Die Jäger stürmen durch das Unterholz. Äste knacken, Vögel fliegen auf. Unter den Jägern ist der 16-jährige Narziss. Ein schöner Junge, in den sich bereits viele Mädchen verliebten, doch der jede Liebe abwies. Narziss wird von seinen Gefährten getrennt. Da entdeckt ihn die Nymphe Echo. Sie ist ganz verzaubert von Narziss’ Schönheit und verliebt sich in ihn. Als sie mit ausgestreckten Armen dem Jungen entgegenläuft, weist Narziss ihre Liebe schroff zurück. Ein Fluch wird über Narziss verhängt. So wie Echo soll es auch Narziss ergehen: Das, was er liebt, soll er nicht bekommen. Narziss verliebt sich in sein Abbild, das sich im Bach spiegelt. Er verharrt in der Betrachtung seiner selbst, als ein Blatt ins Wasser fällt und die Spiegelung entstellt. Narziss ist schockiert von der vermeintlichen Erkenntnis, er sei hässlich, und stirbt.
Mythos und Gegenwart
Das Bild des modernen Narzissten ist geprägt von dem antiken Mythos. Doch Narzissten sind keine selbstverliebten Egomanen. Das Phänomen Narzissmus ist mit einem Blick schwer zu erfassen. Die Auffassungen, was unter Narzissmus verstanden werden kann, unterscheiden sich. Hans-Jürgen Wirth, Psychoanalytiker und Autor des Buches „Narzissmus und Macht“, ist der Meinung, dass Narzissmus in seinem eigentlichen Sinn nichts Negatives ist, „sondern etwas, das bei allen Menschen vorkommt“. Der gesunde Narzissmus in uns stärkt uns gegen Kränkungen und lässt uns Konfliktsituationen meistern.
Trotzdem hängt dem Begriff Narzissmus viel Negatives an. Das hat auch Gründe. Der Übergang von einer narzisstisch ungestörten Persönlichkeit hin zu einem krankhaften Narzissten ist fließend. So fließend, dass tatsächlich narzisstisch gestörte Menschen kaum auffallen. Heinz Kohut, Psychiater und Autor grundlegender Studien des Phämomens, unterscheidet zwischen dem gesunden und dem pathologischen Narzissmus. Krankhafte Narzissten können die eigene Selbstachtung nicht regulieren. Solche Menschen verspüren laut Kohut Arbeitshemmungen oder sind unfähig, vernünftige Beziehungen zu führen.
Maja* ist 34. Vor drei Jahren lernte sie Christoph*, 42, über eine Partneragentur kennen. Er ist Narzisst. Einen Narzissten zu seiner Erkrankung zu befragen, ist schwierig, da er oft selbst nicht erkennt, dass er krank ist. Aus diesem Grund hat auch Maja am Anfang nichts geahnt: „Mir gefiel seine offene Art. Er hat mich zum Lachen gebracht, damals“, erzählt sie. Ihr Blick hängt in der Leere und sie schweigt eine Weile. „Gedenkminuten an eine schönere Zeit“, sagte sie dann entschuldigend und gesteht, dass sie traurig ist, sich hilflos fühlt, wenn sie von ihm spricht. Nach der ersten Begegnung war Maja begeistert von Christoph. Er war attraktiv, charmant, warmherzig, eloquent. „Ich hab mir oft gedacht: Das ist der ideale Mann.“ Und Christoph kämpfte um Maja. „Er hat nicht aufgegeben, ständig angerufen, Mails geschrieben. Ich bekam Blumen ins Büro geliefert. Sehr romantisch!“
Maja und Christoph wurden ein Paar. Das war der Moment, in dem Christoph begann, sich abzuwenden. „Er wurde distanzierter. Meinte, mit mir wäre ihm langweilig“, erinnert sich Maja. Nach einem Jahr erfuhr sie, dass Christoph zeitweise in therapeutischer Behandlung war, „wegen depressiven Verstimmungen, so hat er es mir erklärt“. Christoph verkündete ihr eines Tages, er würde seinen Therapeuten nicht mehr aufsuchen. „Der Therapeut hatte die Vermutung geäußert, Christoph könne an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Christoph fand diesen Gedanken vollkommen schwachsinnig. Er spricht kein Wort mehr darüber.“
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung diese nicht anerkennen. Kern ihrer Krankheit ist das Streben nach einem überhöhten Ideal. Die Diagnose einer schwerwiegenden Krankheit wie die einer Persönlichkeitsstörung würde das eigene, grandiose Selbstbild zerstören. Sie leben nach dem Motto: Ich bin alles, ich bin gigantisch, sonst bin ich nichts.
