Ungarn: Glücksspiel am Grenzzaun
- von Pascal Tannich
An der ungarisch-serbischen Grenze leben Menschen auf der Flucht im Elend. Legal in die Europäische Union zu kommen, ist ihnen kaum möglich.
Mitten in der flachen nordserbischen Landschaft verfällt ein Stall, an einem Ende bricht der Dachstuhl bereits ein. In ihm leben schon lange keine Tiere mehr. Stattdessen hausen dort Menschen. Sie fliehen vor Krieg und Verfolgung. In der Nähe von Horgos, der letzten serbischen Ortschaft vor der Grenze, campieren sie auf einem verlassenen Bauernhof. Gut zehn Minuten Fußweg vom Bauernhof entfernt steht der ungarische High-Tech-Zaun, der sie daran hindert, in Europa ihr Glück zu suchen.
Der Weg zum Camp Horgos führt über einen schlammigen Pfad. Die einzigen Helfer sind Freiwillige von Escuela con Alma, einer spanischen NGO. Eigentlich sollte das Camp eine Durchgangsstation auf dem Weg in die Europäische Union (EU) sein, doch einige harren hier schon seit Monaten aus. Hinter einem zugewucherten Tor erstreckt sich der Hof. Ein Geflüchteter stapft, das Handy am Ohr, über den immer fester werdenden Pfad. Ein Hase hoppelt vorbei. Der Offroader stoppt, die Freiwillige Susana Costa steigt aus.
Einige Männer stehen um das Auto herum. „Here take this“, sagt sie zu einem von ihnen und wuchtet einen Sack Reis aus dem Auto in seine Arme. Im Kofferraum sind Lebensmittel und Autobatterien, als notdürftige Stromversorgung. „Give one more, please“, sagt der Mann. Sie holt einen zweiten Sack aus dem Auto, binnen Minuten ist der randvolle Kofferraum ausgeladen. Nachdem sie die Geflüchteten versorgt hat, gesellt sich Susana zu ihnen ans Feuer, das vor dem Stall lodert.
Über dem Feuer liegt ein dicker Draht, auf dem mundgerechte Fleischbrocken aufgespießt sind. Susana Costa hat ihr Studium unterbrochen, um den Geflüchteten zu helfen. Die 28-jährige Portugiesin arbeitete bereits als Freiwillige in verschiedenen Projekten in Portugal, Italien und Bosnien. Vor zwei Wochen kam sie nach Subotica. Die Stadt ist mit knapp 140 000 Einwohnern die größte in Nordserbien. In der Region leben viele Geflüchtete in inoffiziellen Camps oder auf der Straße. Dorthin bringt Susana Costa das Nötigste, das sie zum Leben brauchen.
Auf der anderen Seite des Zauns regiert seit neun Jahren die Fidesz-Partei von Staatspräsident von Viktor Orbán. Er strebt, nach eigener Aussage, eine illiberale Demokratie an. In einem solchen Staat gäbe es keine Minderheitenrechte mehr. Seit 2010 erlebt Ungarn den Abbau von Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechten sowie der Pressefreiheit. Alle Tageszeitungen gehören inzwischen Fidesz-nahen Oligarchen. Gerade auf dem Land gibt es daher kaum noch regierungskritische Stimmen. Migration wird von der Orbán-Regierung und dem Großteil der ungarischen Medien mit Terrorismus gleichgesetzt. NGOs, die aus dem Ausland finanziert werden, gelten in Ungarn als bezahlte Aktivisten ausländischer Interessen und müssen eine Sondersteuer bezahlen. Der Grenzzaun, der 2016 fertiggestellt wurde, ist die letzte Konsequenz dieser Politik.
Ziel der Geflüchteten ist es, über die ungarisch-serbische Grenze in die EU zu kommen. Legal ist das kaum möglich, da Ungarn nur zwei Asylanträge pro Werktag annimmt. In beiden Transitzonen darf jeweils ein Asylantrag pro Werktag gestellt werden. Außerhalb der Transitzonen werden in Ungarn keine Asylanträge angenommen. So berichtet es die Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee (HHC) Einsteins. Eine Statistik der EU-Statistikbehörde Eurostat zeigt, dass in Ungarn im Zeitraum von April 2018 bis April 2019 lediglich 505 Asylanträge gestellt wurden. Außerdem müssten sie dann, wegen des Dublin-III-Abkommens, in Ungarn bleiben. Der Vertrag besagt, dass Geflüchtete in dem EU-Land bleiben müssen, in dem sie zuerst registriert worden sind.
