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Hin­ter den Schlägen

Das The­ma häus­li­che Gewalt erhält in der Coro­na-Pan­de­mie viel Auf­merk­sam­keit. Eini­ge Betrof­fe­ne holen sich jedoch erst nach vie­len Jah­ren vol­ler Gewalt Hil­fe. War­um schwei­gen sie so lange? 

Text: Mela­nie Barth, Niklas Bröckl, Danie­la Haus­ruck­in­ger, Kim Jose­phus und Cla­ra Schillinger

ein­steins. Feature

Gra­fik von André Schubert

A ls die Aus­gangs- und Kon­takt­be­schrän­kun­gen ihren Höhe­punkt erreich­ten, warn­ten Expert*innen und Politiker*innen wie Fami­li­en­mi­nis­te­rin Fran­zis­ka Gif­fey von der SPD vor einem Anstieg häus­li­cher Gewalt. Um die­sem Fall ent­ge­gen­zu­wir­ken, haben Orga­ni­sa­tio­nen wie die „Uni­on deut­scher Zon­ta Clubs“ (UdZC) Aktio­nen initi­iert, um den Betrof­fe­nen Hil­fe anzu­bie­ten. In Koope­ra­ti­on mit zahl­rei­chen Apo­the­ken deutsch­land­weit ist die Kam­pa­gne „Mas­ke 19″ ins Leben geru­fen wor­den. Dabei geben Mitarbeiter*innen Hin­weis­zet­tel mit Tele­fon­num­mern von Bera­tungs­stel­len an die Kund*innen her­aus, die an der Kas­se „Mas­ke 19″ sagen. Dar­auf­hin wird die Poli­zei ver­stän­digt und ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen den gewalt­tä­ti­gen Part­ner ein­ge­lei­tet. Auch das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Fami­lie, Senio­ren, Frau­en und Jugend (BMFSFJ) hat im April die Kam­pa­gne „Zuhau­se nicht sicher?“ gestar­tet. An Ein- und Aus­gän­gen von Super­märk­ten sowie auf Kas­sen­zet­teln wur­de dabei auf Hil­fe­te­le­fo­ne hingewiesen. 

Hil­fe oft erst nach Jahren

Die Aktio­nen rücken das The­ma Häus­li­che Gewalt wie­der in den Mit­tel­punkt öffent­li­cher Debat­ten. Dabei exis­tier­te das Pro­blem schon vor Coro­na in unse­rer Gesell­schaft. Auch das Hil­fe­sys­tem, bestehend aus Bera­tungs­stel­len und Frau­en­häu­sern, gibt es in Deutsch­land schon seit rund vier Jahr­zehn­ten und ist durch eine kur­ze Suche im Inter­net für jede*n auf­find­bar. Und doch kann es bei häus­li­cher Gewalt meh­re­re Jah­re dau­ern, bis sich eine betrof­fe­ne Frau Hil­fe sucht. War­um erst so spät? 

Jes­si­ca erzählt von ihren Erfah­run­gen in einer gewalt­vol­len Bezie­hung. Ihren vol­len Namen möch­te sie aus per­sön­li­chen Grün­den nicht nennen.
Lydia Benecke arbei­tet als Kri­mi­nal­psy­cho­lo­gin und beschäf­tigt sich mit den Ursa­chen für häus­li­che Gewalt. 

Anmer­kung von Jessica

Expert*innen und Psycholog*innen spre­chen ange­lehnt an den Fach­ter­mi­nus meist von „Opfern“ häus­li­cher Gewalt. Betrof­fe­ne wie Jes­si­ca fin­den die­sen Begriff oft unzu­tref­fend, weil er nicht wert­frei ist und fal­sche Vor­stel­lun­gen mit sich bringt. „Opfer geben auf, das ist eine geklär­te Sache. Ich bin eine Betrof­fe­ne, weil ich nicht auf­ge­ge­ben habe und ich kämp­fe wei­ter“, sagt sie. 

Er zeigt ihr, wer „der Boss ist“

Als Jes­si­ca mit ihrem dama­li­gen Freund zusam­men­kommt, ist zunächst alles gut. Er ist lie­be­voll, macht ihr Kom­pli­men­te und ist für sie da. Aber mit den ers­ten Strei­te­rei­en in der Bezie­hung zei­gen sich auch Anzei­chen von Gewalt bei ihm. Er hält sie fest, ver­sucht sie zu bän­di­gen. Zeigt ihr, wer „der Boss ist“. Die­ses Ver­hal­ten zieht sich durch die ers­ten Kon­flik­te ihrer Bezie­hung. Nach über einem Jahr kommt es zu einem Streit auf offe­ner Stra­ße. An den Grund kann sie sich heu­te nicht mehr erin­nern. Erst dis­ku­tie­ren sie, dann schrei­en sie sich an. Er ver­sucht sie fest­zu­hal­ten, unter Kon­trol­le zu brin­gen. Jes­si­ca wehrt ab. Dann ein Schlag. Mit vol­ler Wucht schlägt er sei­nen Kopf auf ihre Nase. Ihr wird schwind­lig und schlecht, sie will ins Kran­ken­haus fah­ren. Das lässt ihr Freund nicht zu. Nach Stun­den über­re­det sie ihn doch, lügt bei der Behand­lung und erzählt den Ärzt*innen, sie sei gegen eine Auto­tür gelau­fen. Es ist das ers­te Mal, dass er ihr Gewalt antut. Die Sze­nen sind ihr bis heu­te in Erin­ne­rung geblieben. 

