Zwölf Fragen zum Ukraine-Konflikt
- von Jessica Socher
Im Einsteins-Interview erklärt Universitätsprofessorin Dr. Tatiana Zhurzhenko, wie es zum Ukraine-Konflikt kam und welche Parteien am Konflikt beteiligt sind. Der Konflikt spaltet die Ukraine und hat drastische Folgen für die Bevölkerung: Viele junge Menschen flüchten aus der Konfliktregion im Osten des Landes. Ein Interview.
Einsteins: Wie begann der Konflikt in der Ukraine?
Zhurzhenko: Im Jahr 2013 gab es keine Anzeichen dafür, dass es zu einem Konflikt kommen würde. Die Lage schien ziemlich stabil zu sein. Dann, im November 2013, haben sich der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch und die ukrainische Regierung im letzten Moment gegen ein Assoziationsabkommen (Anm. d. Red.: Völkerrechtlicher Vertrag, der eine bestimmte Beziehung zwischen einer internationalen Organisation und einem Nichtmitgliedsstaat festlegt) mit der Europäischen Union entschieden. Damit begannen die Proteste, anfangs vor allem in Kiew. Die Menschen haben für die EU-Integration demonstriert, also für eine proeuropäische Politik in der Ukraine. Dann sind die Proteste eskaliert, weil die Polizei Gewalt angewendet hat. Die Gewalt führte zu einer großen Empörung, durch die immer mehr Menschen auf die Straße gingen. Für die Regierung wurde es schnell sehr schwierig, die Lage unter Kontrolle zu halten. Im Februar 2014 kam es zur Eskalation, bei der dutzende Menschen in Kiew starben. Das Janukowytsch-Regime wurde gestürzt. Das war der Anfang des Konflikts, den wir heute haben.
Welche verschiedenen Parteien sind am Konflikt beteiligt?
Es gibt in der Ukraine politische Kräfte, die für eine Annäherung an die EU sind. Ebenso gibt es Parteien, die eher für eine nähere Zusammenarbeit mit Russland stehen. Die „Partei der Regionen“ (Anm. d. Red.: Ukrainische Partei, die zwischen dem 25. Februar 2010 und dem 22. Februar 2014 mit Wiktor Janukowytsch den Präsidenten stellte) war eine Partei des großen Business, von großen Oligarchen. Es war nicht in ihrem wirtschaftlichen Interesse, dass das russische Kapital in die Ukraine kommt. In diesem Sinn waren sie also nicht prorussisch. Aber ihre Identitätspolitik haben sie prorussisch betrieben, im Sinne eines gemeinsamen kulturellen Raums mit Russland. Das Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union war die große Hoffnung für den proeuropäischen Teil der Gesellschaft. Diese Bürger waren sehr enttäuscht, als das Abkommen nicht zu Stande kam. Am Anfang der Proteste ging es um die EU-Integration, später immer mehr um den Kampf gegen die Oligarchenwirtschaft, gegen Janukowytschs Politik und vor allem gegen die Korruption. Korruption war das Hauptproblem.
Welche Gebiete in der Ukraine sind betroffen?
Der Konflikt ist im Osten. Dort befinden sich zwei administrative Einheiten: die Region Donezk und die Region Luhansk. Ein Teil beider Regionen ist nicht unter der Kontrolle von Kiew. Aber auch für die Menschen, die nahe an der Frontlinie wohnen, ist kein normales Leben mehr möglich. Die Infrastruktur ist zerstört und viele sind auf Dienstleistungen von Institutionen wie Krankenhäusern oder Universitäten angewiesen, die inzwischen unter der Kontrolle der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk sind. (Anm. d. Red.: Beide Volksrepubliken wurden während des Krieges 2014 ausgerufen und sind nicht international anerkannt). Der Westen des Landes ist unter ukrainischer Kontrolle. Die Bevölkerung dort ist abgeschnitten von der Konfliktregion. Die Trennungslinie ist ein tiefer Schnitt in das Alltagsleben der Menschen. Vor allem sind Familien betroffen, die auf beiden Seiten leben. Deshalb gibt es viel Verkehr über diese Linie, trotz der damit verbundenen Gefahren. Sie zu überqueren, ist keine einfache Sache. Es gibt lange Wartezeiten und die Regeln sind unübersichtlich. Seit 2015 hat sich die Front sehr wenig verschoben. Ich glaube, es gibt keine Versuche, diese Linie zu ändern. Beide Seiten denken, dass das zu einer unkontrollierten Eskalation führen könnte.
Ist das Land durch diesen Konflikt gespalten?
