Wenn man(n) schweigt
Männer in Gewaltbeziehungen
von Magdalena Fürst, Annika Mösl, Melanie Rast, Sophia Ruppert und Anna-Lena Weber
Symbolbild der Redaktion
von Magdalena Fürst, Annika Mösl, Melanie Rast, Sophia Ruppert und Anna-Lena Weber
Triggerwarnung: In diesem Beitrag wird häusliche Gewalt thematisiert. Wenn dich das Thema belastet, schau dir diesen Beitrag besser nicht an.
Beim Thema häusliche Gewalt denken die meisten Menschen zuerst an betroffene Frauen. Was viele nicht wissen: Rund 20 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind Männer. Offen darüber gesprochen wird allerdings nur selten. Warum die Tabuisierung ein Problem ist und wie betroffenen Männern geholfen werden kann.
Am Anfang denkt Sven (Name geändert) alles ist traumhaft. Er unternimmt viel mit seiner neuen Freundin und zieht bereits nach wenigen Monaten mit ihr zusammen. Auch seine Freunde verstehen sich gut mit ihr, sie ist beliebt und sympathisch. Wenn andere Menschen sie kennenlernen, vertrauen sie ihr in kürzester Zeit die persönlichsten Details aus ihren Leben an. Als Sven mehrere Jahre mit seiner Freundin zusammen ist, fragen ihn seine Freunde, warum er ihr keinen Heiratsantrag macht. Für seine Freunde und Familie wirkt die Beziehung harmonisch.
Was alle anderen nicht sehen: Wenn Sven mit seiner Freundin allein ist, wird sie immer wieder gewalttätig. Erst redet sie schlecht über ihn. Beleidigt ihn, wirft Gegenstände. Irgendwann gibt sie ihm eine Ohrfeige. Aus einmal wird zweimal, dann jede Woche. Irgendwann steckt Sven täglich mindestens eine Ohrfeige ein. „Mir war die ganze Zeit klar, dass ich da raus muss, aber ich hatte nicht die Möglichkeit”, erzählt er, während er auf dem dunkelblauen Sessel in der Sozialberatungsstelle sitzt. Sven ist Anfang dreißig, manchmal wird er beim Erzählen schneller, dann hört er wieder auf zu reden. Nur das Ticken der Uhr und gedämpfter Straßenlärm durchbrechen dann die Stille. Damals war Sven Anfang zwanzig, zehn Jahre lebte er mit seiner Freundin zusammen, in einer gewalttätigen Beziehung.
Hinweis: Alle Zitate sind nachgesprochen.
Illustrationen von Lena Mösl
Häusliche Gewalt an Männern, wie Sven sie erlebt hat, ist kein neues Phänomen. Bereits seit mehreren Jahren steigt die Zahl der männlichen Betroffenen, die in einer Partnerschaft häusliche Gewalt erleben, stetig an. Das geht aus einer Auswertung des Bundeskriminalamts (BKA) aus dem Jahr 2020 hervor. 28.000 der vom BKA erfassten 148.000 Betroffenen waren Männer, das entspricht 19,5 Prozent.
Die Dunkelziffer sei allerdings noch sehr viel höher, meint Maxi Huster, Sozialarbeiterin des Männernetzwerks Plauen (Sachsen). Beratungs- und Schutzangebote für betroffene Männer finden sich in Deutschland jedoch nur wenige. Laut einer Auflistung der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM) gibt es bundesweit 44 Beratungsstellen, die sich explizit an Männer richten, die Gewalt erfahren. Maxi Huster findet das problematisch. Die Männerarbeit in Deutschland sei noch nicht so weit fortgeschritten wie die Frauenarbeit und der Frauenschutz, sagt sie.
