Audioversion des Artikels – eingesprochen von Amelie Mühlhausen

Larissa Richters Klavierspiel dringt aus dem Haus nach draußen und mischt sich mit dem Vogelgezwitscher. Andere Menschen verbringen ihre Mittagspause mit Freunden im Café oder nehmen sich den Nachmittag frei, um an den See zu fahren. Larissa hat das Gefühl, sich eigentlich an ihr Klavier anketten zu müssen.
So oder so ähnlich geht es der professionellen Pianistin immer dann, wenn ein Konzert ansteht. Um sich nicht von den Vorbereitungen ablenken zu lassen, gibt sie dann nicht einmal mehr Klavierunterricht, sondern vergräbt sich in den Stücken, die sie auf der Bühne präsentieren wird. Dann ist es so weit, sie sitzt am Klavier, das Publikum ist begeistert, großer Schlussapplaus, zurück ins Hotel – schon wieder allein.

Nicht nur Larissa ist in ihrem Beruf oft allein. So geht es vielen Berufspianist:innen. Prof. Hans-Peter Stenzl, selbst Pianist und erster Vizepräsident des Deutschen Tonkünstlerverbands beschreibt das Verhältnis zu Musikschaffenden in der Gesellschaft so: „Es ist vielleicht vergleichbar mit einem Artisten auf dem Hochseil. Sie wünschen ihm oder ihr natürlich nichts Böses, aber die Aktionen finden haarscharf am Abgrund statt.“ Der Abgrund: soziale Isolation, Drogenabhängigkeiten, psychische und körperliche Probleme. Die Europäische Kommission hat im vergangenen Jahr einen eigens beauftragten Bericht veröffentlicht, der die aktuelle Forschungslage zusammenfasst. Unter dem Titel „The Health and Wellbeing of Professional Musicians and Music Creators in the EU” geben die Autor:innen einen Überblick darüber, wie es Menschen, die ihr Geld mit Musik verdienen, in der EU gerade geht. Ein Problem, das sie sehen: Die Kombination aus dem Leistungsdruck in der Musikindustrie, dem häufig fehlenden sozialen Netzwerk und Charakterzügen, die für Musikschaffende typisch sind, schaden der psychischen Gesundheit.

„Es ist vielleicht vergleichbar mit einem Artisten auf dem Hochseil. […] die Aktionen finden haarscharf am Abgrund statt.“

Prof. Hans-Peter Stenzl

Forschung zu einzelnen Instrumentengruppen und vor allem Klavierspieler:innen gibt es kaum. Wovon jedoch ausgegangen werden kann: Das Wohlbefinden von Musiker:innen hängt auch davon ab, wie ausgeprägt die soziale Isolation ist. Diplom-Psychologin Heidi Brandi beobachtet, dass beispielsweise Menschen, die allein am Klavier auftreten, besonders stark davon betroffen sind. Brandi hat 2012 das Zentrum für Berufsmusiker in Hamburg gegründet. Seit einigen Jahren arbeiten sie und ihr Team vor allem psychotherapeutisch und begleiten Musiker:innen, die ein gesundes Arbeitsverhalten aufrechterhalten wollen. Auch Pianist:innen kommen immer wieder zu ihr. Ihre Probleme, so Brandi, lassen sich fast immer auf eine soziale Isolation zurückführen. Häufig ist das den Betroffenen zu Beginn aber gar nicht bewusst. Sie kommen mit anderen Sorgen zu Brandi. Im Verlauf der Therapie kommt ans Licht, dass die meisten ihrer Probleme mit der sozialen Isolation zusammenhängen. Für sie ist das Alleinsein zum Leiden geworden.

