nicht, Unternehmen plattzumachen. Die Nachhaltigkeit und der Erhalt der Arbeitsplätze stehen im Fokus.
Systemrelevanten Berufen wurde in den letzten Wochen vermehrt zugejubelt und Respekt gezollt. Wird in der Bevölkerung ein Umdenken stattfinden und werden diese Bereiche in Zukunft auch finanziell mehr wertgeschätzt?
Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch, aber die jüngere Geschichte lehrt uns, dass aus öffentlichem Applaus und Anerkennung eben nicht zwingend bessere Arbeitsbedingungen und bessere Bezahlung geworden sind. Niemand sollte denken, dass das in der nächsten Lohnrunde von alleine läuft. Das ist nicht nur Aufgabe der Politik! Wir haben den Pflegemindestlohn mehr oder weniger als Lückenbüßer eingeführt, auch weil es in dem Bereich zu wenig gewerkschaftliche Organisation gibt. Es führt kein Weg an einer besseren Organisierung vorbei.
Hat die aktuelle Krise auch Vorteile für Arbeitnehmer*innen?
Der Begriff Vorteile klingt für mich etwas zynisch, ich sehe eher Lehren als wichtiges Resultat aus dieser Pandemie. Mit Sicherheit wird das nicht die letzte krisenhafte Situation auf dem Arbeitsmarkt sein. Was man sehr deutlich sehen kann, ist, dass Personen, die unter einem Tarifvertrag arbeiten, momentan einfach viel besser geschützt sind.
Rund sieben Millionen Arbeitnehmer*innen in Deutschland beziehen aktuell Kurzarbeitergeld, viele müssen dennoch nicht die Grundsicherung beantragen. Ist das ein Verdienst der Gewerkschaften?
Ein Blick in den Osten des Landes zeigt uns auch: Dort sind weniger Menschen gewerkschaftlich organisiert. Die Folge ist, dass in diesen Bundesländern aktuell weit mehr Menschen als im Rest des Landes Grundsicherung beantragen müssen. Auch, weil die durchschnittlichen Löhne niedriger sind.
Einige Stimmen aus der CDU/CSU fordern eine Kürzung des Mindestlohns. Wie kann die Wirtschaft des Landes wieder angekurbelt werden?
Sicherlich nicht, wenn wir den Arbeitnehmern jetzt auch noch Geld wegnehmen. Wir müssen Unternehmen unter der Bedingung stützen, dass sie ihre Beschäftigten schützen. Und wir entlasten jetzt gezielt Menschen, die nicht auf großem Fuß leben. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass gerade diejenigen mit kleineren Einkommen ihr Geld sofort wieder in den Wirtschaftskreislauf hineingeben. Die letzte Erhöhung des Mindestlohns um 19 Cent war kaum mehr als der Inflationsausgleich. Diejenigen Beschäftigten, die so sehr knapsen, nun als erste für Einsparungen in den Blick zu nehmen, das offenbart schon eine krasse Unverfrorenheit.
Betriebsräte vertreten die Interessen der Belegschaft eines Unternehmens. Warum sollten sich Arbeitnehmer*innen innerhalb einer Firma zusammenschließen?
Sozialpartnerschaft ist hier ganz wichtig. Nicht die Kapitalseite sollte entscheiden, was für ihre Schäfchen am besten ist, sondern in einer demokratisch mündigen Gesellschaft können Arbeitnehmer selber ihre Interessen vertreten und dem Arbeitgeber geschlossen und gemeinsam gegenübertreten.
Solidarität ist für mich…
„… das gemeinsame Einstehen von Stärkeren und Schwächeren füreinander in einem gemeinsamen Interesse: dem Streben nach mehr Gerechtigkeit.“
Gewerkschaften aus der Sicht eines Historikers
Bildquelle: RUB
Stefan Berger, 56, ist Direktor des Institutes für Soziale Bewegung an der Ruhr-Universität Bochum. Der Professor für Sozialgeschichte und moderne deutsche Geschichte legt einen Schwerpunkt seiner Forschungen auf Industrielles Erbe und die vergleichende Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte. Im Gespräch mit einsteins. beleuchtet er die historischen Hintergründe der Gewerkschaften.
Warum haben Arbeiter*innen überhaupt Gewerkschaften gegründet?
Gewerkschaften wurden gegründet, um Arbeitern eine stärkere Stimme gegenüber den Unternehmern zu geben. Die Arbeiter in einem Betrieb oder einer Branche haben sich zusammengefunden, weil sie natürlich über die Masse – also durch die vielen Mitglieder – eine stärkere Stimme hatten gegenüber den Unternehmern. Die besaßen gegenüber dem einzelnen Arbeiter deutlich mehr Macht.
Sind Gewerkschaften historisch betrachtet solidarisch?