Luxusgüter, um das Selbst aufzuwerten
Christoph begann, sich zunehmend mit Statusobjekten zu umgeben. Maja erinnert sich, dass er sich selbst nach Veröffentlichung eines seiner Bücher eine teure Uhr kaufte, wenig später ein teures Rennrad. Er lebte über seine Verhältnisse. Bei den regelmäßigen Shoppingausflügen gab er mehrere hundert Euro aus, kaufte immer nur das Teuerste, stets nur Markenkleidung. Hans-Jürgen Wirth weiß, dass Narzissten Statusobjekte brauchen, um Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Das tun sie, „weil das Materielle eine relativ leicht zugängliche Möglichkeit ist, um sich selber aufzuwerten“, erklärt Wirth das Phänomen.
Seit drei Monaten leben Christoph und Maja in einer offenen Beziehung. Ein Zustand, der für sie unerträglich ist. „Ich weiß, dass er sich mit anderen Frauen trifft. Und ich kann mir denken, was da alles passiert“, erzählt Maja. Aber sie kann sich nicht von ihm lösen, fühlt sich an ihn gebunden. Narzissten gelingt es oft mit Leichtigkeit, die Menschen in ihrer Umgebung zu faszinieren und auf diese Weise Macht über ihre Umwelt zu erlangen. Maja ordnet sich Christophs Wünschen unter, weil sie glaubt, ihn sonst zu verlieren. Dabei hat sie das Dilemma ihres Handelns erkannt: „Ich weiß doch, dass ich ihn so nicht halten kann.“
Ein ausbalanciertes Beziehungsleben kann es nicht geben. Wirth sagt: „Narzissten missbrauchen ihre Mitmenschen, um sich selber zu bestätigen.“ Der Partner gibt, der Narzisst nimmt.
Es ist vollkommen falsch, zu glauben, der Wahn nach Grandiosität sei mit übermäßiger Selbstliebe verbunden. Der Autor des Romans „Ego“, John von Düffel, erklärt: „Die Tragik des Narzissten ist nicht, dass er sich zu sehr liebt, sondern dass er sich zu wenig liebt. Und dass er trotz aller Beschäftigung mit sich nie glücklich wird. Im Spiegel entdeckt er alle möglichen Makel an sich. Und er wartet auf nichts anderes als auf Menschen, die ihn von diesen Makeln erlösen.“ Narzissten sind auf die Bestätigung durch ihre Umwelt angewiesen. Sie neigen deshalb dazu, andere Personen abzuwerten, um sich selbst besser und größer zu fühlen.
Für Maja wird es ein harter Kampf werden, sich aus der Abhängigkeit von Christoph zu lösen. Ihre Hoffnung, er würde seine Störung anerkennen, wird sich vermutlich nicht erfüllen. Ein tatsächlich Erkrankter erkennt das Problem nur, wenn der Leidensdruck sehr hoch geworden ist. Narzissten haben aber viele Möglichkeiten, diesen Druck über lange Zeit hinweg zu kompensieren.
John von Düffel beschreibt den egomanen Helden seines Romans „Ego“ als „einen Spiegel unserer Zeit in aller Perversion“. Er ist jemand, der den Fehler gemacht hat, „die geheimen Gebote unserer Zeit – athletisch, schön, modern, flexibel und erfolgreich zu sein – in ihrer ganzen Spielbreite ernst zu nehmen“. Von Düffels Held hat, wie Christoph und andere Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, keine spielerische Distanz zu den unterschwellig vermittelten Lebensprinzipien gefunden. Er weiß nicht, wie wichtig es ist, mit einem Lächeln über eigene Fehler hinwegzusehen. Dabei ist es der rettende Ausweg, diese spielerische Distanz zu sich, dem Körper und den Talenten neu aufzubauen. Die Chance jedoch, dass ein narzisstisch gestörter Mensch diesen Ausweg findet, ist gering.