Still gestanden
Bei Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung in der Bundeswehr stehen Soldat:innen zwischen den Fronten.
von Stefania Freundl, Tom Kolb, Rika Mank, Tim Rausch und Paul Schulz
Symbolbild der Redaktion
von Stefania Freundl, Tom Kolb, Rika Mank, Tim Rausch und Paul Schulz
Jedes Jahr verlassen mehrere hundert Soldat:innen die Bundeswehr, meist still und leise. Kaum Gespräche mit den Kamerad:innen, selten mit der Presse. Warum treten Soldat:innen vorzeitig aus und warum setzen andere ihre Sicherheit für Deutschland aufs Spiel?
Es ist nicht leicht, sie zu finden. Die Aussteiger:innen. Die, die aus der Reihe tanzten. Wer vor Ablauf der
nicht mehr in Reih und Glied stehen will, kämpft oft allein. Die Meinungen der Soldat:innen zu einem vorzeitigen Austritt sind vielfältig: von Verständnis bis Ablehnung. Max Diedrichs (Name geändert) verließ die Bundeswehr vor sechs Jahren mit einem Kriegsdienstverweigerungsantrag (KDV-Antrag).Wenn ein:e Soldat:in die Bundeswehr verlassen will und die sechsmonatige Probezeit abgelaufen ist, geht das häufig nur auf eine Weise: den Kriegsdienstverweigerungsantrag (KDV-Antrag). Der Antrag besteht aus einem formalen Anschreiben, dem Lebenslauf sowie einer Begründung, warum man den Dienst an der Waffe verweigern will. Anwält:innen, Psycholog:innen oder NGOs helfen beim Schreiben dieser Begründungen. Häufig geht es in den mehrseitigen Aufsätzen um einschlagende Ereignisse im Leben der Soldat:innen sowie um schwere Schicksalsschläge.
Diedrichs erinnert sich genau an den Tag, der später den Grundstein für seinen Bundeswehr-Abschied legte. Er absolvierte zu dieser Zeit zusätzlich zu seiner Tätigkeit bei der Bundeswehr ein Praktikum als Rettungssanitäter. Er fuhr zu einem Einsatz – einer Schießerei. Das Opfer lag im Rettungswagen, Diedrichs saß neben ihm. Eine Pistolenkugel hatte sich in den Oberschenkel gebohrt, eine weitere das Bein gestreift. Blut quoll heraus, Diedrichs redete mit dem Angeschossenen, versuchte ihn zu beruhigen, bis die Narkose eintreten würde. Nie zuvor hatte Diedrichs eine Schussverletzung gesehen.
„Natürlich wusste ich, dass ich bei der Bundeswehr mit Waffen arbeiten muss, aber als Jugendlicher weiß man oft noch nicht, was solche Waffen im menschlichen Körper anrichten können. Ich wollte schon immer Menschen helfen. Die Vorstellung, einem anderen Menschen diesen Schaden zuzufügen, passte mit meiner Einstellung nicht mehr zusammen“, sagt er heute.
Gewissensbisse nagten an Diedrichs Soldaten-Dasein. Schussübungen mied er – monatelang grübelte er, zog sich immer mehr von seinen Kamerad:innen zurück. So lange, bis er sich 2015 einen Anwalt organisierte, um den KDV-Antrag zu stellen. Der einzige Ausweg, wie er ihn nennt.
Ein Dreivierteljahr später genehmigte die Bundeswehr seinen Austritt. Sein Anwalt betreute den Vorgang, Diedrichs selbst bekam nicht viel davon mit. Innerhalb eines Tages fuhr er von seinem Wohnort, wo er das Wochenende verbrachte, zur Kaserne und musste unter Aufsicht seiner Vorgesetzten die Stube räumen, Papiere abgeben und die Kaserne verlassen. Er war jetzt kein Soldat mehr.
