Das Telefon klingelt. Nichts Ungewöhnliches auf der Geburtsstation in einem katholischen Klinikum in Köln. Ungewöhnlich ist allerdings die Anfrage, die der junge Mann am Telefon an die Stationsleitung richtet: „Können auch zwei Papas mit in den Kreißsaal kommen?“ Nein, das gehe nicht. „Dann können wir nicht kommen“, sagt der Mann. Moment, man kläre das nochmal ab. In Ordnung, es dürften doch zwei Väter mitkommen.
Die Konstellation wirft im Krankenhaus Fragen auf: Wer ist der zweite Vater? Die Affäre? Oder sind die drei ein schwules Pärchen mit ihrer Leihmutter? Weit gefehlt: Fabian, Nicole und Christian sind ein polyamouröses „Trärchen“, wie sie sich selbst nennen. Das heißt, alle drei führen eine romantische Beziehung miteinander. An diesem Tag Ende 2019 stößt zu ihrer Beziehung noch ein viertes Mitglied dazu. Doch bis Fabian, Nicole und Christian zu Eltern eines Sohnes werden konnten, war es ein weiter Weg.
Warmes Licht erhellt die weißen Wände, die bis auf zwei Gitarren leer sind. Es ist schon spät. Im sonst vollen Terminkalender der drei war nur noch der Abend für eine Videokonferenz frei. Job, Kind und dazu noch viele Medienauftritte lassen nicht mehr viel Freiraum. Fabian stellt sich mit verstrubbeltem Haar und grauem Kapuzenpulli vor. Er möchte Fabi genannt werden. Eigentlich sollten auch Nici und Christian hier sitzen, doch der Sohnemann will noch nicht schlafen. Während seine beiden Partner:innen ihr Bestes geben, den Kleinen ins Bett zu kriegen, erzählt Fabi ihre außergewöhnliche Geschichte solange allein.
Das Kennenlernen
Begonnen hat alles mit einer selbstgedrehten Zigarette: 2010 studieren Fabi und Nici an derselben Uni in Aschaffenburg, sie Vertriebsingenieurwesen, er BWL. In der Raucherecke auf dem Campus treffen sich die beiden zufällig und kommen ins Gespräch. Nici bleibt dieser „ganz coole, verballerte Typ“ direkt im Kopf. Doch nach einer weiteren Raucherpause laufen sie sich nicht mehr über den Weg.
Erst über ein Jahr später trifft Fabi Nici ganz zufällig auf der Feier eines gemeinsamen Freundes wieder. Schicksal? Vielleicht. Direkt wiedererkannt, verbringen die beiden den Abend miteinander, feiern, tanzen, quatschen. Am Ende der Partynacht kürt Nici Fabi zu ihrem neuen besten Freund.
Was als verrückte Idee in angetrunkener Euphorie begonnen hat, entwickelt sich langsam zu einer tiefen Freundschaft – und mündet viele Jahre später in der eingangs vorgestellten polyamourösen Dreierbeziehung.
Denn als Nici und Fabi sich wieder treffen, ist Nici schon vergeben; einen Monat zuvor hat sie Christian auf einem Musikfestival kennengelernt. Die zwei verlieben sich und werden ein Paar. Schon ein Jahr später ziehen sie zusammen nach Köln und verloben sich.
Von der Couch ins Doppelbett
Als Fabi sein Studium beendet hat, entscheidet er sich dafür, Nici und Christian nach Köln hinterherzuziehen. Zum einen wegen des Kölner Karnevals, den er mit den beiden Freund:innen schon auf früheren Besuchen „jedes Mal voll gefeiert“ hatte. Zum anderen wegen des damals für ihn allzu verlockenden Angebots von Nici und Christian, einfach bei ihnen einzuziehen – die Couch wäre noch frei: „Stell Dir vor, Du wohnst in einem kleinen Kaff, bist mit Deinem Studium fertig und dann sagen Dir Deine zwei besten Freunde, die in einer echten Großstadt leben: ‚Bis du eine gute Bude, einen guten Job gefunden hast, komm vorbei, wir machen eine WG auf’ – läuft.“
Die so entstandene Dreier-WG von Nici, Christian und Fabi, die also nur vorübergehend gedacht war, entwickelt sich bald zu etwas Festem: „Wir haben nach einer gewissen Zeit gemerkt: Hey, irgendwie will ich hier gar nicht ausziehen; die wollen auch nicht, dass ich ausziehe – wir wohnen hier zu dritt so weiter.“ Und das hat sich bis heute, sechs Jahre später, nicht mehr geändert.