Das Alleinsein, aus dem sich diese soziale Isolation ergibt, ist an sich ein objektiver Zustand – es ist die Tatsache, dass keine anderen Menschen anwesend sind. Für viele Pianist:innen beginnt das aber schon im Kindesalter und hat weitreichende Konsequenzen. Es kann sie später davon abhalten, aus der Einsamkeit auszubrechen. Brandi beobachtet das auch in ihrer Arbeit. Viele Eltern, die ihr Kind fördern wollen, übersehen, wie wichtig Sozialerfahrungen in der Gruppe für die Entwicklung junger Menschen sind. „Wenn ein Kind nur von einem Lehrer zum nächsten gefahren wird und zu Hause stundenlang übt, dann fehlen den Menschen natürlich wichtige Kompetenzen im Bereich der Sozialisation, der Identitätsentwicklung und der körperlichen Erfahrung.“ Die sozialen Kompetenzen, die Klavierschüler:innen mit einer solchen Erfahrung nicht lernen, sind schwer nachzuholen. „Wenn ich eine Scheu entwickle, mich sozialen Situationen zu stellen, weil ich nicht gelernt habe, wie ich mich verhalten soll, dann trägt das weiter zu diesem Mangel bei.“ Der Mangel an sozialen Situationen, der nicht an anderer Stelle ausgeglichen wird, ist das, was aus Alleinsein Einsamkeit macht und aus dem objektiven Zustand ein Leiden.

„Man darf dann ja auch nicht einfach sagen: ‚Ich gehe jetzt mal nach draußen, mit anderen spielen.‘“

Larissa Richter

Auch Larissa Richter hat im Nachhinein das Gefühl, ihre ganze Kindheit am Klavier verbracht zu haben. Aufgewachsen in Russland hat sie in der Musikschule neben dem Unterricht am Klavier auch theoretische Inhalte gelernt. Das sei auch wichtig für die musikalische Ausbildung. Weniger gut gefiel ihr der Drill in ihrer Ausbildung. „Als Kind hat man ja auch noch andere Interessen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich beispielsweise viel Sport gemacht habe, weil das so viel Zeit gekostet hätte“, erzählt sie. Zu ihrer Ausbildung gehörten für Larissa damals jede Woche drei Stunden Unterricht mit ihrer Lehrerin und dazu täglich mehrere Stunden Üben zu Hause. „Da habe ich mich schon einsam gefühlt. Man darf dann ja auch nicht einfach sagen: ‚Ich gehe jetzt mal nach draußen, mit anderen spielen.‘“ Die Zeit, die sie damals allein am Klavier verbracht hat, sieht sie heute als Investition. „Das ist eben wie Leistungssport. Alles andere macht für so ein Niveau keinen Sinn.“ Trotzdem hat sie im Kleinen rebelliert: „Wenn meine Mutter nicht zugehört hat, wie ich übe, habe ich zum Beispiel von Queen ‚The Show Must Go On‘ und solche Sachen nach Gehör gespielt, weil ich mich auch für andere Musik interessiert habe.“

Im Gegensatz zu Menschen, die ein Orchesterinstrument spielen, spielen Berufspianist:innen das Klavier in der Regel solo. Um den hohen Ansprüchen, die in der Musikindustrie gestellt werden, gerecht zu werden, üben sie täglich viele Stunden – allein. Prof. Hans-Peter Stenzl erklärt: „Nach diesen acht Stunden sind Sie erschöpft, Sie wollen nur noch nach Hause und ins Bett. Aber da ist ja in der Regel auch kein sozialer Kontakt.“ Damit geht es den Pianist:innen nicht anders als anderen Arbeitnehmenden, die Umstände, in denen sie arbeiten, befeuern die Einsamkeit aber noch zusätzlich.