Mit Diedrichs Entlassung musste er knapp 15.000 Euro Schulden bei der Bundeswehr innerhalb eines Jahres begleichen. „Ich habe ja nicht schlecht verdient und war auch ein sparsamer Typ. Durch meine Ersparnisse konnte ich das Geld zurückzahlen, ohne dass ich mich verschulden musste.“
Ausbildung, Studium und Lehrgänge müssen die Soldat:innen trotz KDV-Antrag häufig zurückzahlen. Ein Ausstieg kann so schnell tausende von Euros kosten. Die Bundeswehr übernimmt für die Soldat:innen, während sie verpflichtet sind, die Kosten von Fachausbildungen, Speziallehrgängen, Führerscheinen, aber auch für Verpflegung und Unterkunft.
Diedrichs kritisiert heute, dass die Bundeswehr nicht genügend Aufklärungsarbeit leistet. „Innerhalb der ersten sechs Monate kann jeder problemlos aussteigen, aber ab dann ist man gebunden. Mit 18, 19 Jahren kann man noch nicht wissen, was 15 Jahre überhaupt ausmachen – was sich alles in dieser Zeit verändern kann. Die Bundeswehr kommuniziert auch nicht sonderlich gut, dass es ab der Verpflichtung gar keine einfache Möglichkeit mehr gibt, rauszukommen.“
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Mit seinem Ausstieg ist er nicht allein. 2022 hat sich die Anzahl der Anträge im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt.
Die Gründe für den rapiden Anstieg der KDV-Anträge im Jahr 2022 könnten vom Kriegsbeginn in der Ukraine bis zur Einführung der Impfpflicht für Soldat:innen reichen. Thomas Bayer, Anwalt für Wehrrecht, vermutet, dass auch ein anstehender Auslandseinsatz für Soldat:innen ein Grund für den Austrittswunsch sein kann.Ein Antrag bedeutet aber nicht immer automatisch, dass den Soldat:innen der Austritt genehmigt wird. „Man kommt nur unter zwei Aspekten raus. Entweder ein Schlüsselereignis hat mich so geprägt, dass ich den Job nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren kann oder eine Entwicklung, die stattgefunden hat, muss dargestellt werden, wegen der man raus will“, sagt Bayer. Die Bundeswehr prüfe diese Anträge dann ganz genau. Sie erkundige sich gegebenenfalls bei den Dienstvorgesetzten oder Familienmitgliedern der Soldat:innen über die Beweggründe, Auffälligkeiten oder Charakterzüge. Entpuppen sich die Aussagen im KDV-Antrag als falsch, wird er in der Regel abgelehnt.
Doch dass immer mehr Soldat:innen KDV-Anträge stellen, versteht nicht jeder. Tobias Rademacher sitzt in einem Münchener Café. Kurze, blonde Haare, Jeans, unauffälliges Oberteil. Seit vier Jahren ist er bei der Bundeswehr. „Nachvollziehen kann ich die Austritte meist nicht. Man hat sich ja bewusst dazu entschieden, bei der Bundeswehr zu sein. Besonders in den letzten Monaten zeigt sich, wie wichtig Soldaten sind. Meine Entscheidung, in der Bundeswehr zu dienen, hat sich dadurch nochmal gestärkt“, sagt er.
Während der
bestehe die Möglichkeit, problemlos aus der Bundeswehr auszutreten. Soldat:innen, die sich im Anschluss verpflichten und dann nur unter schweren Bedingungen den Kriegsdienst verweigern können, seien laut Rademacher „selbst schuld“. Die Soldat:innen wüssten ja, worauf sie sich einlassen.Seit 2019 ist Rademacher bei der Bundeswehr – und hat sich damit einen Kindheitstraum erfüllt. Er wusste schon früh, dass er der Bundeswehr beitreten will. Im Kindesalter sah er eine Doku über die Anschläge vom 11. September, die damals erst einige Jahre her waren. Als die Flugzeuge in das World Trade Center und das Pentagon krachten, als Tausende ihr Leben verloren, als der Terror nach Amerika kam, sagte er seiner Mutter, dass er Terroristen bekämpfen will. So hat sie es ihm zumindest erzählt. Er selbst kann sich an dieses Gespräch nicht erinnern, aber die Geschichte hat ihn geprägt und diente als Wegweiser für sein Leben.
