Zwölf Fragen zum Ukraine-Konflikt

© Pascha Port (bearbeitet)

Im Ein­steins-Inter­view erklärt Uni­ver­si­täts­pro­fes­so­rin Dr. Tatia­na Zhurz­hen­ko, wie es zum Ukrai­ne-Kon­flikt kam und wel­che Par­tei­en am Kon­flikt betei­ligt sind. Der Kon­flikt spal­tet die Ukrai­ne und hat dras­ti­sche Fol­gen für die Bevöl­ke­rung: Vie­le jun­ge Men­schen flüch­ten aus der Kon­flikt­re­gi­on im Osten des Lan­des. Ein Interview.


 von Miriam Schäfer

Ein­steins: Wie begann der Kon­flikt in der Ukraine?

Zhurz­hen­ko: Im Jahr 2013 gab es kei­ne Anzei­chen dafür, dass es zu einem Kon­flikt kom­men wür­de. Die Lage schien ziem­lich sta­bil zu sein. Dann, im Novem­ber 2013, haben sich der dama­li­ge Prä­si­dent Wik­tor Janu­ko­wytsch und die ukrai­ni­sche Regie­rung im letz­ten Moment gegen ein Asso­zia­ti­ons­ab­kom­men (Anm. d. Red.: Völ­ker­recht­li­cher Ver­trag, der eine bestimm­te Bezie­hung zwi­schen einer inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on und einem Nicht­mit­glieds­staat fest­legt) mit der Euro­päi­schen Uni­on ent­schie­den. Damit began­nen die Pro­tes­te, anfangs vor allem in Kiew. Die Men­schen haben für die EU-Inte­gra­ti­on demons­triert, also für eine pro­eu­ro­päi­sche Poli­tik in der Ukrai­ne. Dann sind die Pro­tes­te eska­liert, weil die Poli­zei Gewalt ange­wen­det hat. Die Gewalt führ­te zu einer gro­ßen Empö­rung, durch die immer mehr Men­schen auf die Stra­ße gin­gen. Für die Regie­rung wur­de es schnell sehr schwie­rig, die Lage unter Kon­trol­le zu hal­ten. Im Febru­ar 2014 kam es zur Eska­la­ti­on, bei der dut­zen­de Men­schen in Kiew star­ben. Das Janu­ko­wytsch-Regime wur­de gestürzt. Das war der Anfang des Kon­flikts, den wir heu­te haben.

Wel­che ver­schie­de­nen Par­tei­en sind am Kon­flikt beteiligt?

Foto: Pri­vat

Es gibt in der Ukrai­ne poli­ti­sche Kräf­te, die für eine Annä­he­rung an die EU sind. Eben­so gibt es Par­tei­en, die eher für eine nähe­re Zusam­men­ar­beit mit Russ­land ste­hen. Die „Par­tei der Regio­nen“ (Anm. d. Red.: Ukrai­ni­sche Par­tei, die zwi­schen dem 25. Febru­ar 2010 und dem 22. Febru­ar 2014 mit Wik­tor Janu­ko­wytsch den Prä­si­den­ten stell­te) war eine Par­tei des gro­ßen Busi­ness, von gro­ßen Olig­ar­chen. Es war nicht in ihrem wirt­schaft­li­chen Inter­es­se, dass das rus­si­sche Kapi­tal in die Ukrai­ne kommt. In die­sem Sinn waren sie also nicht pro­rus­sisch. Aber ihre Iden­ti­täts­po­li­tik haben sie pro­rus­sisch betrie­ben, im Sin­ne eines gemein­sa­men kul­tu­rel­len Raums mit Russ­land. Das Asso­zia­ti­ons­ab­kom­men mit der Euro­päi­schen Uni­on war die gro­ße Hoff­nung für den pro­eu­ro­päi­schen Teil der Gesell­schaft. Die­se Bür­ger waren sehr ent­täuscht, als das Abkom­men nicht zu Stan­de kam. Am Anfang der Pro­tes­te ging es um die EU-Inte­gra­ti­on, spä­ter immer mehr um den Kampf gegen die Olig­ar­chen­wirt­schaft, gegen Janu­ko­wytschs Poli­tik und vor allem gegen die Kor­rup­ti­on. Kor­rup­ti­on war das Hauptproblem.

Wel­che Gebie­te in der Ukrai­ne sind betroffen?

