Damit wir uns begegnen

Viele Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen fühlen sich im Alltag allein gelassen. Zum einen wegen der Erkrankung selbst und zum anderen durch fehlende Barrierefreiheit. Veranstaltungen zu besuchen oder etwas mit Freunden zu unternehmen ist für sie oft schwer. 

Text: Julian Herzel, Chiara Iacona und Melanie Rödel
Illustrationen: Malena Gies

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Audioversion des Artikels – eingesprochen von Chiara Iacona

Im Eiscafé sind alle Tische besetzt und das Ende der Schlange an der Eistheke kaum zu erkennen. Urlauber:innen, Tourist:innen und Bewohner:innen aus dem mittelfränkischen Dinkelsbühl genießen die Sonne und sitzen in der „Rialto Eis Boutique“. Während ein Mann am Nachbartisch einen riesigen Spaghettieisbecher löffelt, schlürft Clara ihre Eisschokolade. Von den anderen Besucher:innen treffen sie ab und zu Blicke. Mittlerweile macht ihr das nichts mehr aus. Sie ist es gewohnt, dass sie länger angestarrt wird als andere Menschen.  

Clara hat eine seltene, chronische Krankheit namens „Epidermolysis bullosa“, die umgangssprachlich auch Schmetterlingshaut genannt wird, da die Haut von Betroffenen so empfindlich ist, wie die eines Schmetterlingsflügels. Ihre Hautschichten kleben nicht richtig zusammen und so ist ihre Haut extrem empfindlich: Sie hat überall Wunden und Blasen, die durch Druck oder Reibung entstehen, ebenso auf ihren Schleimhäuten. Die Krankheit sorgt auch dafür, dass sich die Sehnen verkürzen. Claras Finger und Zehen sind deshalb zusammengewachsen.

Andere Besucher:innen im Eiscafé starren sie nicht nur wegen ihrer Wunden an, sondern auch wegen ihres Rollstuhls. Auf diesen ist sie aufgrund ihrer fortgeschrittenen Erkrankung angewiesen. Clara selbst sagt, dass sie nicht einfach so mal spontan ein Eis essen gehen könne. Im Gegenteil: Sie muss planen, mit wem sie wo und wann hingeht. Es müssen auch immer ihre Eltern oder Freund:innen dabei sein, die ihr im Notfall mit dem Rollstuhl helfen können. Sie ist auf die Zeit ihrer Begleitungen angewiesen – deshalb fällt es Clara schwer, persönliche, soziale Kontakte zu halten oder gar erst zu knüpfen. Deshalb verbringt sie viel Zeit allein zuhause. 

Dieses Gefühl von Einsamkeit kennt nicht nur Clara. Vor allem Menschen mit langandauernden gesundheitlichen Problemen, chronischen Erkrankungen oder Behinderungen kennen dieses Phänomen aus ihrem Alltag.

Der Sozialverband Deutschland stellt in einem Gutachten aus dem Jahr 2020 fest, dass vor allem dieser Teil unserer Gesellschaft ein höheres Risiko hat, einsam zu sein. Gründe dafür sind Barrieren bei kulturellen Veranstaltungen, wie einem Volksfest, einem Kino- oder Theaterbesuch und die fehlende Teilhabe am Arbeitsleben. 

Dr. Sarah Karim forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Bedeutung der Erwerbstätigkeit für Menschen mit Behinderung. Auch sie kommt zu dem Ergebnis, dass eine andauernde Arbeitslosigkeit zu mehr Einsamkeit führen kann. Eine Erwerbstätigkeit „hat natürlich sehr viel positive Auswirkung, weil es uns unseren gesellschaftlichen Status zuweist, unsere gesellschaftliche Position bestimmt, aber wir uns auch ein Stück weit selbst verwirklichen können“, sagt die Forscherin. Gerade der Arbeitsplatz ist ein wichtiger Ort, um Bekanntschaften zu machen. Jedoch betont die Disability-Studies-Forscherin, dass nur das Vorhandensein von sozialen Beziehungen natürlich keine Schlüsse auf deren Qualität zulasse. 

Zusätzlich kann auch die Beeinträchtigung selbst es schwerer machen, soziale Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Clara erzählt, dass sie am Anfang ihrer Schulzeit viele Freund:innen hatte, doch es mit der Zeit immer weniger wurden. Die Interessen wurden zu verschieden, die Gemeinsamkeiten schwanden. Das lag auch an Claras Erkrankung und den Einschränkungen, die sie dadurch im Alltag hat. Sie verbringt beispielsweise viel Zeit bei Ärzt:innen und das Versorgen ihrer Wunden morgens dauert mindestens zweieinhalb Stunden.