Genau. Es ist eine Solidarität, die einen bestimmten Zweck verfolgt. Es ist also keine idealistische Solidarität. Die Leute schließen sich zusammen, weil sie glauben, dass sie zusammen mehr Macht haben. Das heißt, sie sind untereinander als Mitglieder einer Gewerkschaft solidarisch.
Was passierte zur Zeit des NS-Regimes?
Am 2. Mai 1933 wurden die deutschen Gewerkschaften zerschlagen, die deutschen Gewerkschaftshäuser besetzt, viele Gewerkschaftler wurden verhaftet, einige gefoltert, andere ermordet, viele mussten ins Exil. Anstelle der Gewerkschaften trat die sogenannte Deutsche Arbeitsfront, die Arbeiter und Unternehmer in einer Organisation vereinigen sollte im Sinne einer Volksgemeinschaft. Die freien Gewerkschaften wurden abgeschafft, weil sie den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge waren.
Eine Lehre, die die Gewerkschaften aus ihrer Unterdrückung durch die Nationalsozialisten zogen, war, dass sie eine Einheitsgewerkschaft wollten. So entstand der Deutsche Gewerkschaftsbund, der DGB.
Gab es eine Zeit, in der das Konzept der Gewerkschaften als starke Stimme der Arbeiter*innen hätte scheitern können?
Ich würde sagen, die Gewerkschaften stehen heute in vielen Ländern unter einem großen Druck. Die Blütezeit der Gewerkschaften in den westlichen Staaten war eigentlich die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre. In dieser Zeit waren sie in vielen Ländern anerkannte, wichtige Tarifpartner. Hier kam es tatsächlich dazu, dass Gewerkschaften erreichten, dass Löhne erhöht, der Arbeitsschutz verbessert wurde, die Arbeitszeit sank und so weiter.
Ab den 70er Jahren mit der Ölkrise 1973 und der Wirtschaftskrise gerieten die Gewerkschaften immer mehr in die Defensive. Dazu kam, dass sich im wirtschaftlichen Denken der Neoliberalismus immer stärker durchsetzte. Dieser beruht auf dem Glauben an freie Märkte und ein freies Unternehmertum, das durch nichts eingeschränkt werden kann – idealerweise weder durch den Staat noch durch Gewerkschaften.
„Margaret Thatcher hat systematisch Gewerkschaften zerstört, die einst zu den mächtigsten Europas gehörten.“
Man sieht das besonders gut im Großbritannien der 1980er Jahre unter der damaligen Regierungschefin Margaret Thatcher. Sie hat systematisch Gewerkschaften zerstört, die einst zu den mächtigsten Europas gehörten.
Wie könnte die Zukunft der Gewerkschaften aussehen?
Der ehemalige DGB-Vorsitzende Michael Sommer hat das so formuliert: „Gewerkschaften sind das Stärkste, was die Schwachen haben.“ Die Idee ist also, dass diejenigen in der Gesellschaft, die weder reich noch mächtig sind, etwas bewirken können. In der Masse verfügen sie über mehr Macht. Diese Grundidee der Gewerkschaften ist bis heute wichtig für die Schwachen in der Gesellschaft. Seit neuestem findet eine Diskussion statt, ob es nicht von Nutzen wäre, wenn sich Gewerkschaften nicht nur auf den beruflichen Aspekt unseres Lebens, sondern auch darüber hinaus mit weiteren Teilen unserer Gesellschaft beschäftigen. Sozusagen eine Gewerkschaft für das Leben vor Ort ganz allgemein. Im Englischen spricht man dabei schon von „Social Movement Union“.
Was ist Solidarität für Sie?
Solidarität ist sehr schwierig zu definieren, weil sie immer kontextgebunden ist. Sie ist immer abhängig von historischen, spezifischen Situationen. Solidarität ist letztendlich ein Versuch, sich mit anderen zusammen zusammenzuschließen, um ein Ziel zu erreichen. Dieses Ziel kann immer ganz anders sein. Daher ist Solidarität kein Begriff, den man inhaltlich festmachen kann, sondern es geht im Prinzip um das gemeinsame Einstehen für eine Sache.
Zeitstrahl der Gewerkschaftshistorie
Jetzt seid ihr gefragt!
Wie gut habt ihr aufgepasst? Mit diesen Quizfragen könnt ihr testen, ob Ihr die wichtigsten Punkte der Entwicklung von Gewerkschaften im Gedächtnis behalten habt.
Hinter der Geschichte
57 E‑Mails, 26 Telefonate, 5 Facebook-Nachrichten und 3 iMessages. So viele Kontaktaufnahmen hat es gebraucht, bis das Reporter*innenteam Gewerkschaften die Recherche für Online, Print und TV abschließen konnte.