Der wahre Verdienst

Jahrelang lebte Hans Reder nur um zu arbeiten - bis seine Ehe kurz vor dem Aus stand und er einen Hörsturz bekam: "Früher habe ich gewinnorientiert gearbeitet, heute geht es mir um den Menschen."

Sein Spiegelbild schaut ihn müde und ernst an. Es ist vier Uhr in der Früh. Hans Reder steht im Bad, putzt seine Zähne und währenddessen kreisen bereits seine Gedanken:  40 Rinderfilets abholen, 300 Melonen bestellen, den Weinhändler anrufen, die Schnittchen ausliefern, den neuen Speiseplan besprechen…

„Ich wusste, dass ich das, was ich erledigen muss, nicht alles an einem Tag schaffen kann“, sagt Hans heute. Im Jahr 1981 hat er sich selbstständig gemacht. Mit seinem Partyservice beliefert er fast 20 Jahre Großveranstaltungen mit bis zu 5000 Personen. Planen, beraten, kalkulieren, Waren bestellen, einkaufen, kochen, anliefern. Oft arbeiten er und sein Team für mehrere Auftraggeber gleichzeitig.

Schnell spricht sich herum, dass bei ihm der Kunde König ist. Immer wieder bitten ihn Auftraggeber  - beispielsweise Vorstände großer Unternehmen  – selbst am Wochenende für einen kleinen Kreis zu kochen. Da sagt Hans nicht nein: „Schließlich will man ja auch in Zukunft erfolgreich zusammenarbeiten und einen Großauftrag bekommen.“   Auch Sonderwünsche sind keine Seltenheit: „Erdbeeren als Dessert zum Weihnachtsmenu – zur Not kommt die Ware eben aus Südafrika – alles eine Frage des Geldes.“ Die Auftragszahlen steigen.

Doch sein Partyservice frisst zunehmend seine Freizeit. Gemeinsame Ausflüge mit seiner Frau Maximiliane und den drei Kindern werden immer seltener. „Oft habe ich zwölf bis vierzehn Stunden am Tag gearbeitet, da blieb keine Zeit mehr für mich und meine Familie“, sagt Hans rückblickend.

Zum Schluss funktionierte Hans nur noch. Die Bilanz nach seines Partyservices: viele Aufträge und Großveranstaltungen, ein volles Bankkonto, tagtäglich Stress und das Gefühl der Zeit hinterher zu rennen. Dann ein Bandscheibenvorfall, ein Hörsturz, die Ehe kurz vor der Scheidung und zum Schluss der Griff zur Flasche. 

Wendepunkt

Klirrend setzt Hans seine Tasse ab. Es ist 15:30 Uhr, als er mit seiner Frau im Wohnzimmer sitzt und Kaffee trinkt. Seitdem Hans nur noch acht Stunden am Tag arbeitet, kommt er bereits nachmittags nach Hause. „Ich bin froh, dass Hans nicht mehr selbstständig ist. Jetzt hat er freie Tage und im Urlaub können wir gemeinsam in fremde Städte in Deutschland reisen“, sagt Maximiliane erleichtert.

 „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben.“ Das Motto seines neuen Arbeitgebers spricht Hans aus dem Herzen. Seit 2001 ist er Küchenchef im „Bienengarten“, einem Altenheim der Diakonie in Ingolstadt.

Auf Drängen seiner Frau hat er sich auf die Stellenanzeige beworben. Eigentlich war er für den Job überqualifiziert, doch beide waren sich einig, dass es so wie bisher nicht weiter gehen konnte. Der gelernte Meisterkoch machte sich anfangs Sorgen, dass 160 Menüs am Tag für ihn keine Herausforderung wären und er sich schnell langweilen würde. Doch dann erkannte er in seiner Arbeit einen neuen Sinn: „Früher habe ich gewinnorientiert gearbeitet, heute geht es mir um den Menschen. Für mich sind die Bewohner im Seniorenheim die Nummer eins. Sie sollen ein paar letzte schöne Jahre haben.“ Obwohl Hans heute nur  ein Zehntel seines früheren Gehalts verdient und sein Budget zum Kochen wesentlich kleiner ist, fühlt er sich ausgeglichen. „Der Gedanke, etwas zurückgeben zu können, tut gut.“

