Zwirn der Zukunft

Baggypants oder Seidekleidchen: Jede Saison ein neuer Trend – Mode, der jeder folgen muss. Wer aber bestimmt, wo es auf dem Laufsteg lang geht?

Im Atelier von Karin Fraidenraij, 42, wird aus Kleidung vielleicht einmal Mode. Hier steht ein weißer Ecktisch. Darauf Stoffmuster, wild durcheinander geworfene Zettel. Bleistiftstriche, die zu Strickpullis, Jäckchen, Ponchos werden. Es duftet nach Kaffee. Über dem Atelier La Cruz Del Sur in der Münchner Innenstadt ist noch kein Firmenschild angebracht. Aber die erste Kollektion hängt bereits an zwei Kleiderständern. Karin Fraidenraij macht sich gerade als Designerin von Strickkleidung selbstständig. Die gebürtige Argentinierin muss immer genau wissen, wie sich der Modemarkt entwickelt, wie die Trends in Zukunft aussehen. Doch wie wissen, ob das Jäckchen, an dem sie gerade arbeitet, einmal Mode wird?

In der deutschen Sprache werden die Begriffe Mode und Kleidung gleichbedeutend gebraucht, dennoch meinen sie zwei unterschiedliche Dinge: Einerseits gibt es Kleidung, die wir tragen, um uns zum Beispiel vor Kälte zu schützen – das also, was wir zweckmäßig anziehen. Auf der anderen Seite gibt es Trends, eben das „in Mode sein“ oder den Zeitgeschmack. Kleidung ist somit nicht automatisch Mode, kann aber dazu werden.

Durchsickern und Hochploppen

Um neue Trends zu schaffen, muss Karin Fraidenraij stets den Wandel unserer Gesellschaft im Auge behalten. „Es gibt zurzeit ein Bedürfnis nach Dingen, die etwas wert sind. Man hat das Gefühl sich zu verlieren und möchte zu seinen Wurzeln zurückkommen.“ Sie meint, eine melancholische Stimmung zu erkennen, die sie nun in ihrer ersten Kollektion in Form, Farbe und Stoff umgewandelt hat. Deshalb setzt Karin Fraidenraij auf Naturmaterialien und gedeckte Farben. Dabei orientiert sie sich an der schnelllebigen Großstadt als wesentlichem Element. „Die Stadt ist für mich grau, deshalb ist Grau dominierend in meiner Kollektion“, sagt sie und zeichnet mit einigen sicheren Bleistiftstrichen ein Jäckchen aufs Papier. Mit schwarzer Aquarellfarbe wird sie diese Zeichnung später ausfüllen.

Auch für Sabine Resch, Modejournalistin bei der „Süddeutschen Zeitung“, ist unsere Umwelt ein wichtiger Faktor: „Politische Weltlagen geben Moden vor. So zum Beispiel der Ökotrend. Nur: Heute sieht man nicht wie in den Achtzigern auch nach ‚Öko’ aus.“ Dieser Trend ist aus einer kleinen Subkultur entstanden – den Umweltschützern. Im Allgemeinen können Trends in zwei Richtungen entstehen: „Trickle down“ oder „Bubble up“ – zwei Begriffe, die theoretisch beschreiben, wie Moden entstehen. „Trickle“ – also durchsickern – bedeutet, dass Stars Kleidung tragen, die die Masse später übernimmt. Der Trend sickert also von oben nach unten durch: Wenn Madonna plötzlich Adiletten trägt und dann immer größere Teile der Gesellschaft sagen, dass das der letzte Schrei ist, dann sind Adiletten bald Mode. „Dieses Modell stimmt aber in der Regel nicht, weil die meisten Trends anders entstehen“, sagt Sabine Resch. Viel eher könne man die Entstehung von Moden mit der „Bubble up“-Theorie erklären. Sie beschreibt einen Trend, der von der Straße über die Designer in die Läden „hochploppt“. So trugen amerikanische Jugendliche aus armen Verhältnissen die viel zu großen Jeans ihrer Verwandten oder Freunde, ehe daraus die Mode der Baggypants entstand. In den Neunzigern feierten die tief sitzenden Hosen in der Hip-Hop- und Skaterszene ihren Höhepunkt.

Auch für Designerin Karin Fraidenraij sind Leute auf der Straße Inspiration: Pinke Shirts, gelbe Schuhe, ausgeflippte Handtaschen oder Hüte und schrille Accessoires sind hier zu finden. Um diese Trends zu entdecken, geht sie oft zum Gärtnerplatz in München. „Auch in der Feilitschstraße kann man gut sitzen und Leute beobachten. Hier sind viele Geschäfte mit abgefahrenen Klamotten.“

Tasten und Trendbüros

Zusätzlich zur Straße finden Designer Inspiration für Formen und Farben auf Stoffmessen wie der Munich Fabric Start. Hier hat sich auch Karin Fraidenraij Ideen für ihre erste eigene Kollektion geholt. Auf der Messe reihen Anbieter in mehreren Hallen schwere golddurchwobene Brokatstoffe mit Blumenmustern an feinste Seide und edle Wolle. Zutatenhändler stellen ihre neuesten Reißverschlüsse und Knöpfe vor.

