„HELL FUCKING NO!“ – Das war Anne-Sophie Kellers erster Gedanke, als sie vor zwei Jahren an einem frühen Mittwochmorgen im Pyjama auf dem Badezimmerboden saß. Im grellen Licht der Lampe wurde das zweite Strichlein auf dem Schwangerschaftstest langsam sichtbar. Ihren Freund hatte sie erst vor kurzem über Tinder kennengelernt, die beiden schwebten im siebten Himmel. „Ich glaube, unsere Gehirne haben so fünf Monate lang nicht wirklich funktioniert“, erzählt Anne-Sophie über Zoom und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Für sie war sofort klar, dass eine Schwangerschaft und ein Kind zu diesem Zeitpunkt nicht infrage kommen würden.
Ich will’s?
Nach dem zweiten Besuch beim Frauenarzt kam Anne-Sophie doch noch für einen kurzen Moment ins Grübeln: „Was ist, wenn ich nächste Woche sage: ‚Ich will’s?’ “ Selbst in diesem Fall hätte ihr Freund sie unterstützt. „Wir hätten das schon geschafft. Aber uns war klar, dass dieses Kind nicht aus Überzeugung entstanden ist“, findet Anne-Sophie. Wenn sie schwanger werden sollte, dann weil es ihr Wunsch war.
Als Journalistin hatte Anne-Sophie das Glück, zu wissen, wie sie schnell an Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch kommen kann. Mit ihrer Frauenärztin hatte sie schon beruflich zu tun, weswegen bereits eine gewisse Verbindung vorhanden war. „Für mich war es der richtige Ort, ich habe mich da gut aufgehoben gefühlt“, erinnert sich Anne-Sophie an die Praxis.
Der Tag der Abtreibung: In der Praxis schluckte sie die ersten drei Tabletten. Nach dieser ersten Dosis schickte man sie nach Hause.
Medikamentöse Abtreibung
Bei einer medikamentösen Abtreibung, wie bei Anne-Sophie, muss die Betroffene zuerst ein bis drei Tabletten Mifegyne einnehmen. Dieses Medikament öffnet den Muttermund und löst die Gebärmutterschleimhaut, dabei stirbt der Embryo ab. Danach wird sie wie Anne-Sophie mindestens zwei Stunden lang ärztlich überwacht und darf dann nach Hause gehen. In den meisten Fällen reichen die ersten drei Tabletten allerdings nicht aus, um den Embryo auszustoßen.
Deshalb erhält die Frau dann in der Regel zwei bis drei Tage später ein weiteres Medikament namens Cytotec. Dadurch werden Wehen und somit die Geburt eingeleitet, die Gebärmutter zieht sich zusammen und eine Blutung setzt ein. Das kann etwa zwei Stunden dauern. Wichtig ist, dass die Frau hierbei nicht allein gelassen wird. Wenn auch nach drei Stunden nichts passiert ist, muss die Frau die Tabletten nochmal schlucken. Ein Schwangerschaftsabbruch mit Abtreibungspille ist die einzige nicht-operative Methode und nur bis zur neunten Schwangerschaftswoche möglich.
„Ich habe nichts gespürt, schon so ein bisschen ein Ziehen und habe danach geblutet, aber ich habe nirgends gelesen, dass eine Abtreibung auch ‚einfach‘ sein kann“, meint Anne-Sophie. Mit einem Sieb musste sie auf der Toilette alle Gewebestückchen auffangen und in einem Einmachglas zum zweiten Termin mitbringen. In der Praxis hätte Anne-Sophie das zweite Medikament schlucken müssen, um die Wehen einzuleiten. Zu ihrer Erleichterung war alle Vorbereitung, die Schmerzmittel, der Tee und die Bücher im Gepäck, überflüssig. In der Praxis stellte die Ärztin fest, dass der Zellklumpen Anne-Sophies Körper bereits verlassen hatte.
„Es in den Mülleimer zu werfen, fanden wir nicht passend.“
Anne-Sophie
Was also tun mit diesem winzigen Zellsäckchen, das einmal ein Kind hätte werden können? „Es in den Mülleimer zu werfen, fanden wir nicht passend“, erzählt Anne-Sophie. Schlussendlich entschieden sie und ihr Freund sich dafür, eine kleine Zeremonie abzuhalten. Sie verbrannten den Inhalt des Glases und begruben die Asche in einer mit Rosenblättern ausgelegten Kuhle in Anne-Sophies Lieblingspark: „Wir haben es gemeinsam erschaffen, deswegen wollten wir es auch gemeinsam beenden.“
Beratung zwingend erforderlich
In Deutschland haben im Jahr 2020 laut Bundesamt für Statistik knapp 100.000 Frauen abgetrieben. Jede Frau ist dazu verpflichtet, sich vorher professionell beraten zu lassen. Evi Tietmann arbeitet in der Schwangerschaftsberatung von pro familia in Ingolstadt, eine Anlaufstelle für ungewollt schwangere Frauen. Die Gespräche müssen ergebnisoffen geführt werden. Der Beratungsschein, der für eine Abtreibung zwingend erforderlich ist, muss nach dem Gespräch ausgestellt werden.
