Der unsichtbare Draht
- von Sebastian Braun
Nach der Wende 1989 schließen Ost- und Westdeutsche Freundschaften. Ein Kneipengespräch mit sechs Freunden aus dem Grenzgebiet darüber, wie Menschen aus zwei grundlegend verschiedenen Systemen zusammenfinden können.
Es ist vier Uhr nachmittags, das Gasthaus „Zum Schiff“ im thüringischen Sallmannshausen ist ziemlich leer. Nur an einem Tisch sitzen sechs Gäste, vor ihnen ein paar Bier, ein Wasser und eine Cola. An der Tischecke am Fenster sitzt Horst. Er und seine Ehefrau Bärbel kommen aus Wommen. Das Dorf lag zur Zeit der innerdeutschen Grenze in der Bundesrepublik. Die anderen vier am Tisch stellen sich reihum vor: Heiko, Karl, Ernst und Jörg – alle aufgewachsen in der DDR. Jetzt leben die sechs einen Kilometer entfernt voneinander in den Dörfern Wommen und Sallmannshausen. Zu DDR-Zeiten aber war Sallmannshausen im Osten und Wommen im Westen.
Die Grenzzäune und der Grenzfluss Werra machten jeden Kontakt unmöglich.
In den Jahren nach der Wende lernten die vier ehemaligen Ostdeutschen auf verschiedene Weise Horst und Bärbel kennen – über den Vater, im Gasthaus oder als neuen Nachbarn.
Heute hat Horst seine Kumpels im Gasthaus „Zum Schiff“ zusammengetrommelt. Hier haben die EinwohnerInnen von Wommen und Sallmannshausen 1989 ihr erstes gemeinsames Silvester gefeiert.
EINSTEINS im Gespräch mit sechs Freunden aus zwei Systemen.
Horst hebt ein großes dunkles Fotoalbum auf den Tisch. Eine Seite zeigt Fotos von dem Tag, an dem die Grenze zwischen Wommen und Sallmannshausen geöffnet wurde. Von da an konnten die BewohnerInnen auf direktem Wege in das jeweils andere Dorf gelangen. Die Öffnung wurde gebührend gefeiert. Das war auch der Tag, an dem Horst zum ersten Mal in Sallmannshausen und im „Schiff“ war. „Und dann sind wir von hier nach Wommen rüber und dort in die Kneipe“, erzählt Horst. „So viel Schnaps hab’ ich noch nie gesoffen“, sagt Karl und lacht.
Ernst steht immer mal wieder auf, um seiner Frau Lisa mit den Getränken hinter der Theke zu helfen. Heiko verlässt den Schankraum gelegentlich für eine Zigarette. Nachdem die sechs nun lange über die Probleme von Freundschaften und der Wiedervereinigung diskutiert haben, wollen wir wissen, was sie damals über ihre Nachbarn dachten. Es kursierten viele Vorurteile, auch heute noch. Waren es nur die Reichen im Westen und die Naiven im Osten?
Die Striche auf den Bierdeckeln sind mehr geworden und im Gasthaus „Zum Schiff“ sitzen mittlerweile auch andere Gäste. Horst, Bärbel, Heiko, Karl, Ernst und Jörg blättern in dem alten Fotoalbum und amüsieren sich über das Bild im DDR-Reisepass von Heiko. Jeder trinkt sein Bier aus und zahlt. Alle machen sich auf den Heimweg. Die einen nach Sallmannshausen, die anderen nach Wommen. Nur mit der Bundesländergrenze dazwischen. Ohne Zaun.