Hinter den Schlägen
Das Thema häusliche Gewalt erhält in der Corona-Pandemie viel Aufmerksamkeit. Einige Betroffene holen sich jedoch erst nach vielen Jahren voller Gewalt Hilfe. Warum schweigen sie so lange?
Text: Melanie Barth, Niklas Bröckl, Daniela Hausruckinger, Kim Josephus und Clara Schillinger
einsteins. Feature
A ls die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ihren Höhepunkt erreichten, warnten Expert*innen und Politiker*innen wie Familienministerin Franziska Giffey von der SPD vor einem Anstieg häuslicher Gewalt. Um diesem Fall entgegenzuwirken, haben Organisationen wie die „Union deutscher Zonta Clubs“ (UdZC) Aktionen initiiert, um den Betroffenen Hilfe anzubieten. In Kooperation mit zahlreichen Apotheken deutschlandweit ist die Kampagne „Maske 19″ ins Leben gerufen worden. Dabei geben Mitarbeiter*innen Hinweiszettel mit Telefonnummern von Beratungsstellen an die Kund*innen heraus, die an der Kasse „Maske 19″ sagen. Daraufhin wird die Polizei verständigt und ein Ermittlungsverfahren gegen den gewalttätigen Partner eingeleitet. Auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat im April die Kampagne „Zuhause nicht sicher?“ gestartet. An Ein- und Ausgängen von Supermärkten sowie auf Kassenzetteln wurde dabei auf Hilfetelefone hingewiesen.
Hilfe oft erst nach Jahren
Die Aktionen rücken das Thema Häusliche Gewalt wieder in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Dabei existierte das Problem schon vor Corona in unserer Gesellschaft. Auch das Hilfesystem, bestehend aus Beratungsstellen und Frauenhäusern, gibt es in Deutschland schon seit rund vier Jahrzehnten und ist durch eine kurze Suche im Internet für jede*n auffindbar. Und doch kann es bei häuslicher Gewalt mehrere Jahre dauern, bis sich eine betroffene Frau Hilfe sucht. Warum erst so spät?
Anmerkung von Jessica
Expert*innen und Psycholog*innen sprechen angelehnt an den Fachterminus meist von „Opfern“ häuslicher Gewalt. Betroffene wie Jessica finden diesen Begriff oft unzutreffend, weil er nicht wertfrei ist und falsche Vorstellungen mit sich bringt. „Opfer geben auf, das ist eine geklärte Sache. Ich bin eine Betroffene, weil ich nicht aufgegeben habe und ich kämpfe weiter“, sagt sie.
Er zeigt ihr, wer „der Boss ist“
Als Jessica mit ihrem damaligen Freund zusammenkommt, ist zunächst alles gut. Er ist liebevoll, macht ihr Komplimente und ist für sie da. Aber mit den ersten Streitereien in der Beziehung zeigen sich auch Anzeichen von Gewalt bei ihm. Er hält sie fest, versucht sie zu bändigen. Zeigt ihr, wer „der Boss ist“. Dieses Verhalten zieht sich durch die ersten Konflikte ihrer Beziehung. Nach über einem Jahr kommt es zu einem Streit auf offener Straße. An den Grund kann sie sich heute nicht mehr erinnern. Erst diskutieren sie, dann schreien sie sich an. Er versucht sie festzuhalten, unter Kontrolle zu bringen. Jessica wehrt ab. Dann ein Schlag. Mit voller Wucht schlägt er seinen Kopf auf ihre Nase. Ihr wird schwindlig und schlecht, sie will ins Krankenhaus fahren. Das lässt ihr Freund nicht zu. Nach Stunden überredet sie ihn doch, lügt bei der Behandlung und erzählt den Ärzt*innen, sie sei gegen eine Autotür gelaufen. Es ist das erste Mal, dass er ihr Gewalt antut. Die Szenen sind ihr bis heute in Erinnerung geblieben.
„Er konnte der liebste Mensch sein.“
Die Gewalttaten häufen sich. Mehrere Male trennt sie sich von ihm, zieht zu ihren Eltern oder schläft bei einer Freundin. Doch ihr Freund lässt nicht locker. „Er konnte dann der liebste Mensch sein“, sagt sie. Nach einer Trennung legt er Rosen an das Schild am Ortseingang, daneben ein Plakat mit den Worten „Ich liebe dich, Jessica“. Er redet auf sie ein, schmeichelt ihr. Das bringt sie immer wieder zurück zu ihm. Als Jessica einmal während einer Trennung einen anderen Mann kennenlernt, fährt er zu ihr und macht ihr einen Heiratsantrag. Sie sagt Ja. Sie zieht wieder mit ihm zusammen und seine Aggressionen laden sich an Jessica ab.
Nachdem ihr Freund sie kurz darauf im Auto verprügelt, fährt sie mit ihrer besten Freundin zur Polizei und erstattet Anzeige gegen ihn. Tags darauf steht er vor ihrer Tür und versucht sie umzustimmen. Wie gewohnt schenkt er ihr rote Rosen. Sie zieht die Anzeige wieder zurück.
Gewalt wird zur Normalität
Die Gewalt wird für Jessica zur Normalität. Als er sie eines Tages an den Haaren packt, durch die Wohnung schleift und gegen eine Kommode schleudert, entschließt sie sich, dem zu entfliehen. Sie schafft es mithilfe ihrer besten Freundin und ihrem jetzigen Ehemann, die ihr zur Seite stehen. Doch die Folgen dieser Erfahrungen spürt sie bis heute. Bestimmte Dinge und Marken erinnern sie an die Zeit voller Gewalt, es sind Trigger für sie. Weil ihr Ex-Freund sie damals im Auto verprügelt hat, fährt sie nicht mehr so gern wie früher. Rote Rosen kann Jessica nicht mehr sehen.
Es hat auch ihre Denkweise verändert. Lange Zeit erkannte Jessica nicht, dass sie häusliche Gewalt erlebt hat. Nach ihren Erlebnissen hat sie sich vorgenommen, nicht mehr wegzusehen und einzuschreiten, wenn sie Gewalttaten mitbekommt.
Hilfetelefon
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erleben oder erlebt haben. Unter der Nummer 08000 116 016 und auch online wird Betroffenen geholfen, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Nachbar*innen und Freund*innen werden anonym und kostenfrei beraten.
Aus unserer Recherche
Für einsteins. haben wir nicht nur mit Jessica, sondern auch mit ihren Eltern und ihrem Ehemann gesprochen. Ihre Erzählungen haben uns als Team sehr berührt. Deshalb fiel es uns teilweise schwer, nicht zu emotional an die Geschichte heranzugehen. Mit diesen offenen Worten und der Unterstützung von so vielen Seiten über die gesamte Recherche hinweg hatten wir zu Beginn nicht gerechnet. Umso dankbarer sind wir dafür, denn ohne sie wäre unser Rechercheprozess sicherlich vollkommen anders verlaufen.