Evi Tietmann schätzt, dass 60 Prozent aller Frauen ihre Wahl vor der Beratung bereits getroffen haben. Sie sieht es nicht als ihre Aufgabe, Entscheidungen zu ändern, sondern alle Frauen umfassend über ihre Möglichkeiten zu informieren. Wenn sich eine Frau sehr unsicher ist, kann es auch mehrere Gespräche geben.
Beratungsgespräche
In Deutschland gibt es mehrere Organisationen, die Schwangerschaftsberatungen anbieten. Neben den Gesundheitsämtern sind das beispielsweise pro familia (www.profamilia.de) oder donum vitae (www.donumvitae.org). Auch wenn diese Organisationen teilweise einen christlichen Hintergrund haben, werden die Gespräche davon in keinerlei Hinsicht beeinflusst. Außerdem muss die Schwangerschaftsberatung strikt von Praxen getrennt sein, die Abbrüche durchführen, um finanzielle Interessen auszuschließen.
Die Schwangerschaftsberatung verläuft stets so, dass die Frau eine unvoreingenommene Entscheidung treffen kann. Das Personal ist staatlich geschult und beantwortet alle offenen Fragen. Wenn ein Beratungsgespräch stattgefunden hat, wird eine Bestätigung ausgestellt. Dieses Schreiben ist erforderlich, um in einer Praxis einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu können.
Schwangerschaftsberatungen sind nicht nur da, um über Abbrüche aufzuklären: Werdende Mütter können hier auch Informationen zu Kinderbetreuung, Verhütungsmethoden und zur Familienplanung generell erhalten.
„Ich werde dieses Kind bekommen.“
Anna Gruber*
Anna Gruber war 18 Jahre alt, als sie ungewollt schwanger wurde. Ihre Sorgen waren eher finanzieller Natur. Als Auszubildende hatte sie Angst, nicht genügend Geld für die Babyausstattung zu verdienen. Sie suchte sich Hilfe bei der Beratungsstelle im zuständigen Landratsamt und konnte Zuschüsse beantragen. Ihre Schwangerschaft bemerkte sie zuvor durch Zufall. Aus Neugierde machte sie einen Test, den sie als Party-Gag zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Für Anna war das positive Ergebnis ihres Schwangerschaftstests ein Schock: „Ich war damals echt ziemlich überrumpelt, ich habe eigentlich nicht ernsthaft mit diesem Ergebnis gerechnet.“ Zuhause war zu diesem Zeitpunkt noch niemand wach. Und selbst wenn – ihrem Vater wollte sie es vorerst nicht erzählen und zur Mutter hatte sie kein gutes Verhältnis. Anna war verzweifelt. Sie wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Sie fuhr zur Frühschicht ins Seniorenheim. Dort erzählte sie einer Frau, die zwar nicht mehr sprechen, dafür aber noch gut hören konnte, von ihrem Geheimnis.
„Es war die beste Entscheidung meines Lebens.“
Anna Gruber
Auch wenn sie jemanden zum Reden gebraucht hätte – ihre Entscheidung war sofort klar: „Ich werde dieses Kind bekommen.“ Als sie es nach der Arbeit ihrem gleichaltrigen Freund Andi erzählte und er sich über die Neuigkeiten freute, stand es endgültig fest. Anna konnte nicht abtreiben, das schlechte Gewissen hätte vermutlich zu sehr an ihr genagt. Über andere Frauen, die in der gleichen Konfliktsituation sind, sagt sie: „Ich kann nicht verstehen, wie Frauen abtreiben können.“ Während sie ihre Geschichte über Zoom erzählt, sitzt Annas sechs Monate alter Sohn Paul* auf ihrem Schoß. Sie sieht ihn liebevoll an und sagt entschlossen: „Es war die beste Entscheidung meines Lebens.“
Auf emotionaler Ebene geriet sie zu Beginn ihrer Schwangerschaft nur einmal in einen Konflikt. Als ihre Mutter irgendwann doch von der Schwangerschaft erfuhr, wollte sie sie am Telefon zu einer Abtreibung überreden. Anna traf die für sie einzig richtige Wahl – und beendete das Gespräch.