 

Wenn Karin Fraidenraij auf der Stoffmesse ist, schaut sie sich zunächst die Designs der Stoffe an, befühlt Wolle, erkundigt sich nach deren Zusammensetzung. In der Halle mit den Accessoires durchwandern Hornknöpfe und feine Lederbänder ihre Hände. Einige Garne wird sie bestellen und daraus das schwarze Jäckchen fertigen. 

Inspirieren lassen sich Designer aber auch von den dort ausgestellten Moodboards. Das sind künstlerische Kollagen aus Fotos, Bordüren, Zeichnungen und Stofffetzen zwischen kurzen Texten. Sie werden von Trendforschern und Modeinstituten zusammengestellt und sollen die ak-tuelle Stimmung in der Gesellschaft einfangen und darstellen. Findet ein Trendbüro heraus, dass die Welt sich Richtung Osten orientiert, kann eines der vorgestellten Themen beispielsweise „Russischer Winter“ lauten. Dann werden Pelzstücke auf die Moodboards geklebt, Bilder vom Kreml oder der Eremitage neben Texte von Tolstoi und Dostojewski geheftet. Skizzen von Ballkleidern aus der Zeit Katharinas der Großen verbinden die Collage. Anhand dieser Inspirationswände entstehen in den Köpfen der Designer Ideen zu ersten Entwürfen.

Die Leidenschaft des Designs

„Für mich ist das wie ein Tango, sehr leidenschaftlich“, beschreibt Karin Fraidenraij den Zeitraum der Ideenfindung. So ist bereits das schwarze Jäckchen entstanden. Sie überträgt es mit genauen Maßangaben in ein Computerprogramm und schickt es später per Mail nach Südamerika. „Ich möchte meine neue und meine alte Heimat miteinander verbinden. Außerdem ist es billiger, wenn ich dort produzieren lasse.“ In Karin Fraidenraijs Heimat Argentinien wird weiche Alpaka-Wolle schließlich in Handarbeit zu dem schwarzen Jäckchen gestrickt. Dieses dort typische Material passt zum aktuellen Naturtrend. „In den USA ist alles aus Plastik, aber die Menschen wollen wieder natürliche Sachen.“

Ingrid Loschek, Professorin für Modegeschichte in Pforzheim, erklärt die Entstehung solcher Trends in ihrem Buch „Wann ist Mode?“ und beschreibt dabei drei Ebenen.

Erste Ebene:

Designer holen sich aus ihrer Umwelt Inspiration und gestalten Kleidung, die Models dann auf dem Laufsteg präsentieren. Prada stellte beispielsweise im Februar 2008 in Mailand schwarze Spitze für die Winterkollektion 2009 vor.

Zweite Ebene:

Fotografen lichten die Kollektionen ab und Journalisten machen Beiträge für Zeitschriften, Zeitungen und Fernsehen. Durch Auswahl einzelner Kleidungsstücke entstehen bereits erste Modetendenzen. Als federführend für diesen Prozess gilt Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen Vogue. Was sie für gut befindet, landet im Heft und damit in allen anderen Modemagazinen der Welt. Gleichzeitig entscheiden auch die Einkäufer der Modegeschäfte, was später im Laden zu kaufen sein wird. Sie bestellen also Pradakleider und -oberteile, die zum Jahresende im Laden zum Kauf angeboten werden. Das hat auch zur Folge, dass Billighersteller wie H&M oder Zara Spitze in ihre Kollektionen einfließen lassen und den entstehenden Trend so massentauglich machen.

Dritte Ebene:

Der Kunde sieht Kleidung in Zeitschriften und Fernsehen, schließlich auch in Boutiquen und Modehäusern. Die Eindrücke beeinflussen, was er schließlich kauft und anzieht. Eine Mode ist geboren, wenn sich dann Gruppen der Gesellschaft durch Medien darauf verständigt haben, dass es Mode ist. So wurde Spitze in diesem Jahr zum absoluten Trend.