Der Kon­flikt ist im Osten. Dort befin­den sich zwei admi­nis­tra­ti­ve Ein­hei­ten: die Regi­on Donezk und die Regi­on Luhansk. Ein Teil bei­der Regio­nen ist nicht unter der Kon­trol­le von Kiew. Aber auch für die Men­schen, die nahe an der Front­li­nie woh­nen, ist kein nor­ma­les Leben mehr mög­lich. Die Infra­struk­tur ist zer­stört und vie­le sind auf Dienst­leis­tun­gen von Insti­tu­tio­nen wie Kran­ken­häu­sern oder Uni­ver­si­tä­ten ange­wie­sen, die inzwi­schen unter der Kon­trol­le der soge­nann­ten Volks­re­pu­bli­ken Donezk und Luhansk sind. (Anm. d. Red.: Bei­de Volks­re­pu­bli­ken wur­den wäh­rend des Krie­ges 2014 aus­ge­ru­fen und sind nicht inter­na­tio­nal aner­kannt). Der Wes­ten des Lan­des ist unter ukrai­ni­scher Kon­trol­le. Die Bevöl­ke­rung dort ist abge­schnit­ten von der Kon­flikt­re­gi­on. Die Tren­nungs­li­nie ist ein tie­fer Schnitt in das All­tags­le­ben der Men­schen. Vor allem sind Fami­li­en betrof­fen, die auf bei­den Sei­ten leben. Des­halb gibt es viel Ver­kehr über die­se Linie, trotz der damit ver­bun­de­nen Gefah­ren. Sie zu über­que­ren, ist kei­ne ein­fa­che Sache. Es gibt lan­ge War­te­zei­ten und die Regeln sind unüber­sicht­lich. Seit 2015 hat sich die Front sehr wenig ver­scho­ben. Ich glau­be, es gibt kei­ne Ver­su­che, die­se Linie zu ändern. Bei­de Sei­ten den­ken, dass das zu einer unkon­trol­lier­ten Eska­la­ti­on füh­ren könnte.

Ist das Land durch die­sen Kon­flikt gespalten?

Die Ukrai­ne, ein in Ost und West gespal­te­nes Land — das ist ein ziem­lich popu­lä­rer Dis­kurs. In den west­li­chen, aber auch in den rus­si­schen Medi­en ist das ein typi­scher Rah­men, um den Kon­flikt zu ver­ste­hen. In Wirk­lich­keit ist es kom­pli­zier­ter. Es ist wahr, dass die Men­schen im Wes­ten und im Osten des Lan­des ver­schie­de­ne poli­ti­sche Prä­fe­ren­zen haben. Sie wäh­len ver­schie­de­ne Par­tei­en. Das zei­gen die Wahl­er­geb­nis­se. Doch so ein­fach ist es nicht. Auf regio­na­ler Ebe­ne ist der Osten nicht homo­gen, es gibt ver­schie­de­ne Kräf­te. In man­chen Gebie­ten blieb es ruhig, in ande­ren hat die Regie­rung die Kon­trol­le ver­lo­ren. Dafür gibt es ver­schie­de­ne Grün­de. Nicht nur Iden­ti­tät oder kul­tu­rel­le Unter­schie­de, son­dern auch die Inter­es­sen von loka­len Eli­ten spie­len dabei eine Rolle.

Füh­ren die zwei Spra­chen, Rus­sisch und Ukrai­nisch, zusätz­lich zu Pro­ble­men im Land?

Wir sehen immer wie­der, wie Poli­ti­ker die­se Fra­ge instru­men­ta­li­sie­ren. Sie wol­len ihre Wäh­ler­schaft auf die­se Wei­se mobi­li­sie­ren. Die Umfra­gen zei­gen aber, dass die Men­schen dort ganz ande­re Pro­ble­me haben. Sie haben sich schon seit lan­ger Zeit damit arran­giert, im All­tag bei­de Spra­chen, Ukrai­nisch und Rus­sisch, zu spre­chen. Seit den Ereig­nis­sen des Früh­lings 2014 gibt es zwei Ten­den­zen: Auf der einen Sei­te haben vie­le rus­sisch­spra­chi­ge Ukrai­ner begrif­fen, dass Rus­sisch zu spre­chen kei­ne Iden­ti­täts­sa­che ist. Die Loya­li­tät zur Ukrai­ne als Land hat Prio­ri­tät gegen­über der Spra­che, die sie im All­tag spre­chen. Ande­rer­seits gibt es eine ande­re Ten­denz: Als das Janu­ko­wytsch-Regime gestürzt wur­de und der Krieg im Osten begann, waren vie­le der Mei­nung, dass die ukrai­ni­sche Spra­che im öffent­li­chen Raum gestärkt wer­den müs­se. Ihre Begrün­dung: Wäre das frü­her gesche­hen, dann wäre das alles gar nicht erst pas­siert. Des­halb wird die ukrai­ni­sche Spra­che geför­dert, zum Bei­spiel im Bereich der Medi­en und der Buch­pro­duk­ti­on. Es ist eine sehr kom­pli­zier­te Dynamik.