Nici und Christian führen schon seit ihrem Kennenlernen eine offene Beziehung. Damit das gut geht, haben sie sich gleich zu Beginn feste Regeln gesetzt: Niemals zweimal mit einer Person treffen und Freund:innen oder Arbeitskolleg:innen sind tabu. Das Wichtigste, damals wie heute: Ehrlichkeit.
Die Hochzeit
Fabi versteht sich von Anfang an super mit Christian. Deshalb unterstützt er ihn auch gern bei dessen Hochzeitsvorbereitungen.
Und da Christian für Nici in ihrer zweiten Heimat Polen ein „bombastisches Fest im maritimen Stil“ ausrichten wollte, musste dafür so einiges vorbereitet werden, erinnert sich Fabi: „Den halben Sommer haben wir miteinander verbracht, Deko ausgeschnitten und dabei Kung Fu-Filme geguckt. Das war echt viel Schnippelarbeit! Mit ganz viel Liebe!“
Mit ganz viel Liebe brachte sich Fabi im September 2015 dann auch auf der Hochzeit selbst ein: Im navyblauen Anzug mit weißem Einstecktuch, runder Sonnenbrille und leicht gebeugten Knien steht er an der polnischen Riviera, spielt E‑Bass – im Rücken die stille Ostsee, rechts vor ihm das getapte Notenpult und die Sängerin, eine gute Freundin.
Mit geschlossenen Augen zupft sie die Saiten ihrer Gitarre und singt dazu Katie Melua: „There are nine million bicycles in Beijing. That’s a fact. It’s a thing we can’t deny. Like the fact that I will love you till I die.“
Mehr als „friends with benefits“
Vor der Hochzeit kommen Nici Zweifel, ob ihre etwas andere Form der offenen Beziehung wirklich das ist, was sie will. Denn durch die strengen Regeln, die sie und Christian am Anfang festgelegt haben, gibt es für sie nie die Möglichkeit, jemanden wirklich näher kennenzulernen. Dabei ist es genau das, was Nici sich wünscht: zu einer weiteren Person eine enge Bindung aufzubauen. Der Einzige, mit dem sie sich so etwas neben Christian noch vorstellen konnte, war Fabi. – Eine Überlegung, die auch Christian gefiel: „Weil er mich kannte, er mochte mich, und er musste sich keine Sorgen machen, mit wem sich die Nici sonst so trifft. Das war ziemlich cool für ihn“, erklärt Fabi, dem diese Art „Friends with benefits“-Beziehung auf Anhieb taugt. Hier hat er nämlich das Beste aus beiden Welten: Einerseits ist er Single und kann auf Dates gehen, andererseits hat er zuhause schon eine Beziehung mit seinen zwei besten Freund:innen. Wobei Fabi und Christian keine sexuelle Beziehung zueinander pflegen. Fabi bezeichnet es als „biromantic“; sie lieben und schätzen sich gegenseitig auf einer rein romantischen Ebene.
So geht das eine Weile – bis Christian und Nici Angst bekommen, Fabi könnte sich in eine andere Frau verlieben, welche mit der ungewöhnlichen Lebenssituation der drei nicht zurechtkommen könnte. Viele Gespräche, Trennungsversuche und Liebeskummer später wird den dreien jedoch klar: Sie gehören zusammen. Seit 2016 nun leben sie in dieser Dreierbeziehung, die für Außenstehende sehr verwirrend sein kann: Wer sitzt beim Autofahren vorn, wer schläft im Hotel im Doppelbett? Alles Fragen, die sich monogame Paare vermutlich niemals stellen. Das Trärchen entscheidet pragmatisch: Als Nici schwanger war, war ihr der Beifahrerplatz sicher. Und im Urlaub schläft gerne mal jemand auf der Couch, eine willkommene Abwechslung zum zu dritt geteilten Doppelbett daheim.
Polyamorie – was heißt das eigentlich?
Polyamorie kommt aus dem Lateinischen. Es ist eine Zusammensetzung des Adjektivs ‚poly’ – ‚viele’ mit dem Substantiv ‚amor’ – ‚Liebe’. Polyamorie als Kompositum heißt also nichts anderes als ‚liebe viele’. So tritt die Beziehungsform der Polyamorie in den unterschiedlichsten Varianten auf: Als Triade (zwei Frauen und ein Mann oder zwei Männer und eine Frau), als Pot (mehr als drei Beteiligte) oder auch in einer monogam-polygamen Mixform. Doch egal welche Variante, ehrlich und offen zu sein, wird immer als essentiell wichtig angesehen. Die dafür erforderliche permanente Kommunikation ist in der Regel eine große Stärke polyamouröser Beziehungen, kann aber auch zur Belastung werden, weil sie sehr viel Zeit frisst.