Psy­cho­lo­gi­sche Pro­zes­se bei häus­li­cher Gewalt

„Er konn­te der liebs­te Mensch sein.“

Die Gewalt­ta­ten häu­fen sich. Meh­re­re Male trennt sie sich von ihm, zieht zu ihren Eltern oder schläft bei einer Freun­din. Doch ihr Freund lässt nicht locker. „Er konn­te dann der liebs­te Mensch sein“, sagt sie. Nach einer Tren­nung legt er Rosen an das Schild am Orts­ein­gang, dane­ben ein Pla­kat mit den Wor­ten „Ich lie­be dich, Jes­si­ca“. Er redet auf sie ein, schmei­chelt ihr. Das bringt sie immer wie­der zurück zu ihm. Als Jes­si­ca ein­mal wäh­rend einer Tren­nung einen ande­ren Mann ken­nen­lernt, fährt er zu ihr und macht ihr einen Hei­rats­an­trag. Sie sagt Ja. Sie zieht wie­der mit ihm zusam­men und sei­ne Aggres­sio­nen laden sich an Jes­si­ca ab. 

Nach­dem ihr Freund sie kurz dar­auf im Auto ver­prü­gelt, fährt sie mit ihrer bes­ten Freun­din zur Poli­zei und erstat­tet Anzei­ge gegen ihn. Tags dar­auf steht er vor ihrer Tür und ver­sucht sie umzu­stim­men. Wie gewohnt schenkt er ihr rote Rosen. Sie zieht die Anzei­ge wie­der zurück. 

War­um ertra­gen Betrof­fe­ne die Gewalt?

Gewalt wird zur Normalität

Die Gewalt wird für Jes­si­ca zur Nor­ma­li­tät. Als er sie eines Tages an den Haa­ren packt, durch die Woh­nung schleift und gegen eine Kom­mo­de schleu­dert, ent­schließt sie sich, dem zu ent­flie­hen. Sie schafft es mit­hil­fe ihrer bes­ten Freun­din und ihrem jet­zi­gen Ehe­mann, die ihr zur Sei­te ste­hen. Doch die Fol­gen die­ser Erfah­run­gen spürt sie bis heu­te. Bestimm­te Din­ge und Mar­ken erin­nern sie an die Zeit vol­ler Gewalt, es sind Trig­ger für sie. Weil ihr Ex-Freund sie damals im Auto ver­prü­gelt hat, fährt sie nicht mehr so gern wie frü­her. Rote Rosen kann Jes­si­ca nicht mehr sehen. 

Es hat auch ihre Denk­wei­se ver­än­dert. Lan­ge Zeit erkann­te Jes­si­ca nicht, dass sie häus­li­che Gewalt erlebt hat. Nach ihren Erleb­nis­sen hat sie sich vor­ge­nom­men, nicht mehr weg­zu­se­hen und ein­zu­schrei­ten, wenn sie Gewalt­ta­ten mitbekommt. 

Wel­che Fol­gen hat häus­li­che Gewalt für die Betroffenen?

Hil­fe­te­le­fon

Das Hil­fe­te­le­fon Gewalt gegen Frau­en ist ein bun­des­wei­tes Bera­tungs­an­ge­bot für Frau­en, die Gewalt erle­ben oder erlebt haben. Unter der Num­mer 08000 116 016 und auch online wird Betrof­fe­nen gehol­fen, rund um die Uhr. Auch Ange­hö­ri­ge, Nachbar*innen und Freund*innen wer­den anonym und kos­ten­frei beraten. 

Aus unse­rer Recherche

Für ein­steins. haben wir nicht nur mit Jes­si­ca, son­dern auch mit ihren Eltern und ihrem Ehe­mann gespro­chen. Ihre Erzäh­lun­gen haben uns als Team sehr berührt. Des­halb fiel es uns teil­wei­se schwer, nicht zu emo­tio­nal an die Geschich­te her­an­zu­ge­hen. Mit die­sen offe­nen Wor­ten und der Unter­stüt­zung von so vie­len Sei­ten über die gesam­te Recher­che hin­weg hat­ten wir zu Beginn nicht gerech­net. Umso dank­ba­rer sind wir dafür, denn ohne sie wäre unser Recher­che­pro­zess sicher­lich voll­kom­men anders verlaufen. 

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