War­um bezeich­net man den Krieg in der Ost­ukrai­ne meist nur als einen „Kon­flikt“?

Gesetz­lich gese­hen durf­te man ihn damals nicht als Krieg bezeich­nen. Die Bevöl­ke­rung hat auch geglaubt, dass die Lage sich schnell wie­der nor­ma­li­sie­ren und nicht zu einem dau­er­haf­ten Kon­flikt wer­den wür­de. Es gibt ver­schie­de­ne Bezeich­nun­gen für die Lage. In der All­tags­spra­che reden die Men­schen heu­te oft von Kon­flikt oder Krieg, vie­le auch von Bür­ger­krieg. Russ­land ist dar­an inter­es­siert, dass alles als inter­ner Kon­flikt dar­ge­stellt wird. Eine alter­na­ti­ve Bezeich­nung dafür ist der Begriff „rus­si­sche Inter­ven­ti­on“. Dahin­ter steckt der Anspruch, dass die Ukrai­ne ihre Ter­ri­to­ri­en wie­der unter ihre Kon­trol­le bringt. Wie­der ande­re sagen, es sei eigent­lich ein Krieg zwi­schen Russ­land und dem Wes­ten, für den die Ukrai­ne nur das Schlacht­feld ist.

Wel­chen geschicht­li­chen Hin­ter­grund hat Donezk?

Donezk ist eine Indus­trie­stadt. Die Mehr­zahl der Leu­te dort hat eine beson­de­re Men­ta­li­tät, sie ver­steht sich als Arbei­ter­klas­se. Das Pro­blem war nach dem Zer­fall der Sowjet­uni­on: Wie geht man mit die­ser Regi­on um? Wie kann man sie moder­ni­sie­ren? Die Olig­ar­chen haben die Koh­le- und Stahl­in­dus­trie dort über­nom­men und hat­ten damit eine star­ke Kon­trol­le über die­se Regi­on. Sie waren Arbeit­ge­ber, Spon­so­ren von Pro­jek­ten und die poli­ti­sche Eli­te zugleich. Das erklärt den Erfolg von Janu­ko­wytsch und der „Par­tei der Regio­nen“. Als Janu­ko­wytsch Prä­si­dent wur­de, hat­ten vie­le den Ein­druck, dass der Donez­ker Clan nun nach Kiew und viel­leicht auch in ande­re Regio­nen expan­diert. Des­halb gab es gegen­über Donezk ein gewis­ses Res­sen­ti­ment: Zum einen war es ein Gebiet, das von der „Par­tei der Regio­nen“ und den Olig­ar­chen kon­trol­liert wird, zum ande­ren leben dort Leu­te, die noch ihre sowje­ti­sche Men­ta­li­tät haben und Rus­sisch spre­chen. Das ist wie­der nur die eine Sei­te. Ich ken­ne vie­le Leu­te und Kol­le­gen, die das ande­re Donezk reprä­sen­tie­ren, das ukrai­nisch war und sich auch als Teil der Ukrai­ne gefühlt hat. Es gab nach 2014 genug Leu­te, die woll­ten, dass Donezk in der Ukrai­ne bleibt. Sie haben ver­sucht, sich zusam­men­zu­tun und auf die Stra­ße zu gehen. Aber sie haben verloren. 

Was ist 2014, nach den Ereig­nis­sen in Kiew, in Donezk passiert?

Die loka­le Eli­te war unent­schie­den. Sie woll­te ein­fach schau­en, womit sie am meis­ten Gewinn macht. Doch plötz­lich waren Akti­vis­ten in der Stadt, die zuvor nie­mand gese­hen hat­te. Sie haben vor der Men­ge gespro­chen und woll­ten auch an die Macht. Heu­te ist belegt, dass dies Leu­te aus Russ­land waren, die dabei hal­fen, Unru­he zu stif­ten. Sie kamen mit Waf­fen und brach­ten öffent­li­che Gebäu­de unter ihre Kon­trol­le. In Donezk herrsch­te meh­re­re Mona­te eine unbe­stimm­te Situa­ti­on. Die ukrai­ni­sche Ver­wal­tung funk­tio­nier­te noch, aber gleich­zei­tig gab es die­se par­al­le­le Macht­struk­tur. Zum Bei­spiel haben sich die loka­le Poli­zei und die Geheim­diens­te auf die ande­re Sei­te gestellt. Sie haben ihre Arse­na­le geöff­net und Waf­fen an die Sepa­ra­tis­ten aus­ge­ge­ben. Es wird immer noch dis­ku­tiert, wie genau das pas­sier­te und wer die Ver­ant­wor­tung dafür trug. Im Grun­de war es ein Ver­rat durch die loka­len Eli­ten und Behör­den − sie sind Kiew nicht treu geblieben.