Dr. med. Heike Melzer, Psycho‑, Paar- und Sexualtherapeutin in München.
Das Geheimnis von Fabis, Nicis und Christians Beziehung ist die Kommunikation untereinander. Sie führen jeden Abend Gespräche zu dritt und resümieren den Tag. „Du sprichst die Konflikte an, bevor da ein großer Elefant draus wird und explodiert“, erklärt Fabi. Nur deshalb sei Eifersucht für ihn eigentlich nie ein Thema gewesen – er habe sich von Beginn an als frisches, aber volles Mitglied in der bestehenden Beziehung seiner beiden Freund:innen gefühlt: „Christian und Nici haben mich halt direkt integriert in ihre Beziehung. Wir haben sehr viele Sachen gemeinsam gemacht. Das heißt, man hatte nie das Gefühl, dass irgendwer zu kurz kommt oder benachteiligt wird.“
Plötzlich dreht Fabi sich zur Tür. „Guckt mal, wer da gekommen ist!“, sagt er. Nici betritt das Zimmer. Fabi macht sofort Platz, schenkt Nici Wasser ein und setzt sich mit einem neuen Stuhl neben sie. „Der Kleine lässt sich leider nicht ins Bett bringen. Deshalb musste Christian jetzt auch noch drüben bleiben“, entschuldigt Nici sich und ihren Partner. Mit einem Zwinkern fügt Fabi dem hinzu: „Christian ist eben der typische Informatiker, er lässt lieber uns reden.“
Früher machte Nici oft die Erfahrung, dass einer ihrer Jungs auf Partys angeflirtet wurde; niemand rechnete damit, dass sie mit beiden zusammen ist. Mittlerweile klären Fabi und Christian die Situation von vornherein auf. Wenn es doch mal zwickt, wird auch darüber gesprochen: „Christian hat immer viel zu viel gezockt. Das war immer dann ein Problem, wenn er Prüfungsphase hatte, so typisch Prokrastinieren“, erzählt Nici. Fabi bekommt diesen Streit zu Beginn deren Paarbeziehung mit und versucht, als dritte Person und somit neutrale Instanz die Wogen zu glätten. Das, sagen Nici und Fabi, klappe nach wie vor einwandfrei: „Wir haben immer einen Schiedsrichter dabei.“
Das Outing
Innerhalb der Beziehung herrscht die meiste Zeit Harmonie. Ganz anders in ihrem privaten Umfeld: Durch ihr Outing verlor das Trärchen einige Freund:innen, die ihre Entscheidung nicht respektieren konnten. Oft stand die persönliche Ablehnung einer polyamourösen Beziehung im Vordergrund und weniger die Gefühle von Nici, Fabi und Christian.
Umso größer waren deshalb die Sorgen vor den Reaktionen ihrer Familien. 2019 muss eine Strategie her: Sie setzen sich eine Deadline, bis wann es passiert sein soll. Alle möglichen Szenarien werden durchgesprochen. Vom schlimmsten bis zum besten Fall und wie sie darauf reagieren wollten. Fabi erzählt es seiner Mutter quasi beim Rausgehen, als er zu einem Termin aufbricht. Doch das Verhör, das er versucht zu umgehen, bleibt ohnehin aus. Seine Mutter ist anfangs zwar verwirrt, aber nicht sonderlich überrascht. „Sie hat schon gemerkt, dass ich Nici liebe. Das hat sie irgendwie gerochen, Mütter kriegen sowas mit“, scherzt er.
Auch der zweite Mann im Trärchen nimmt das Outing allein in die Hand. Wobei Christians Eltern in puncto neue Beziehungsformen von Haus aus liberaler eingestellt waren: „Er hat gemeint, bei ihm war das so, als würde er einkaufen gehen”, lacht Fabi. – Zu Nicis Eltern dann aber fährt das Trärchen in voller Formation. „Wir drei haben ein Bierchen mit denen getrunken und haben gesagt: ‚Okay, wenn das Bierchen halb leer ist, dann erzählen wir es ihnen.’ Dann haben wir echt langsam getrunken“, erinnert sich Fabi und schmunzelt.