Im Jahr 2003 beschließt er, lernschwache Jugendliche, die keinen Abschluss haben oder von der Sonderschule kommen, in seine Küche zu integrieren. Das Motto von Hans und seinem Team:  „Wir geben auch Außenseitern eine Chance.“ Für die Ausbildung der Jugendlichen bringt Hans viel Geduld auf.  Diese Ausgeglichenheit und Ruhe musste er selbst erst wieder lernen. Fast ein Jahr dauerte es, bis Hans seinen Rhythmus umgestellt  und sich wieder an geregelte Arbeitszeiten gewöhnt hat:  „Anfangs war es schwer, da wurde ich nach fünf Minuten Pause unruhig und bin gleich wieder aufgesprungen.“  

Seinen Tatendrang und seine Kreativität kann Hans jetzt im Seniorenheim Bienengarten umsetzen.  Vor fünf Jahren hat er die mediterrane Küche kennen gelernt und im Bienengarten eingeführt. Seitdem verwendet er nur regionale Saisonprodukte und kocht jeden Tag frisch mit einem hohen Gemüseanteil.  Die neue Kochweise musste er erst einmal auf die Bedürfnisse der Senioren anpassen. Zu Anfang habe er beispielsweise über einen knackigen Salat Kürbiskerne gestreut und sich dann gewundert, warum die Kerne nach dem Essen neben dem Teller lagen. „Da bin ich drauf gekommen, dass die alten Menschen mit Gebiss die Kerne nicht kauen können. Jetzt gebe ich die Kerne gemahlen in das Dressing und die guten Inhaltsstoffe bleiben erhalten.“ Auch die Heimbewohner reagieren positiv auf die abwechslungsreiche Küche und Hans erzählt stolz: „Einige sind wieder viel gesünder und mobiler geworden.“

Lebenswandel

Seitdem Hans im Bienengarten arbeitet, hat sich auch in seinem Privatleben viel verändert: Früher hatte er viele Bekannte, die sich meistens dann gemeldet haben, wenn sie eine große Party mit viel Essen ausrichten wollten - ein hilfreiches Netzwerk aus oberflächigen Kontakten. Für wirkliche Freundschaften fehlte Hans einfach die Zeit. „Für mich hat Freundschaft heute eine ganz andere Bedeutung.“ Mit den damaligen sogenannten Freunden hat er keinen Kontakt mehr. Seine Freizeit hebt er heute lieber für ein paar wichtige Menschen auf.

„Es tut gut, zu wissen man muss nicht alles heute erledigen.“ Der größte Luxus für Hans ist, dass er selber entscheiden und planen kann, welche Aufgaben er übernehmen will und welche nicht. Durch seinen erfolgreichen Partyservice hat er gut vorgesorgt. „Es ist ein beruhigendes Gefühl, dass ich jetzt die  Früchte ernte, die ich früher gesät habe. Wenn ich will, könnte ich jetzt aufhören zu Arbeiten.“ Doch daran denkt Hans nicht ernsthaft. Im Gegenteil: Wenn er im Bienengarten frei hat, gibt er zusätzlich Kochkurse für Kinder, Erwachsene und Familien.

Außerdem will er für andere Menschen da sein und  arbeitet deshalb ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Rettungsdiensts. „Er macht immer noch sehr viel, aber ich habe nicht mehr das Gefühl, wir müssen der Zeit hinterher rennen“, sagt Maximiliane. „Ich liebe meinen Beruf. Aber heute sehe ich auch meine Grenzen“, sagt Hans. Heute kann er morgens wieder entspannt in den Spiegel schauen, denn er arbeitet um zu Leben und nicht umgekehrt.

 


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Foto: Isabelle Modler