Die Ukraine, ein in Ost und West gespaltenes Land — das ist ein ziemlich populärer Diskurs. In den westlichen, aber auch in den russischen Medien ist das ein typischer Rahmen, um den Konflikt zu verstehen. In Wirklichkeit ist es komplizierter. Es ist wahr, dass die Menschen im Westen und im Osten des Landes verschiedene politische Präferenzen haben. Sie wählen verschiedene Parteien. Das zeigen die Wahlergebnisse. Doch so einfach ist es nicht. Auf regionaler Ebene ist der Osten nicht homogen, es gibt verschiedene Kräfte. In manchen Gebieten blieb es ruhig, in anderen hat die Regierung die Kontrolle verloren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Nicht nur Identität oder kulturelle Unterschiede, sondern auch die Interessen von lokalen Eliten spielen dabei eine Rolle.
Führen die zwei Sprachen, Russisch und Ukrainisch, zusätzlich zu Problemen im Land?
Wir sehen immer wieder, wie Politiker diese Frage instrumentalisieren. Sie wollen ihre Wählerschaft auf diese Weise mobilisieren. Die Umfragen zeigen aber, dass die Menschen dort ganz andere Probleme haben. Sie haben sich schon seit langer Zeit damit arrangiert, im Alltag beide Sprachen, Ukrainisch und Russisch, zu sprechen. Seit den Ereignissen des Frühlings 2014 gibt es zwei Tendenzen: Auf der einen Seite haben viele russischsprachige Ukrainer begriffen, dass Russisch zu sprechen keine Identitätssache ist. Die Loyalität zur Ukraine als Land hat Priorität gegenüber der Sprache, die sie im Alltag sprechen. Andererseits gibt es eine andere Tendenz: Als das Janukowytsch-Regime gestürzt wurde und der Krieg im Osten begann, waren viele der Meinung, dass die ukrainische Sprache im öffentlichen Raum gestärkt werden müsse. Ihre Begründung: Wäre das früher geschehen, dann wäre das alles gar nicht erst passiert. Deshalb wird die ukrainische Sprache gefördert, zum Beispiel im Bereich der Medien und der Buchproduktion. Es ist eine sehr komplizierte Dynamik.
Warum bezeichnet man den Krieg in der Ostukraine meist nur als einen „Konflikt“?
Gesetzlich gesehen durfte man ihn damals nicht als Krieg bezeichnen. Die Bevölkerung hat auch geglaubt, dass die Lage sich schnell wieder normalisieren und nicht zu einem dauerhaften Konflikt werden würde. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für die Lage. In der Alltagssprache reden die Menschen heute oft von Konflikt oder Krieg, viele auch von Bürgerkrieg. Russland ist daran interessiert, dass alles als interner Konflikt dargestellt wird. Eine alternative Bezeichnung dafür ist der Begriff „russische Intervention“. Dahinter steckt der Anspruch, dass die Ukraine ihre Territorien wieder unter ihre Kontrolle bringt. Wieder andere sagen, es sei eigentlich ein Krieg zwischen Russland und dem Westen, für den die Ukraine nur das Schlachtfeld ist.
Welchen geschichtlichen Hintergrund hat Donezk?
Donezk ist eine Industriestadt. Die Mehrzahl der Leute dort hat eine besondere Mentalität, sie versteht sich als Arbeiterklasse. Das Problem war nach dem Zerfall der Sowjetunion: Wie geht man mit dieser Region um? Wie kann man sie modernisieren? Die Oligarchen haben die Kohle- und Stahlindustrie dort übernommen und hatten damit eine starke Kontrolle über diese Region. Sie waren Arbeitgeber, Sponsoren von Projekten und die politische Elite zugleich. Das erklärt den Erfolg von Janukowytsch und der „Partei der Regionen“. Als Janukowytsch Präsident wurde, hatten viele den Eindruck, dass der Donezker Clan nun nach Kiew und vielleicht auch in andere Regionen expandiert. Deshalb gab es gegenüber Donezk ein gewisses Ressentiment: Zum einen war es ein Gebiet, das von der „Partei der Regionen“ und den Oligarchen kontrolliert wird, zum anderen leben dort Leute, die noch ihre sowjetische Mentalität haben und Russisch sprechen. Das ist wieder nur die eine Seite. Ich kenne viele Leute und Kollegen, die das andere Donezk repräsentieren, das ukrainisch war und sich auch als Teil der Ukraine gefühlt hat. Es gab nach 2014 genug Leute, die wollten, dass Donezk in der Ukraine bleibt. Sie haben versucht, sich zusammenzutun und auf die Straße zu gehen. Aber sie haben verloren.
Was ist 2014, nach den Ereignissen in Kiew, in Donezk passiert?