Da Clara in ihrem Alltag nahezu vollständig auf Hilfe angewiesen ist, macht ihr besonders das Zeichnen und Malen Spaß, da sie dies auch mühelos allein machen kann. Ihr Lieblingsmotiv: Der Schmetterling. Nichtsdestotrotz fehlt ihr manchmal Gesellschaft. 

Ein vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichter Teilhabebericht aus dem Jahr 2021 bestätigt, dass Clara mit diesem Gefühl nicht allein ist. Demnach haben 33 Prozent der Menschen mit Behinderung das Gefühl, dass ihnen Gesellschaft fehlt – doppelt so häufig wie Menschen ohne Behinderung.   

Oftmals ist es jedoch nicht nur die chronische Erkrankung oder Behinderung selbst, weshalb sich Betroffene einsam fühlen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Orte des öffentlichen Lebens sind mit Rollstuhl immer noch sehr schwer zugänglich, egal ob es sich um eine zu hohe Bordsteinkante handelt, einen unebenen Weg oder fehlende behindertengerechte Parkplätze vor Ort. Mal eben als Rollstuhlfahrer:in auf ein Konzert oder einen Ausflug zu gehen ist oftmals schwierig oder gar unmöglich. Personen mit einer chronischen Erkrankung haben manchmal wenig Energie, müssen sich viel ausruhen und haben deshalb nur begrenzte Möglichkeiten ihre Freizeit zu gestalten.

Von dieser fehlenden Energie erzählt auch Lou. Sie ist 25 Jahre alt und hat chronische Erkrankungen, die dafür sorgen, dass ihr Körper sehr schwach ist. Über die Hälfte eines Tages verbringt sie im Bett, um Energie zu sparen. Nur ungefähr zweimal die Woche kann sie das Haus verlassen. Diese Zeit muss sie zum Einkaufen und für Arzttermine nutzen. Für Freizeitgestaltung bleiben wenige Möglichkeiten und wenn sie etwas unternimmt, ist sie an den nächsten Tagen extrem erschöpft. 

Auch für Clara ist es schwierig etwas zu unternehmen. Gerade ein langandauernder Ausflug mit dem Rollstuhl sei für sie oftmals nicht möglich, und schon gar nicht allein.

Zumal Menschen mit chronischen Krankheiten häufig durch Krankhausaufenthalte aus dem Alltag gerissen werden. Clara erzählt, dass sie nach den meisten Krankenhausaufenthalten kaum in der Lage gewesen ist längere Zeit zu sitzen, geschweige denn überhaupt zu laufen. Dies liege vor allem an den kräftezehrenden Behandlungen und Operationen. Es braucht meist mehrere Tage, bis sie wieder das Haus verlassen kann und Wochen bis sie wieder so viel Kraft und Energie hat wie zuvor.

Schon Claras Zuhause zeigt, wie schwierig es ist mit Rollstuhl zu leben. Sie steht auf und muss zum Frühstück erstmal eine Etage tiefer kommen. Das ist gar nicht so einfach, da sie die Treppen zu Fuß hinunterlaufen muss. Aus Kostengründen gibt es keinen Treppenlift in ihrem Haus. Durch regelmäßiges Krafttraining schafft sie das Treppensteigen zwar, aber die fehlende Barrierefreiheit im Haus erschwert ihren Alltag – aber nicht nur das: Allgemein ist fehlende Barrierefreiheit zuhause und im öffentlichen Raum für Menschen im Rollstuhl ein Faktor, der zu Einsamkeit führen kann.  

Das kannst Du tun

Sarah Karim sieht es als Aufgabe eines jeden und jeder Einzelnen, sich darum zu bemühen, mehr Menschen mit Behinderung im Alltag zu begegnen. Das erreiche man zum Bespiel durch den Besuch inklusiver Veranstaltungen oder den Eintritt in einen inklusiven Sportverein. 

Gerade die Caritas-Stellen in Fürstenfeldbruck und Rosenheim dienen als Anlaufstelle für Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten. An beiden Standorten gibt es eine spezifische „Behindertenberatung“. Beratungsstellen des Bayerischen Roten Kreuzes, der LAG SELBSTHILFE Bayern, der Malteser oder der Lebenshilfe haben leider keine Stellungnahme gegeben.  