Die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl geht laut dem HHC noch weiter: Geflüchtete, die auf der ungarischen Seite des Zauns aufgegriffen werden, fallen häufig gewalttätigen Polizisten zum Opfer. Sie werden geschlagen, oft stundenlang unter unmenschlichen Umständen festgehalten und in vielen Fällen ihrer Wertsachen beraubt. Diese Sofort-Abschiebungen werden push-backs genannt. Das Portal borderviolence sammelt Berichte über push-backs. Gemeldet werden diese von den vor Ort tätigen NGOs wie Escuela con Alma. Von Mai 2018 bis Mai 2019 verzeichnete das Portal in der Region Subotica 101 Personen, die Opfer von push-backs wurden. Viele von ihnen waren damals noch minderjährig. Das jüngste Opfer war Ende Mai 2018 vier Jahre alt. Einige der Berichte umfassen Bilder von Schnittverletzungen und Prellungen. Das geschilderte Ausmaß der Gewalt bestätigen Gespräche mit Geflüchteten in Horgos und Subotica. Sie sind gestrandet zwischen der EU, die ihnen nicht helfen will, und Serbien, das ihnen nicht helfen kann.
Ein junger Mann kommt aus einer Öffnung im Stall. Erst als er im Freien steht, kann er sich aufrichten. Er trägt eine graue Jogginghose und einen grauen Pullover. Einziger Farbklecks: Das um seinen Hals gewickelte rot-grün-schwarze Kufiya, ein arabisches Kopftuch, das als Sonnenschutz getragen wird. Er setzt sich ans Feuer, zündet sich eine Zigarette an, greift nach einem der Fleischbrocken, träufelt etwas Zitronensaft darauf und beißt hinein. Dann stellt er sich als Khan vor.
Die grauen Flip-Flops an Khans Füßen versinken im sandigen Boden. Er steht keine eineinhalb Kilometer außerhalb der EU. Die Sonne brennt vom Himmel. Normalerweise geht der junge Afghane nur nachts zur Grenze, ein Übertritt bei Tageslicht ist völlig unmöglich. Heute will er den Zaun zeigen, der zwischen ihm und seinen Träumen steht. Er geht im Schatten einer Hecke. An beiden Seiten säumen Hanfpflanzen den Feldweg. „They aren’t smokable“, sagt er mit einem enttäuschten Unterton. In seiner linken Hosentasche steckt eine Packung Drehpapier. In der Rechten hat er sein Handy und eine Box, aus der arabische Popmusik dudelt.
Er zündet sich eine Zigarette an. Dann blickt er Richtung Westen: „Up there, they are.“ Mit der rechten Hand zeigt er auf einen circa 30 Meter hohen Wachturm der ungarischen Grenzpolizei. Khan steht jetzt noch einen halben Kilometer von der Grenze entfernt.
Hinter einem mannshohen Erdwall lässt sich der erste Stacheldraht erahnen. „That’s it“, sagt Khan und schaltet die Musik aus. Hundert Meter sind es noch bis zum Grenzzaun, der die europäische Außengrenze an dieser Stelle fast unüberwindbar macht.
Khan rüttelt an einer der Stahlstangen, die den Stacheldraht vor dem Zaun halten. Die Windungen des Stacheldrahts reichen ihm bis zu den Schultern. Er erklärt, wie er den Zaun bereits überwunden hat: „You cut this, this and this“, er zeigt auf die drei Stacheldrahtspiralen. „Don’t cut or touch this“, sagt er und blickt auf den gut zwei Meter hohen Maschendrahtzaun. Oben auf dem Zaun: wieder Stacheldraht. Durch den Maschendraht ziehen sich zwei schwarze Kabel. „When you touch this, it opens speaker“, sagt er und meint die Sprechanlage, die am Zaun installiert ist. „You’re at Hungary border. Go back, bla, bla, bla“, äfft er die Stimme nach, die sonst aus dem Lautsprecher kommt. „Wait, I’ll throw something against it“, sagt er, geht ein paar Schritte und zieht einen toten Ast aus dem hohen Gras. Er wirft ihn gegen den Zaun, doch nichts passiert. Khan hebt kurz die Augenbrauen.