Durch die Hilfsangebote und Projekte ist es mittlerweile möglich, dass Männer, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, darüber sprechen können. Dass das Thema jetzt in der Öffentlichkeit thematisiert werden kann, liege daran, dass nun das Bewusstsein für Gewalt an Frauen in der Gesellschaft existiere. Deshalb könne man jetzt daran gehen, das auch für Männer zu tun, meint Paul Schenk, Pädagoge bei der Beratungsstelle für betroffene Männer der AWO Augsburg. Es sei wichtig, dass es Angebote speziell für Männer gebe, da „eine explizite Ansprache hilft, dass das Beratungsangebot wahrgenommen wird“, erklärt Schenk. Dennoch ist das Thema noch immer schambehaftet und Gewalt an Männern oft ein Tabuthema.
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Männer ist eine bundesweite Anlaufstelle für Männer, die Gewalt erleben oder erlebt haben.
0800 1239900
beratung@maennerhilfetelefon.de
Sprechzeiten: Mo. – Do.: 08:00 – 20:00 Uhr, Fr.: 08:00 – 15:00 Uhr
Chatberatungszeiten: Mo. – Do.: 12:00 – 13:00 Uhr, 17:00 – 19:00 Uhr
Seit 2019 unterstützt das Projekt GewaltLOSwerden in Bayern auch das Hilfstelefon und deckt Prävention, Beratung und Schutz ab. Insgesamt 1,7 Millionen Euro sind durch das Projekt in diesem Jahr in das Hilfetelefon geflossen, was aus Angaben des Bayrischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) hervorgeht.
Die AWO Augsburg bietet eine Anlaufstelle für Wege aus der Gewalt für Männer.
0821 450339–10 bzw. 0821 450339–20
via@awo-augsburg.de
Erreichbarkeit: Mo./Do./Fr.: 09:00 – 15:00 Uhr; Di: 14:00 – 20:00 Uhr, Mi: 09:00 – 13:00 Uhr, 16:00 – 20:00 Uhr
Dass das Thema für viele Menschen ein Tabu ist, spürt auch Sven, als er das erste Mal versucht sich Hilfe zu suchen. Während der ersten drei Jahre der Beziehungen weiß er nicht, ob das Verhalten seiner Freundin normal ist. Nach vier Jahren ist er sich aber sicher, dass sie manchmal „außer Rand und Band ist“, wie er sagt. Er geht zu einer Beratungsstelle für soziale Fälle und sagt dort, dass seine Freundin sehr schnell wütend wird, wenn er etwas falsch macht. Von häuslicher Gewalt spricht er nicht. Der Berater sagt ihm, dass ein Verhalten wie das seiner Freundin eher untypisch für Frauen sei und Männer sowas machen. Wenn er seine Freundin so sehr verärgert, muss er etwas ganz besonders falsch machen. Für Sven klingt das logisch, dass er das Problem ist. Seine Freundin sagt ihm das dauernd, seine Eltern haben ihn früher auch immer als unordentlich bezeichnet. Was ihm der Berater im Gespräch als vermeintlichen Ratschlag mitgibt, erscheint für Sven daher äußerst schlüssig.
„Ich habe mich oft so gefühlt, als würde ich Leuten erzählen, dass ich von Außerirdischen entführt wurde.“
Sven
Sven strukturiert sein Leben um, damit seine Freundin ihn nicht mehr disziplinieren muss: „Ich wurde ordentlicher“, erzählt er. Sven setzt sich mit vielen Reinigungsmitteln auseinander, konzentriert sich aufs Putzen. Trotz seines veränderten Verhaltens geht die Gewalt weiter. Irgendwann greift seine Freundin ihn körperlich so an, dass er das Bewusstsein verliert und starke Schmerzen hat. Er geht zu seinem Hausarzt. Dieser schickt ihn in die Notaufnahme.