Auch Karin Fraidenraij ist davon überzeugt, dass ihre Intuition genau den Nerv der Zeit trifft. Heute ist das erste Musterjäckchen aus Buenos Aires eingetroffen. Sie hängt es auf eine Schneiderpuppe, nimmt das gelbe Maßband, legt es am Kragen an und misst die Länge. Mit dem Bleistift notiert sie die Maße – zehn Zentimeter zu kurz. Solche Probleme halten auf, gerade wenn jemand wie Karin Fraidenraij alleine arbeitet. „Die Kreativität ist unterdrückt, wenn man alles selber machen muss. Aber mir gefällt es, zu experimentieren.“

 

Trendrecherche in Disco und Fußgängerzone

Alleine auf das Gelingen von Experimenten verlassen sich große Firmen nicht. Marion Thomas, Dozentin an der Akademie für Mode und Design, sagt: „Je mehr die Ergebnisse von Trendscouts dem Zeitgeist entsprechen und je mehr sie den Nerv der Menschen getroffen haben, desto erfolgreicher verkauft sich das Produkt.“ Trendscouts arbeiten oft für Trendforscher. Sie ziehen durch die Nachtclubs oder Fußgängerzonen der Großstädte, um herauszufinden, was bald angesagt sein könnte. Viele Trends werden beispielsweise in der Punk- und Undergroundszene von London geboren. Hier fotografieren die Trend-scouts Jugendliche mit ausgefallener Kleidung und verkaufen die Bilder dann an Modefirmen und -institute. Denn sie glauben, dass die Kleidung der Menschen aus Subkulturen bald zum Trend wird.

Auch Trendforscher haben das Ziel, den Trend von morgen aufzuspüren, arbeiten aber wissenschaftlicher als Trendscouts: Sie durchforsten Medienberichte und stellen eigene qualitative Untersuchungen an. Anhand von Interviews erstellen sie zum Beispiel Studien zu Werbetrends, zukünftigem Wohnen oder auch zum Leben im Alter. Hier stehen die gesellschaftlichen Stimmungen und weniger die modischen Auswirkungen im Fokus.

Karin Fraidenraij hofft, dass sie bei der Gestaltung ihrer Kollektion ebenfalls den richtigen Riecher hat. „Alles geht Richtung ‚Öko’, weil die Zukunftsaussichten der Menschen düster sind.“ Diese Philosophie versucht die Designerin in ihrer Kollektion sichtbar zu machen. Beispielsweise, indem sie Naturfarben wählt, denen sie dann aber bewusst wieder knallige Gelb- oder Rosatöne entgegensetzt. Ihr Bauchgefühl sagt, dass echte Handarbeit genauso wichtig ist wie natürliche Materialien.

Von Megatrends und Eintagsfliegen

Der Naturtrend gehört zu den so genannten Megatrends. „Er erfasst alle Lebensbereiche der Menschen und trifft sozusagen die Leitlinien der Zeit“, sagt Modejournalistin Sabine Resch. Megatrends dauern meist mehrere Jahre an, manchmal Jahrzehnte. Sie finden sich in der Autoindustrie, beim Essen, in der Architektur oder im Möbeldesign. Es gibt aber auch Konsumtrends, die lediglich ein bis zwei Jahre halten. Gerade mal eine Saison lang galten beispielsweise Perlenarmbänder, Trucker-Caps oder Mokassins als aktuell.

Kaum sind solche Hits angesagt, werden sie kurz darauf von vielen Leuten schon wieder verschmäht und verschwinden in Kartons oder der Altkleidersammlung. „Wenn der Trend ein Massentrend ist, ist er normalerweise schon kein Trend mehr, weil er dann für die Oberen schon wieder obsolet geworden ist“, sagt Sabine Resch. Die Ingolstädter Modedesignerin Beate Bonk geht zudem davon aus, dass sich Mode wie eine Sinuskurve verhält: „Auf puristisch folgt immer opulent, weil der Mensch ein eigenes Bedürfnis nach Veränderung hat.“ Mode ist deshalb schnelllebig. Zumindest fühlt sie sich so an. Aber nicht der Modezyklus selbst ändert sich schnell, sondern die Herstellung von Kleidung und die Verbreitung der neuen Trends durch moderne Medien. Modeprofessorin Ingrid Loschek schreibt, dass selbst modische Kleidung zwei bis drei Jahre oder länger getragen wird. Nur die wenigsten Menschen kleiden sich also jedes Jahr völlig neu ein.

Karin Fraidenraij ist davon überzeugt, dass das, was sie zurzeit in langwieriger Kleinarbeit herstellt, auch noch in einigen Jahren die Gesellschaftsstimmung treffen wird – und damit Mode ist. Bald kommt das abgeänderte Jäckchen aus Südamerika zurück. Doch kaum hängt es im Atelier zum Verkauf bereit, wird Karin Fraidenraij schon wieder weiter denken. Inspirationen sammeln. Stoffe befühlen, Knöpfe kaufen. Dann wird sie mit Bleistiftstrichen versuchen, auf Papier Mode zu erschaffen.