Nicis Eltern kennen Fabi schon lange als den besten Freund; sie mögen ihn. Dementsprechend ist es für sie einfacher, die Tatsache zu akzeptieren, dass Fabi auf einmal nicht mehr nur der beste Freund ist. Ungewohnt ist es zu Beginn aber trotzdem. Nicis Eltern haben Angst, dass jemand durch das zahlenmäßige Ungleichgewicht des Trärchens verletzt werden könnte. „Ein gewisses Restrisiko hast du immer, dass es am Ende doch nicht klappt“, sagt Fabi dazu. Letztendlich ging das Outing für alle drei ohne größere Probleme über die Bühne. „Alle Eltern von uns haben ein bisschen gebraucht, um es zu verdauen, weil es schon ein bisschen Neuland für sie war. Aber das kannst du ihnen nicht übel nehmen. Wir selbst haben Jahre gebraucht, um uns so zu akzeptieren“, erklärt Fabi. Das Verhältnis heute zu allen Elternteilen sei sehr gut. Fabi, Nici, Christian und ihr Sohn bekommen regelmäßig Besuch in Köln.
Aus drei wird vier
Als das Trärchen beginnt, über Kinder nachzudenken, merkt Fabi selbst, wie sehr er noch an gesellschaftliche Normen gebunden ist. Ganz nach dem Motto: Vorstadthäuschen, Kombi, Frau und zwei Kinder. „Der Kopf hat dann sofort gesagt: Familiengründung zu dritt? Das geht doch nicht“, erinnert er sich. „Aber wir wussten einfach, dass wir irgendwie zusammengehören. Und wir wussten, wir können auch zu dritt eine Familie gründen“, erzählt Fabi. Es war eine bewusste Entscheidung. Die drei haben viel miteinander gesprochen und sich eine klare Linie für die Kindererziehung überlegt – lange bevor Nici überhaupt schwanger war.
Dezember 2019 kam ihr gemeinsamer Sohn schließlich zur Welt. Jetzt ist er 17 Monate alt. Den Namen des Kindes möchten die drei nicht verraten. Genauso wenig, wer der biologische Vater ist. Fabi sagt: „Wir möchten eine klare Message verbreiten. Wir lieben unseren Sohn. Die Gene spielen dabei einfach keine Rolle.“
Geht das: zwei Väter auf der Geburtsurkunde?
Auf einer Geburtsurkunde können in Deutschland nicht drei Elternteile stehen. Laut des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist rechtlich gesehen derjenige der Vater, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Unabhängig davon, ob er der Erzeuger des Kindes ist. Eine Ehe zu dritt ist in Deutschland nicht möglich. Eine Mehrfachehe kann zu Geldstrafe oder sogar bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe führen.
Mut zu anderen Wegen
Eine Message verbreiten – das wollen die drei auch auf Social Media. Auf Instagram und TikTok klären Fabi, Nici und Christian über Polyamorie auf. Die drei wollen die Gesellschaft für das Thema sensibilisieren und Rollenbilder aufbrechen. Mittlerweile haben sie über 15.000 Follower:innen. „Wir bekommen unglaublich viel Zuspruch und positive Nachrichten“, erzählt Fabi. Sie machen anderen Menschen Mut. Mut zur Entscheidung und diese auch zu leben. „Manche Leute haben uns sogar geschrieben, dass sie sich nur wegen uns getraut haben, sich zu outen“, erzählt Nici. Eine Userin auf TikTok schreibt: „Danke, dass ihr Menschen daran erinnert, dass es uns erlaubt ist, andere Wege einzuschlagen, als uns vorgelebt wird.“
Zwei Männer, eine Frau und ein Baby. Ganz klar: Das ist die Mutter, der Vater, das Kind und …? Als die vier am Vatertag essen holen, gratuliert die Kellnerin mit den Worten: „Alles Gute zum Vatertag, wer auch immer daran beteiligt war!“ Nici, Fabi und Christian lachen über solche Situationen. Was sie härter trifft, sind da schon manche Hate-Kommentare, die sie über ihre Social Media-Plattformen erreichen: „Ekelhafte Angelegenheit“, „ich muss im Strahl kotzen“ oder „verrückter und perverser geht’s nicht – armes Deutschland“ bekommen die drei dort zu lesen.
Nici versucht, Hate-Kommentare immer erst einmal positiv anzunehmen. Oft fragt sie bei den Leuten nach, wie sie zu dieser Meinung kommen würden oder wieso sie das so negativ sehen. „Da haben sie dann meistens keine Idee und hinterfragen sich selbst“, meint Nici. Worauf Fabi einwirft: „Sie ist gerne die Hobbypsychologin unter uns.“
Manchmal komme dann in den Kommentaren aber auch irgendetwas mit „Satan“ und „Verbrennen“. „Aber denen kann ich dann auch nicht mehr helfen und versuche es auch nicht“, sagt Nici. Fabi nickt: „Hoffnungslose Fälle gibt’s immer.“
Fotos: privat