Grundsätzlich solle man auf einen Menschen mit Behinderung genauso zugehen wie auf einen Menschen ohne Beeinträchtigung. Wir alle haben unsere Beeinträchtigungen – die einen seien sichtbar, andere seien es nicht, sagt Susanne Blöchinger, Beauftragte für Menschen mit Behinderung, von der Caritas Rosenheim. Ähnlich sieht das ihre Kollegin Maria Drexler von der Caritas Fürstenfeldbruck. Sie sagt: Man solle Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderung mit Wertschätzung, Empathie und Achtung gegenübertreten. Doch wie handelt man nun als Passant:in in einer Situation, in der beispielsweise ein:e Rollstuhlfahrer:in vor einer zu hohen Bordsteinkante Halt macht?

Gerade, wenn es um Menschen im Rollstuhl geht, soll die Hilfe zunächst angeboten werden, bevor voreilig geholfen wird. Bei einer Person mit Kinderwagen würde man schließlich auch nicht sofort nach dem Griff greifen. Viel zu oft habe es Clara leider schon erlebt, dass Passant:innen ungefragt mit der Aussage: „Ach, ich helfe Ihnen mal schnell“ an ihren Rollstuhl gingen.

Susanne Blöchinger spricht in solchen Fällen von einer Grenzüberschreitung. Es sei zwar schön, dass Menschen helfen möchten, jedoch sollte dies aus Respekt vor Menschen mit Beeinträchtigungen niemals ungefragt geschehen. Blöchinger erklärt, dass man den Rollstuhl fast als eigenes Körperteil ansehen müsse und somit ein Eingriff in die intime Sphäre entstehe.  

Der Rollstuhl ist für Viele eine Hilfe und keine Behinderung. Er hilft ihnen mobiler zu sein, besser rauszukommen. Für Lou war es ein ganz besonderer Moment als sie zum ersten Mal in ihrem Rollstuhl saß.  

„Da musste ich auch einfach weinen, weil es so überwältigend war, dass ich gedacht habe: ich kann jetzt wieder mehr am Leben teilhaben, ich kann jetzt wieder raus und das war einfach so krass, dass ich angefangen habe zu weinen – aber nicht weil es schlimm war, sondern weil ich so Hoffnung hatte.“

Lou

Im Gegensatz zu Clara ist Lou aber noch voll gehfähig. Das ist allerdings anstrengend für sie, weshalb sie den Rollstuhl immer nutzt, wenn sie nach draußen geht. Lou muss teilweise weite Strecken zurücklegen, um zu spezialisierten Ärzt:innen zu kommen. Dabei ist sie stets von der Bahn abhängig. Beim Einsteigen in den Zug steht sie manchmal auf und hebt den Rollstuhl hinein. „Das ist manchmal schwierig das auszuhalten, wenn die Leute einen dann so anschauen als würden sie denken: Bist du wirklich krank? Dieses Gefühl, keinen Platz zu haben und teilweise nicht gewollt zu sein, ist schon schwierig.“ 

Susanne Blöchinger kenne viele Menschen mit Beeinträchtigung, die aufgrund dieser unangenehmen Aufmerksamkeit versuchen, derartige Situationen zu vermeiden und deshalb erst gar nicht öffentliche Verkehrsmittel verwenden. Überhaupt die Wohnung zu verlassen, sei mit Rollstuhl oft schwierig. In einigen Gebäuden gebe es zwar Aufzüge, aber zur Eingangstür hin, seien dann doch oft ein paar Stufen vorhanden, die im Rollstuhl schwer oder nur mit Hilfe zu überwinden sind. Das sorge dafür, dass die Menschen selten ihre Wohnungen verlassen. Die einfachste und kosteneffizienteste Lösung wäre dabei in vielen Fällen eine Rampe.

Die Caritas-Beauftragte aus Rosenheim muss leider feststellen, dass sich viele Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen allein gelassen fühlen. Demnach ist es an der Zeit sich für Belange dieser Menschengruppe einzusetzen, auch wenn man nicht persönlich davon betroffen ist.

Eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung zu verbessern, ist, für mehr Inklusion und Barrierefreiheit zu sorgen. Es reicht aber nicht, nur die Option zu haben an gewissen Aktivitäten teilzunehmen. Entscheidend ist, dass man sich dort auch willkommenen fühlt. Wir können alle dazu beitragen, dieses Gefühl zu schaffen.

Zuerst fragen

Aufeinander aufpassen

Grenzen abbauen

Nicht jede Person im Rollstuhl braucht Deine Hilfe. Viele kommen gut allein zu Recht. Wenn Du das Gefühl hast, dass die Person Hilfe brauchen könnte, sprich sie einfach freundlich an und frag nach.