Wie ist die heu­ti­ge Situa­ti­on in Donezk?

Ich kann nur sagen, was ich aus den öffent­li­chen Medi­en weiß. Es ist sehr schwie­rig, zuver­läs­si­ge Infor­ma­tio­nen zu bekom­men. Denn Donezk ist abge­schnit­ten und ukrai­ni­sche Jour­na­lis­ten kön­nen nicht in das Gebiet. Wir wis­sen nicht genug von dem, was dort wirk­lich geschieht. Es wur­de immer schwie­ri­ger für Unter­neh­men, vie­le haben Donezk ver­las­sen. Ein Teil der Donez­ker Uni­ver­si­tä­ten ist ins Exil gegan­gen, in die Zen­tralukrai­ne. Aber der ande­re Teil ist geblie­ben. In der Kon­flikt­zo­ne ist es sehr unter­schied­lich, wer geht und wer bleibt und aus wel­chem Grund. Vie­le Leu­te sind nicht des­halb geblie­ben, weil sie auf der Sei­te der Sepa­ra­tis­ten sind, son­dern weil sie ihre Eltern nicht ver­las­sen kön­nen oder anders­wo kei­nen Platz zum Woh­nen oder kei­ne ande­re Arbeit fin­den. Vie­le Leu­te sind geblie­ben, aus vie­len Grün­den, nicht nur aus politischen.

Was macht die ukrai­ni­sche Regie­rung, um die Pro­ble­me zu lösen?

Es ist ein ein­ge­fro­re­ner Kon­flikt, bei dem jeden Tag Schüs­se fal­len. Im Moment gibt es kei­ne Lösung dafür. Die Regie­rung ver­sucht aber, etwas zu tun. Zum Bei­spiel hilft sie jun­gen Leu­ten aus den betrof­fe­nen Gebie­ten, anders­wo in der Ukrai­ne zu stu­die­ren, obwohl sie offi­zi­ell kein ukrai­ni­sches Abitur mehr bekom­men. Wenn man schon das Ter­ri­to­ri­um nicht zurück­ho­len kann, dann wenigs­tens die Menschen.

Wie ver­än­dert sich die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung durch die­sen jah­re­lan­gen Konflikt? 

Offi­zi­ell gibt es mehr als eine Mil­lio­nen Bin­nen­flücht­lin­ge. Am Anfang waren es noch mehr, inzwi­schen sind aber eini­ge wie­der zurück­ge­kehrt. Es gibt in der Kon­flikt­re­gi­on vie­le jun­ge Leu­te, die nicht blei­ben wol­len. Sie sehen kei­ne beruf­li­chen Per­spek­ti­ven, gehen dann in einen ande­ren Teil der Ukrai­ne. Ver­su­chen, ihr Leben neu anzu­fan­gen. Es ist für die ukrai­ni­sche Gesell­schaft natür­lich eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, die­se Leu­te zu inte­grie­ren und Arbeit für sie zu fin­den. Es gibt, wie über­all sonst, Vor­ur­tei­le gegen­über Neu­an­kömm­lin­gen. Ich glau­be aber nicht, dass das ein kul­tu­rel­les Pro­blem ist, denn das viel grö­ße­re Pro­blem ist wirt­schaft­li­cher und sozia­ler Art: Wie man die­sen Leu­ten eine neue Per­spek­ti­ve gibt, in einem Land, das eigent­lich arm ist. Auch Leu­te aus den west­li­chen Gebie­ten, wo kein Krieg herrscht, gehen ins Aus­land, um eine Arbeit zu fin­den. Es ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung für den ukrai­ni­schen Staat, die­se Situa­ti­on zu bewältigen. 

Was ist Ihre per­sön­li­che Ein­schät­zung, wie es in Zukunft wei­ter­ge­hen wird?

Ich glau­be, nie­mand kann das im Moment sagen. Nach den Wah­len im April ist die all­ge­mei­ne Fra­ge, ob sich durch den neu­en Prä­si­den­ten Wolo­dym­yr Selen­sky etwas ändern wird. Aber alle sind sich einig, dass es sehr schwie­rig ist, die Ent­wick­lung vor­aus­zu­se­hen. Vor allem hängt das auch davon ab, was in Län­dern wie Deutsch­land oder Frank­reich pas­sie­ren wird. Was geschieht zum Bei­spiel, wenn Mer­kel nicht mehr an der Macht ist? Wie wird sich Russ­land dann ver­hal­ten? Von der rus­si­schen Sei­te sind jeden­falls kei­ne posi­ti­ven Signa­le zu sehen, dass sie den neu­en Prä­si­den­ten in der Ukrai­ne als eine Chan­ce für den Frie­den sehen. Sie blei­ben ganz cool.


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