Ungarn: Grenzerfahrungen
- von Alexandra Rank
Eine Einordnung der Erlebnisse von Einsteins-Reporter Sebastian Braun an der ungarisch-serbischen Grenze.
Nachdem 2015 viele Geflüchtete und Migranten den Weg über die Balkanroute angetreten hatten und über Ungarn nach Europa gekommen waren, schottete die Regierung von Viktor Orbán die südliche Grenze zu Serbien ab. Wie auch die Zahl der Flüchtlinge wurde die Aufmerksamkeit in den Medien für diese europäische Außengrenze mit der Zeit immer kleiner. Wir wollten uns vor Ort ein Bild davon machen, was dieser Zaun für die Menschen bedeutet. Von unserem gemieteten Apartment in Szeged, der drittgrößten Stadt Ungarns, haben Kilian Beck, Amerio Mele und ich eine Woche lang recherchiert.
Gemeinsam auf der serbischen Seite
Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit vor Ort waren die Begegnungen mit Menschen wie Khan, die offen und freundlich mit uns über ihre Erlebnisse und Erfahrungen gesprochen haben. Einen Tag nach dem Zuckerfest, dem Fastenbrechen nach dem Ramadan, waren wir in einem Camp in der Nähe des serbischen Grenzortes Horgos zu Gast, in dem auch Khan lebt. Gemeinsam mit Susana Costa von der Hilfsorganisation Escuela con Alma fuhren wir auf das Gelände eines brachliegenden Bauernhofs, auf dem etwa zwei Dutzend Männer leben. Über dem Feuer vor der Unterkunft hingen Drähte mit Fleisch. Kaum angekommen, stellten die Bewohner uns eine Schüssel des Fleisches hin und brachten für jeden eine Tasse Tee. Es schmeckte zäh und verkohlt. Um ihre Gastfreundschaft nicht zu verletzen, nahm jeder von uns ein paar Stücke aus der Schüssel, sogar der Vegetarier im Team. Auf die Frage, was wir da gerade essen, antwortete einer der Männer: „It’s lamb.“ Dass wir kein Lamm, sondern einen der auf dem Gelände herumspringenden Hasen vorgesetzt bekommen hatten, erfuhren wir erst, als Susana uns auf dem Heimweg darüber aufklärte.
Unser anschließender Grenzspaziergang mit Khan über sandigen Boden in der Abendsonne war der eindrücklichste Moment unserer Zeit an der ungarisch-serbischen Grenze. Wir sind Teil einer Generation, die in einem Europa ohne Grenzen aufgewachsen ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Männer in Horgos mit der Grenze umgehen, war für uns deshalb schwer nachzuvollziehen. Aber die Hoffnung der Menschen, es im sechsten oder siebten Versuch doch noch nach Europa zu schaffen, war während unserer Zeit im Camp und am Grenzzaun immer wieder spürbar.
Neben der großen Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Flüchtlinge, die wir auf serbischer Seite kennengelernt haben, ist mir eine Begegnung nachdrücklich in Erinnerung geblieben. In Train Station, einem der beiden Camps, die wir in Serbien besucht hatten, kamen wir mit einem Mann ins Gespräch. Während wir ihm das Ziel unserer Arbeit erläuterten, auf die Situation an der Grenze aufmerksam machen zu wollen, wurde seine Hoffnungslosigkeit spürbar. Er glaubt nicht, dass sich durch die Berichterstattung über die Zustände vor Ort etwas verbessern würde. „Wenn ihr mir wirklich helfen wollt, nehmt ihr mich in eurem Auto mit nach Ungarn,“ sagte er in gebrochenem Englisch. Als wir ihm erklärten, dass das nicht möglich sei, antwortete er: „Dann tut nicht so, als ob ihr uns helfen wollt.“ Eine Aussage, die mich als angehenden Journalisten an der Sinnhaftigkeit meiner Arbeit zumindest zeitweise zweifeln ließ.
Während wir mit einigen Geflüchteten auf den Schienen saßen, die quer durchs Camp führen, sprang hinter der Ecke eines der umstehenden Gebäude ein junges Mädchen hervor. Mit kindlicher Leichtigkeit rannte sie ein paar Meter zwischen den Schienen und dem Müll entlang. Sie trug ein gelbes T‑Shirt und zwei Zöpfe. Auf ihrem Rückweg ins Haus habe ich im Gesicht dieses kaum zehn Jahre alten Mädchens das einzige fröhliche Lächeln während unseres Besuchs in Train Station gesehen.