Eine Zigarettenlänge später taucht einige hundert Meter in östlicher Richtung ein schwarzer Pick-Up mit Ladeflächenabdeckung auf. „Hungarian Police, we should go“, sagt Khan völlig entspannt. Der Zaun hat in Sichtweite keine Tore auf der serbischen Seite. So bleiben die ungarischen Grenzpolizisten in Ungarn und Khan in Serbien. „Don’t show them your face“, schiebt er hinterher. Gemächlich geht es zurück Richtung Camp. Langsam rollt der Pick-Up den Weg zwischen den zwei Zäunen hinab, an der Stelle vorbei, an der Khan den Zaun erklärt hat. Es geht der Grenzpolizei darum, Präsenz zu zeigen.
Nachdem die Polizei weg ist, latscht Khan noch einmal kurz Richtung Zaun. Dort klingelt sein Handy. Er telefoniert, spricht eine Mischung aus mehreren Sprachen: „Salam Aleikum“, ein paar Fetzen Farsi oder Urdu, zwei in Afghanistan gängige Sprachen. „Inshallah I will come to France.“ Gestern war Zuckerfest, das Fastenbrechen nach dem islamischen Fastenmonat Ramadan. „It’s like Christmas, everyone calls everyone“, sagt Khan auf dem Rückweg ins Camp.
Am nächsten Tag sitzen zwei Männer vor dem Stall. Einer von ihnen war gestern noch nicht da. Er heißt Saddam, trägt ein blaues Hemd und eine sandfarbene Hose.
Gebeugt auf einem der Bretter sitzend, erzählt er, warum er gestern nicht da war. „I tried again“, stammelt er. Khan sei heute Morgen nach Belgrad aufgebrochen, erzählt er. „To the game“, sagt er. So nennen die Geflüchteten das Glücksspiel, die Grenze zu überqueren. In Belgrad starten die LKWs, in denen Geflüchtete teilweise Tage verbringen, um in eines der EU-Länder zu gelangen, in dem sie Asyl beantragen können. Für die Geflüchteten wird es immer schwerer, in diesem Glücksspiel zu gewinnen. „They have scanners at the border“, sagt Saddam, der gestern in einem LKW entdeckt und von der ungarischen Grenzpolizei wieder nach Serbien abgeschoben wurde.
Heiner Bielefeldt, Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg, sieht hierin einen Verstoß gegen Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonventionen. Dieser verbietet die unbegründete Aus- und Zurückweisung. Die einzige Ausnahme in Artikel 33: Nur wer wegen eines besonders schweren Vergehens bereits rechtskräftig verurteilt ist, kann abgeschoben werden.
„I tried six times“, erzählt Saddam mit zittriger Stimme. Einmal haben ihm ungarische Polizisten all sein Geld abgenommen. „Another time they took my phone and beat me with fists and sticks“, sagt er. Das Hungarian Helsinki Committee bestätigt ein hohes Maß an Gewalt durch ungarische Polizisten gegen Geflüchtete. „I was pushed back six times by now“, sagt Saddam. „But I will try again, what should I do?“ Saddam stammt aus Kabul, vor einem Jahr entschloss er sich, nach Europa zu fliehen. „My brother died in a bomb blast“, sagt er. Seine Augen füllen sich mit Tränen.
Abends sieht Susana nach den ungefähr 20 Geflüchteten, die im Camp Train Station leben. Sie hausen im Rangierbahnhof von Subotica. Auf dem Weg dorthin erzählt sie vom einzigen ihr bekannten Weg, die Scanner an der ungarischen Grenze auszutricksen. „They hide, where the motor is“, sagt sie. Aufgrund der mangelnden Sauerstoffzufuhr und der enormen Hitze unter dem Führerhaus ist es aber lebensgefährlich, sich so in die EU zu schmuggeln. Ein Stück entfernt vom Bahnhof wird das Auto abgestellt, „the security and the police shouldn’t see the car“, sagt sie. Probleme mit Sicherheitsdienst und Polizei soll es in der Vergangenheit immer wieder gegeben haben. Susana ist deshalb noch unsicher, ob sie im Rangierbahnhof erwünscht ist.
Die Sonne verschwindet hinter dem Bahnhof von Subotica. Susana betritt das Gelände durch ein Tor in der Backsteinmauer. Ihr Blick schweift über die Anlage. „We have to watch out for the security“, raunt sie, „I’m not sure if they allow us, to help them“.