Ab diesem Zeitpunkt ruft Sven, wenn er nicht mehr weiterweiß, bei Hilfetelefonen an. Diese richten sich allerdings nur an betroffene Frauen von häuslicher Gewalt. Denn Hilfetelefone für betroffene Männer gibt es zu dieser Zeit noch nicht. Beim ersten wird er abgewiesen, man könne ihm nicht helfen, weil sie dafür nicht zuständig seien. Bei der zweiten Hotline ist man sich des Problems bewusst. Die Frau am Telefon sagt, dass er nicht die Polizei anrufen soll. Viele Männer erzählen ihr, dass sie die Polizei gerufen haben und dann direkt verhaftet wurden. Weil Sven nicht weiß, wohin, sucht sie ihm eine Obdachlosenunterkunft aus. Bei der dritten Hotline denkt die Frau am Telefon, er veralbert sie mit etwas, das es gar nicht gibt. „Ich habe mich oft so gefühlt, als würde ich Leuten erzählen, dass ich von Außerirdischen entführt wurde, weil alle meinten: das gibt es nicht. Dann habe ich es erstmal ein bisschen aufgegeben, Hilfe zu suchen“, sagt Sven. Mehrere Jahre spricht er nicht mehr über die Gewaltsituation, in der er sich befindet.
Es sei typisch, dass Männer häusliche Gewalt länger aushalten als Frauen, denn „wenn Frauen Täterinnen sind, dann ist die psychische Gewalt verstärkt der Fall“, erklärt die Sozialarbeiterin Maxi Huster. Das könne man sich wie ein Spinnennetz vorstellen, das Frauen immer weiter aufbauen und in dem die Männer gefangen sind. In diesem Netz spielen Kinder häufig eine zentrale Rolle. Männer trennen sich oft nicht, weil sie sich fragen, was dann mit den gemeinsamen Kindern passieren würde. Neben dieser psychischen und emotionalen Gewalt erleben viele Männer auch körperliche und ökonomische Gewalt. Auch wenn der Gedanke verbreitet ist, dass Männer die Erwerbstätigen sind, sind viele auch von dieser Form der Gewalt betroffen. Entweder, weil sie selbst nicht so viel verdienen oder, weil sie das Geld oder Konto nicht selbst verwalten würden, erklärt Paul Schenk von der AWO Augsburg. Außerdem erfahren Männer auch oft soziale Gewalt, also dass der:die Partner:in über ihr Leben bestimmt, sie kontrolliert und entscheidet, ob und wann sie das Haus oder die Wohnung verlassen dürfen.
Auch Sven hat diese verschiedenen Formen der Gewalt erlebt. Sowohl die Beleidigungen auf psychischer Ebene als auch körperliche Gewalt durch Angriffe sowie soziale Isolation durch seine Freundin. Sie redet seine Freunde schlecht, sucht deren Fehler gezielt aus und sagt, dass sie die Leute doof findet und sie einen schlechten Einfluss auf Sven haben. Er isoliert sich, hat niemanden, mit dem er viel zu tun hat oder reden kann. Auch finanziell steht er nicht gut da. Weder er noch seine Freundin können sich eine eigene Wohnung leisten. „Ich dachte einfach Augen zu und durch, irgendwie das Studium fertig machen und einen guten Job finden“, sagt Sven. Wirklich raus aus der gewalttätigen Beziehung kommt er erst, als ein Arzt bei einer Routineuntersuchung seine Verletzungen sieht und den Kontakt zu einer Männerschutzwohnung herstellt. Aber die Schutzwohnung ist noch belegt. Es vergeht einige Zeit, bis ein Platz frei ist. Als er die Zusage hat, handelt Sven. Seine Freundin ist nicht zu Hause, er packt seine Sachen und haut ab in die Schutzwohnung. „Ich fand es verrückt, als ich in die Schutzwohnung ging, hat sich das voll nach Sicherheit angefühlt“, erzählt Sven.
In der Männerschutzwohnung wohnt er mit einem Mann zusammen, der auch häusliche Gewalt erfahren hat. Explizit über die Gewalt spricht er aber nie mit ihm. „Jeder wusste, was dem Anderen passiert ist. Wir wissen ja, warum wir in dieser Wohnung wohnen“, sagt Sven. Trotzdem führen die Männer dort ein weitgehend normales Leben. Sie gehen einkaufen, putzen und gehen zur Arbeit. Nur Freund:innen dürfen nicht in die Wohnung kommen, damit der passive Schutz der Wohnung gewährleistet werden kann.