Die lokale Elite war unentschieden. Sie wollte einfach schauen, womit sie am meisten Gewinn macht. Doch plötzlich waren Aktivisten in der Stadt, die zuvor niemand gesehen hatte. Sie haben vor der Menge gesprochen und wollten auch an die Macht. Heute ist belegt, dass dies Leute aus Russland waren, die dabei halfen, Unruhe zu stiften. Sie kamen mit Waffen und brachten öffentliche Gebäude unter ihre Kontrolle. In Donezk herrschte mehrere Monate eine unbestimmte Situation. Die ukrainische Verwaltung funktionierte noch, aber gleichzeitig gab es diese parallele Machtstruktur. Zum Beispiel haben sich die lokale Polizei und die Geheimdienste auf die andere Seite gestellt. Sie haben ihre Arsenale geöffnet und Waffen an die Separatisten ausgegeben. Es wird immer noch diskutiert, wie genau das passierte und wer die Verantwortung dafür trug. Im Grunde war es ein Verrat durch die lokalen Eliten und Behörden − sie sind Kiew nicht treu geblieben.
Wie ist die heutige Situation in Donezk?
Ich kann nur sagen, was ich aus den öffentlichen Medien weiß. Es ist sehr schwierig, zuverlässige Informationen zu bekommen. Denn Donezk ist abgeschnitten und ukrainische Journalisten können nicht in das Gebiet. Wir wissen nicht genug von dem, was dort wirklich geschieht. Es wurde immer schwieriger für Unternehmen, viele haben Donezk verlassen. Ein Teil der Donezker Universitäten ist ins Exil gegangen, in die Zentralukraine. Aber der andere Teil ist geblieben. In der Konfliktzone ist es sehr unterschiedlich, wer geht und wer bleibt und aus welchem Grund. Viele Leute sind nicht deshalb geblieben, weil sie auf der Seite der Separatisten sind, sondern weil sie ihre Eltern nicht verlassen können oder anderswo keinen Platz zum Wohnen oder keine andere Arbeit finden. Viele Leute sind geblieben, aus vielen Gründen, nicht nur aus politischen.
Was macht die ukrainische Regierung, um die Probleme zu lösen?
Es ist ein eingefrorener Konflikt, bei dem jeden Tag Schüsse fallen. Im Moment gibt es keine Lösung dafür. Die Regierung versucht aber, etwas zu tun. Zum Beispiel hilft sie jungen Leuten aus den betroffenen Gebieten, anderswo in der Ukraine zu studieren, obwohl sie offiziell kein ukrainisches Abitur mehr bekommen. Wenn man schon das Territorium nicht zurückholen kann, dann wenigstens die Menschen.
Wie verändert sich die ukrainische Bevölkerung durch diesen jahrelangen Konflikt?
Offiziell gibt es mehr als eine Millionen Binnenflüchtlinge. Am Anfang waren es noch mehr, inzwischen sind aber einige wieder zurückgekehrt. Es gibt in der Konfliktregion viele junge Leute, die nicht bleiben wollen. Sie sehen keine beruflichen Perspektiven, gehen dann in einen anderen Teil der Ukraine. Versuchen, ihr Leben neu anzufangen. Es ist für die ukrainische Gesellschaft natürlich eine große Herausforderung, diese Leute zu integrieren und Arbeit für sie zu finden. Es gibt, wie überall sonst, Vorurteile gegenüber Neuankömmlingen. Ich glaube aber nicht, dass das ein kulturelles Problem ist, denn das viel größere Problem ist wirtschaftlicher und sozialer Art: Wie man diesen Leuten eine neue Perspektive gibt, in einem Land, das eigentlich arm ist. Auch Leute aus den westlichen Gebieten, wo kein Krieg herrscht, gehen ins Ausland, um eine Arbeit zu finden. Es ist eine große Herausforderung für den ukrainischen Staat, diese Situation zu bewältigen.
Was ist Ihre persönliche Einschätzung, wie es in Zukunft weitergehen wird?
Ich glaube, niemand kann das im Moment sagen. Nach den Wahlen im April ist die allgemeine Frage, ob sich durch den neuen Präsidenten Wolodymyr Selensky etwas ändern wird. Aber alle sind sich einig, dass es sehr schwierig ist, die Entwicklung vorauszusehen. Vor allem hängt das auch davon ab, was in Ländern wie Deutschland oder Frankreich passieren wird. Was geschieht zum Beispiel, wenn Merkel nicht mehr an der Macht ist? Wie wird sich Russland dann verhalten? Von der russischen Seite sind jedenfalls keine positiven Signale zu sehen, dass sie den neuen Präsidenten in der Ukraine als eine Chance für den Frieden sehen. Sie bleiben ganz cool.