Rademachers Weg in die Bundeswehr begann mit der Grundausbildung. Innerhalb der drei Monate hat er nie mehr als fünf Stunden pro Nacht geschlafen. Schon vor dem Frühstück ging es zum Sport. „Es gab keine Pause von morgens bis abends. Wir hatten Dienst bis 20 Uhr und Überstunden ohne Ende“, erzählt er. Doch der 20-Jährige meint, dass diese Härte in der Grundausbildung wichtig ist. Man brauche als Offizier:in Durchhaltevermögen. Etwas, das nicht alle hatten. Ein Drittel der anderen
brach noch während der Grundausbildung ab.Mittlerweile studiert Rademacher Maschinenbau mit der Spezialisierung Sicherheitssysteme bei der Bundeswehr. Der Kontakt zu Soldat:innen in der Truppe ist auf ein Minimum geschrumpft. Seinen militärischen Vorgesetzten sieht er nur alle drei Monate.
Während Diedrichs seine Waffe nicht mehr anfassen wollte, verspürt Rademacher bei seinen Schießübungen einen Gefühlscocktail aus „Entspannung, Spaß und Adrenalin“. Er freut sich darauf, seine „Fähigkeiten im Ernstfall unter Beweis stellen zu können“. Im Auslandseinsatz ist Rademacher allerdings noch nicht gewesen. Dass er, wie Diedrichs, jemals vorzeitig austreten würde, kann er sich nicht vorstellen.
Für Anwalt Thomas Bayer keine Überraschung: „Die Bundeswehr sorgt rundum für die Soldat:innen. Sie bekommen Essen, Kleidung, eine Unterkunft, eine Ausbildung, die Waffenausrüstung – die grundsätzlichen Sachen sind alle da. Und trotzdem kann es passieren, dass beispielsweise ein Ereignis, bei dem ein Mensch erschossen wird, die Einstellung zur Bundeswehr so sehr ändert, dass man austreten muss.“
Diedrichs sagt, auch er habe als junger Soldat nicht damit gerechnet, dass er eines Tages aussteigen würde. Aber man lerne das richtige Leben in der Bundeswehr erst kennen, wenn die Ausbildung abgeschlossen sei und man zu seiner Truppe komme.
Rademacher ist sich trotzdem sicher, dass die Bundeswehr das Richtige für ihn ist und dass er sich dort verwirklichen kann. „Ich bin stolz auf Deutschland. Wir haben eine ordentliche Demokratie und die möchte ich behalten. Viele Leute schätzen das nicht wert, weil sie noch nie gesehen haben, wie es in anderen Ländern ist, in denen es ein anderes politisches System gibt. Für unsere Demokratie würde ich auch in einen Einsatz gehen. Ich möchte im Leben etwas erreichen, einen Unterschied machen. Die Bundeswehr gibt mir dafür die Möglichkeit“, sagt er. Während Rademacher spricht, probt im Hintergrund des Münchener Cafés eine Band. Heroische Instrumental-Musik ertönt, die die Szenerie wie einen Hollywood-Blockbuster wirken lässt. Rademacher muss lachen, stellt dann aber nochmal mit ernster Mimik klar: „Ich bin bereit, meine eigene Sicherheit für die Sicherheit Deutschlands zu opfern.“
Für Diedrichs ist es beruhigend zu wissen, dass er heute nicht als Erster in „irgendein Kriegsgebiet muss, wenn es knallt“. Er arbeitet noch immer als Rettungssanitäter. Er ist noch immer bereit, seine eigene Sicherheit für die Gesundheit anderer zu opfern. Nur schießen möchte er nicht. Niemanden verwunden, nur um ihn dann behandeln zu müssen. Dafür war der KDV-Antrag nötig.
Stefania Freundl
Social-Media-Redaktion (CvD)
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Textredaktion, Social-Media-Redaktion
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