Mitten durch die Behausung der Geflüchteten im Rangierbahnhof verläuft ein Gleisbett. Auf beiden Seiten verfallen Häuser, Putz blättert von den Wänden. Unkraut wuchert und Müll liegt zwischen den Schienen. Es sieht nicht so aus, als würden hier Züge fahren. Mittendrin hockt Yasim, unter seinem rechten Auge zeugt eine zwei Finger breite Narbe von seiner Vergangenheit in Afghanistan.
Immer wieder kippt Yasim nach vorne und fängt sich mit beiden Händen auf den Schienen ab. Die Venen an seinen Unterarmen treten hervor. „Look, I got this, after the IED“, sagt Yasim. Er zeigt auf eine weitere, ungefähr eine Hand breit lange Narbe, die sich an der linken Seite seines Kopfes zwischen seinen kurz rasierten Haaren entlang zieht.
Ein Mann in signalgelber Warnweste läuft durch das Gleisbett, es ist ein Security-Mitarbeiter. Als er durch die Gruppe geht, werden die Gespräche rund um ihn herum leiser. Er wechselt ein paar Worte auf Serbisch mit einem der Geflüchteten. Danach verschwindet er entlang des Gleisbettes. Anscheinend ist Susanas Anwesenheit für den Mann in der Warnweste kein Problem.
„I worked as an interpreter“, sagt Yasim. Er fuchtelt, um sich gegen die Moskitos zu verteidigen. Yasims Arme überziehen kleine Schwülste von den Stichen. „I worked with NATO, good people, but they left me“, flüstert Yasim. 2014 sagte die Bundesregierung zu, afghanische Helfer aufzunehmen. Im Jahr darauf verweigerte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einem afghanischen Übersetzer der Bundeswehr Asyl. Jedoch bekam der Übersetzer vor dem Verwaltungsgericht München Recht und durfte in Deutschland bleiben.
Nachdem Yasim in der Region Helmand in Afghanistan Opfer einer Sprengfalle wurde, konnte er nicht mehr als Übersetzer arbeiten. Laut dem letzten Bericht des Afghanistanbeauftragten des US-Kongresses ist die Provinz Helmand momentan die gefährlichste der 34 afghanischen Provinzen. Aus Angst vor den Taliban floh er aus seiner Heimat. „I’m crazy now, my mind doesn’t work“, sagt Yasim, dann lacht er schallend. Er habe zwei Jahre studiert und wollte seinen Abschluss in Afghanistan machen.
Vor eineinhalb Jahren hat Yasim sich auf den Weg nach Europa gemacht. „I came here to find peace“, sagt er. Angekommen sei er vor einigen Wochen in Belgrad. Von der Situation vor Ort berichtet er, dass es so gut wie keine Möglichkeit gibt, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Daher bilden sich Gruppen. Manche von ihnen werden aus der Perspektivlosigkeit heraus kriminell oder greifen zu Drogen. „People drink and snuff things and they become crazy“, sagt er und lacht.
Yasim erwischt eine der Mücken und schnippt ihre Überreste von seinem behaarten Unterarm. „I want to visit my brother in Germany, he is in nursing school“, sagt Yasim, als es um seine Pläne geht. Zuerst wird sein Weg ihn allerdings nach Italien führen. Er glaubt, dort sei es einfacher Asyl zu bekommen.
„Please help me build an Afghan community in Belgrad!“, schreit er in Richtung von Susana, die gerade die Wäsche der Geflüchteten einsammelt. Sie blickt ihn kurz an, lächelt und macht dann weiter. Die anderen im Camp reagieren nicht auf ihn. Niemand scheint ihn ernst zu nehmen.
Die ungefähr zehn Geflüchteten, die um das Gleisbett herumsitzen, stehen auf. Auf der anderen Seite der Gleise bleiben sie stehen und warten. Ein leerer Zug, der einer S‑Bahn ähnelt, rollt im Schritttempo vorbei. Als der Zug vorbei ist, stellt Yasim sich zwischen die Gleise. „If you stand here, he stops, I tried“, sagt er und lacht laut.
Wenige Minuten später, die Sonne ist inzwischen verschwunden, fällt Susana in den Autositz und es geht zurück ans andere Ende von Subotica. Morgen wird sie den Geflüchteten im Rangierbahnhof Anti-Mückenspray vorbeibringen.