Halte Abstand zu Menschen im Rollstuhl. Manche sind sehr empfindlich, manche brauchen den Platz zum Rangieren. Wichtig ist: Pass auf deine Mitmenschen auf – egal ob mit oder ohne Behinderung.

Barrieren im Alltag sorgen dafür, dass Menschen mit Einschränkungen daran gehindert werden an Orte zu gehen oder an Veranstaltungen teilzunehmen, zu denen sie gerne möchten. Setz dich für barrierefreie Gestaltung ein.

Das kann die Gesellschaft tun

„Inklusion” bedeutet eine gegenteilige Form der „Separation”. Maria Drexler sieht den Inklusionsstatus von Behindertenwerkstätten als diskussionswürdig: Menschen mit Behinderung werden dort eher separiert. Inklusives Arbeiten wäre im eigentlichen Sinn, in einer Firma – die auf den Menschen und seine Bedürfnisse eingeht – tätig zu sein. Karim erinnert daran, dass Menschen mit Behinderungen häufig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Der Wunsch in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, der nach wie vor von Behindertenrechtsbewegungen komme, drücke eine Forderung nach gesellschaftlicher Inklusion aus. 

„Diversität, also dass es behinderte Menschen gibt und zwar mit allen möglichen Beeinträchtigungen, nicht nur im Rollstuhl, ist eigentlich das Normale, das Natürliche. Dass wir uns aber nicht begegnen, ist eine kulturelle Sache.“

Dr. Sarah Karim

„Diese Situation haben wir geschaffen durch Strukturen, die ausschließend sind, durch nicht barrierefreie Städte, Transportmittel, durch die Segregation in Einrichtungen. Deswegen fehlen die Berührungspunkte zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen”, erklärt Karim weiter.

Eine unzureichende Barrierefreiheit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft. Denn von barrierearmen Orten profitieren nicht nur behinderte Menschen. Eine Rampe hilft beispielsweise auch Eltern, die einen Kinderwagen schieben oder älteren Damen mit Rollator. Über einen Aufzug ist auch der Sportler dankbar, der wegen einer Verletzung auf Krücken geht oder der ältere Herr von nebenan, dem es schwerfällt Treppen zu steigen. Menschen, die blind sind oder nur eingeschränkt sehen können, freuen sich über vertonte Texte. Davon können aber auch Personen profitieren, die (noch) nicht lesen können.  

Hier ist es allerdings wichtig, im Austausch mit den Menschen zu bleiben, denen diese Anpassungen helfen sollen. Ein Aufzug wird für Menschen im Rollstuhl erst dann richtig hilfreich, wenn sie die Knöpfe aus dem Sitzen bedienen können. Ein Spiegel hilft beim „Ausparken“, da Aufzüge meist nicht groß genug sind, um darin zu wenden. Es gibt auch immer wieder Rampen, die mit guter Intention gebaut sind, aber steil sind. Rollstuhlfahrer:innen brauchen dann trotzdem eine helfende Hand, die sie schiebt. Ein Leitstreifen für seheingeschränkte Personen muss auch tatsächlich einem sinnvollen Weg folgen, wo nicht plötzlich eine Bank oder ein Zeitungsständer im Weg stehen. 

Einsamkeit entsteht, wenn Menschen weniger soziale Kontakte haben, als sie sich wünschen. Dafür braucht es Inklusion im Bereich der Freizeitgestaltung und Mitdenken bei Events, damit Menschen mit Einschränkungen mit ihren Freund:innen dort hingehen können oder sie nutzen können, um neue Menschen kennenzulernen. Der Sozialverband Deutschland stellt in einem Gutachten zum Thema Einsamkeit fest, dass in Städten gesellige Räume fehlen, „aber auch zunehmend in ländlichen Räumen fehlt es an Orten der Begegnung, an denen Menschen ‚zwanglos‘ miteinander ins Gespräch kommen, sich engagieren und gemeinsam etwas unternehmen.“ Inklusive Projekte sind laut Blöchinger eine große Chance, Einsamkeit zu verringern, da Menschen sich dann zu etwas zugehörig fühlen. Allein die Gewissheit darüber, in naher Zukunft einen Ort zu haben, um rauszukommen und Leute zu treffen, würde Vieles verändern. 

Das Ziel aller muss es sein, „die Barrieren im Kopf abzubauen und die Stimme zu erheben“, sagt Susanne Blöchinger. Insgesamt sollte allen von uns in Erinnerung bleiben: Definiere einen Menschen nicht über seine Beeinträchtigung, denn ihn machen viel mehr seine Persönlichkeit und seine Handlungen aus.