Für Anna war schnell klar, wie sie vorgehen wird. Doch was, wenn sich eine Frau nicht so sicher wie Anna ist oder in ihrer aktuellen Lebenssituation kein Kind großziehen kann? In Deutschland ist es schwierig, an Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zu kommen. Der Staat versucht, den Spagat zwischen dem Schutz des ungeborenen Kindes und dem Wohlergehen der Mutter zu schaffen. Bis zur zwölften Schwangerschaftswoche und mit dem ausgestellten Beratungsschein darf eine Frau straffrei abtreiben.
„Mir geht es um die Zulässigkeit der sachlichen, medizinischen Informationen. Diese dürfen meines Erachtens nicht unter Strafe gestellt werden.“
Kristina Hänel
Die Gießener Ärztin Kristina Hänel kämpft dafür, dass sich die komplizierte Rechtslage in der Bundesrepublik ändert. Paragraf 219a Strafgesetzbuch verbietet „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“. Der Paragraf bezieht sich aber nicht auf Werbung im herkömmlichen Sinne, sondern schränkt die Informationsfreiheit erheblich ein. Seit 2019 dürfen Praxen zwar darüber informieren, dass sie Abtreibungen durchführen, genauere Informationen über die Methoden und den Ablauf sind aber weiterhin verboten.
Kristina Hänel hat hierzu eine klare Haltung: „Mir geht es um die Zulässigkeit der sachlichen, medizinischen Informationen. Diese dürfen meines Erachtens nicht unter Strafe gestellt werden.“ Bereits mehrfach wurde sie zu hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie auf ihrer Homepage umfassend über das Thema aufgeklärt hat. Noch vor ihrer Verurteilung wandte sie sich mit ihrem Anliegen an die Öffentlichkeit, denn das Thema gehe die Gesellschaft etwas an: „Der Staat ließ es zu, dass die Informationshoheit im Netz zum Thema Schwangerschaftsabbruch in den Händen der Abtreibungsgegner lag.“
Welche Konsequenzen diese Einschränkung hat, erlebt Kristina Hänel Tag für Tag in ihrer Praxis, regelmäßig erhalte sie verzweifelte Anrufe aus ganz Deutschland. Hänel ist sich sicher, dass der Entscheidungsprozess jeder Betroffenen durch die aktuelle Regelung beeinflusst wird: „Mir geht es darum, dass die Betroffenen eine Chance erhalten, an sachliche Informationen zu kommen und nicht nur den Seiten der Abtreibungsgegner ausgeliefert sind.“
„Ein menschlicher Embryo oder Fötus besitzt eine herausragende moralische Bedeutsamkeit, nicht aber die gleiche Bedeutsamkeit wie die Schwangere.“
Prof. Dr. Klaus Steigleder
Selbst wenn eine Frau eine Praxis gefunden und straffrei abgetrieben hat, bleibt die moralische Verurteilung nicht aus. Dieses Problem liegt laut Professor Klaus Steigleder, Ethiker an der Ruhr-Universität Bochum, darin begründet, dass es in der Gesellschaft noch immer abweichende Ansichten gibt, ab wann ein menschliches Leben beginnt. Die einen sehen die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als den Anfang an, die anderen nehmen erst die Geburt als entscheidenden Zeitpunkt.
Steigleder selbst hält einen Kompromiss für den einzig vertretbaren Weg: „Ein menschlicher Embryo oder Fötus besitzt eine herausragende moralische Bedeutsamkeit, nicht aber die gleiche Bedeutsamkeit wie die Schwangere.“ Das heißt: Das Wohl der Frau steht im Zweifel über dem Wohl des Ungeborenen. Steigleder vertritt die These: Wenn es straffrei möglich ist, abzutreiben, solle auch eine straffreie Information für die Frau möglich sein.
„Es war ein Entschluss aus Achtung vor dem Leben.“
Anne-Sophie
Kristina Hänel denkt, dass Paragraf 219a bald Geschichte sein wird. Für die Zukunft wünscht sie sich vor allem, dass „Frauen und andere betroffene Personen nicht mehr in ihrer Gesundheit eingeschränkt werden, Kinder auf die Welt kommen, die gewünscht und geliebt werden. Aber die Entscheidung fälle nicht ich und am Ende natürlich auch nicht der Staat, auch wenn er sich vielleicht einbildet, er könnte das tun.“ Das Dilemma der Betroffenen lasse sich gesetzlich, politisch, religiös nicht regeln.
alle Grafiken: Selina Mittermeier
* Namen auf Wunsch geändert