Obwohl die Männer in der Wohnung sicher vor Gewalt sind, bricht der Kontakt zu den Täter:innen oft nicht ab. Der Psychologe Klaus Sejkora erklärt, dass die Kontaktaufnahme mit Täter:innen oftmals hilfreich sein könne, um über das Geschehene hinwegzukommen. Außerdem hätten viele Betroffene die Hoffnung, die Zeit zurückzudrehen. Das treffe aber nicht auf alle zu.
Während er dort ist, telefoniert Sven oft mehrere Stunden mit seiner Exfreundin. Er führt aber auch viele Gespräche mit den Betreuer:innen der Schutzwohnung. Diese sind für ihn besonders wichtig. Einerseits um zu erkennen, dass ihm wirklich Unrecht getan wurde, andererseits um Panikattacken und andere Auswirkungen der häuslichen Gewalt zu bewältigen.
Männerschutzwohnungen stellen eine enorme Hilfe dar, von der häuslichen Gewalt loszukommen. In ganz Deutschland gibt es insgesamt zwölf Stück, 37 Männer finden dort gleichzeitig Schutz. Gefördert werden die Wohnungen vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, was aus Angaben der BFKM hervorgeht. Dabei übernimmt der Staat 97 Prozent der Finanzierung, die restlichen drei Prozent finanzieren die Schutzwohnungen selbst durch Spenden. In den Eigenanteil fließen außerdem die 8,50 Euro, die Männer mit Einkommen täglich zahlen, wenn sie in den Wohnungen Schutz erhalten. Sonst übernimmt das Jobcenter. In der Regel bleiben die Männer dort höchstens drei Monate, das ist bundesweit gleich geregelt. Edith Hasl, angestellte Sozialpädagogin der Beratungsstelle und Schutzwohnung in Stuttgart, findet das Angebot nicht ausreichend. Sie müssen immer wieder Anfragen abweisen. „Es gibt zu wenige Schutzwohnungen für Männer“, sagt sie. Die zuständigen Ministerien teilen diese Ansicht nicht.
Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg:
Seitens des Ministeriums gibt es derzeit keine bestehenden Förderungen von Schutzwohnungen für Männer und auch andere finanzielle Förderungen seien nicht geplant. Eine Begründung liefert das Ministerium nicht.
Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales:
Sie sagen, dass Bayern “mit seinen Netzwerkprojekten und der Hotline eine auch im Vergleich zu anderen Bundesländern fachlich gut aufgestellte, zielgerichtete und bedarfsgerechte Infrastruktur” hat.
Kontakt zu seiner Exfreundin hat Sven immer noch. Sie telefonieren ab und zu und circa einmal im Monat trifft er sich mit ihr an einem öffentlichen Ort. Sven hat das Gefühl, dass sie sich verändert hat. Er lernt mittlerweile auch, Nein zu sagen und möchte auf keinen Fall, dass der Kontakt zu ihr nochmal so wie vorher wird. „Ich bin mit meinem aktuellen Leben super happy“, erzählt er. Bei der Arbeit hat er Kolleg:innen, mit denen er sich gut versteht, Sachen unternimmt und befreundet ist. Dort hat er keinen Stress, kommt mit allen gut aus. Außerdem findet er es dort, wo er jetzt wohnt, sehr schön. Er lebt mittlerweile in einer eigenen Wohnung, an einem Ort, an dem er sich sehr wohl und sicher fühlt. Sven hat es geschafft, raus aus der Spirale der häuslichen Gewalt, die eben nicht nur Frauen betrifft. Dieses Glück haben aber nicht alle, denn viele Betroffene bleiben oft ungehört und unverstanden.
Magdalena Fürst
Textredaktion, Social-Media-Redaktion, Autor:innen-Gruppenleitung
Annika Mösl
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Melanie Rast
Social-Media-Redaktion (CvD)
Sophia Ruppert
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Anna-Lena Weber
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