Um diese Einsamkeit zu vermeiden, gibt es viele Möglichkeiten im Alltag kleine Dinge zu ändern und damit einen Ausgleich zu Zeit allein vor dem Klavier zu finden. Im Zentrum für Berufsmusiker orientieren sich Heidi Brandi und ihr Team zusätzlich an der Betreuung im Leistungssport, um ihren „Leistungsmusiker:innen“ zu helfen. Eine wertvolle Strategie, die Brandi aus dem Leistungssport übernommen hat, ist das mentale Üben. Dazu gehört alles, das nicht direkt am Instrument stattfindet. Beispielsweise Übungen zur Selbstregulierung wie autogenes Training, Regenerationstechniken und der Umgang mit Erfolg und Niederlage.

Warum das hilft, erklärt Heidi Brandi so: „Das Gehirn lernt Muster durchbrechen zu können und durch diese Übung entwickelt sich ja mein persönlicher musikalischer Ausdruck.“ Dass man durch diese zusätzlichen Aufgaben Zeit fürs Üben verliert, ist laut Brandi kein Problem. „Ich habe Pianist:innen, aber auch Sänger:innen, die sagen, ich muss gar nicht mehr so viel meine Stimme trainieren, am Instrument üben, weil das Gehirn auch durch diese anderen Übungen geschult wurde.“ Gleichzeitig wünscht sie sich, dass die Musizierenden mehr Wert auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit legen, die vor allem im Austausch mit anderen Menschen passiert. „Wir wollen nicht irgendwelche Roboter sehen, die auf der Bühne etwas abspielen. Jemand wie Lang Lang (Anmerkung der Redaktion: ein berühmter Pianist) hat sich doch wahnsinnig entwickelt in seiner Persönlichkeit und das trägt sicherlich zu seinem Erfolg bei.“

Autogenes Training

Das autogene Training ist ein Entspannungsverfahren. Mithilfe von Muskelentspannung und Gedanken, die den Kopf zum Entspannen bringen sollen, versetzt sich die durchführende Person aus dem Wachzustand in einen ruhigeren Bewusstseinszustand. Dieser Vorgang wird regelmäßig geübt, damit die Person ihn im Ernstfall abrufen kann. Das kann beispielsweise nach sehr aufregenden Situationen helfen, um sich wieder zu erden.

Dass es beim Klavierspielen um mehr geht als nur die Noten auf dem Papier, weiß auch Larissa Richter. Sie merkt an: „Technisch sind wir alle gut. Sonst hätten wir nichtmal die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule geschafft.“ Für Larissa gibt es aber noch den persönlichen Touch, den Interpret:innen einem Stück mitgeben. Der trägt dazu bei, dass das Stück die Zuhörer:innen berührt oder nicht. „Diese persönliche Note, keine Angst davor zu haben ein wenig anders zu sein – das macht den persönlichen Touch aus und den muss man sich bewahren.“ Geübte Ohren wie die von Larissa können diese persönliche Note heraushören und damit eine:n Pianist:in wiedererkennen.

Prof. Hans-Peter Stenzl glaubt als Pianist zusätzlich an die Liebe zu seiner Kunst. „Was alle großen Künstler, die ich kenne, gemeinsam haben, ist Demut. Das heißt, dass über ihr gesamtes Leben die Musik weit über Ihnen als individuellen Persönlichkeiten steht.“ Auch für Brandi hat es etwas mit einer gesunden Arbeitseinstellung zu tun wieder zu erkennen, warum man sich für das Klavier entschieden hat. Der Perspektivwechsel vom Tun müssen zum Tun dürfen ist beiden wichtig.

Larissa Richter hat sich für ihr Instrument entschieden. Heute fühlt sie sich erst einsam, wenn sie mehrere Tage allein am Klavier sitzen musste. „Manchmal denke ich mir, dass es schöne wäre ein Instrument zu spielen, dass ich bei gutem Wetter draußen spielen kann.“ Häufiger ist die Ruhe, die das Üben allein mit sich bringt für sie aber ein schönes Erlebnis. „Es gibt so Tage, wo ich mich wirklich eingrabe im Chaos an Noten und mich nicht um die Ordnung kümmere, sondern mich nur mit der Musik beschäftige. Das genieße ich.“