Eigentlich hatte Beate Stark alles. Damals. In ihrem früheren Leben. Sie war Koordinatorin und Prokuristin bei einem Bildungsunternehmen. Zuständig für alle Niederlassungen in ganz Bayern. Viel unterwegs. Natürlich im schicken Dienstwagen. Zwischen sechzig und achtzig Stunden Arbeit in der Woche waren ganz normal. Dazu ein entsprechendes Gehalt. Lockerer Umgang mit der Kreditkarte. Doch außer alldem hatte sie kaum etwas. Keinen Feierabend, kein Wochenende, keine Zeit für ihr Privatleben, für ihren Lebensgefährten. Irgendwann wollte sie das nicht mehr. Sie beschloss, ihr Leben zu verändern. Sie heiratete, zog um, kündigte. Jetzt arbeitet die 44-jährige Psychologin als Therapeutin in einer Behindertenwerkstatt, wo sie nur noch die Hälfte verdient. Sie fühlt sich dennoch als Gewinnerin. Denn die Arbeit füllt sie mehr aus. Und drei Monate im Jahr hat sie einfach frei.
Beruflich herunterschalten – der neumodische Ausdruck dafür heißt Downshifting. Downshifter schmeißen den so genannten Traumjob hin und suchen sich etwas Neues. Einen ganz normalen Job mit vielleicht vierzig Stunden die Woche, inklusive Feierabend und Wochenende. Sie nehmen damit in Kauf, weniger Verantwortung zu tragen, weniger Ansehen zu genießen und vor allem weniger Geld zu verdienen. Weil für sie, Zeit zu haben, der größere Luxus ist. Mehr wert als teure Autos, Häuser oder der Schuhschrank. Immer mehr Menschen entscheiden sich so oder ähnlich wie Beate Stark. Bereits 1999 waren laut einer Studie des Henley Centers 25 Prozent der Briten bereit, einen schlechter bezahlten Job anzunehmen, wenn es weniger Stress bedeuten würde. Ende 2004 gab die Hälfte der Amerikaner in einer Umfrage von US World und News Report an, in den zurückliegenden Jahren Entscheidungen gegen die Karriere und für mehr Freizeit getroffen zu haben. Auch in Deutschland ist der Trend längst angekommen. Einer Umfrage des „Spiegel“ zufolge hat jeder dritte Deutsche schon darüber nachgedacht, einen anderen Job anzunehmen, der weniger Geld, dafür aber mehr Lebensqualität mit sich bringt.
Die Frage nach dem Sinn
Gründe fürs Herunterschalten gibt es viele. Bei Beate Stark war es vor allem der Lebensgefährte, der heute ihr Mann ist. Er lebt und arbeitet in Italien, auf der kleinen liparischen Insel Alicudi. Von Ingolstadt aus, wo Beate Stark damals lebte, war das eine Reise von zwei Tagen. Da reichte auch kein Wochenende für einen Besuch aus. Beate Stark wollte mehrmals im Jahr mehrere Wochen frei haben, um ihn sehen zu können. Dazu kam die Sinnfrage, wie sie selbst es nennt. Ihre Arbeit bestand größtenteils darin, Aufträge an Land zu ziehen und Konzepte für deren Ausführung zu entwickeln. Konzepte, um Gewinne zu erzielen. Sie schloss Verträge, kontrollierte Zahlen. Ihr Unternehmen befasst sich mit berufl icher Rehabilitation: das heißt Umschulungen oder Weiterbildungen für Menschen, die arbeitsunfähig geworden sind. „Aber mit den Menschen, die eine berufliche Reha brauchten, stand ich gar nicht mehr in Kontakt“, sagt Beate Stark. Und genau das hat sie jetzt geändert. In der Behindertenwerkstatt therapiert sie wieder Menschen. So wie sie es früher schon getan hat. Und wer dabei warum und wie viel Gewinn macht, kümmert sie nicht mehr.
Wiebke Sponagel ist Coach in Frankfurt. Sie hilft Menschen, ihre berufl ichen Ziel zu verwirklichen, Stress zu bewältigen oder eben beim Downshifting. Sie beobachtet,dass immer mehr Menschen zu ihr kommen mit dem Wunsch zurückzuschalten. Als Gründe sieht sie vor allem Kostendruck: „Immer mehr Arbeit wird auf immer weniger Schultern abgeladen.“ Überstunden und Leistungsdruck sind die Folgen. Michael Kastner, Organisationspsychologe und Arbeitsmediziner, führt den Trend auf die Technisierung und Globalisierung zurück. „Da findet eine Evolution statt, nur der Mensch wächst nicht mit“, sagt er. Deswegen bekomme der Mensch Angst, suche sich Nischen und frage sich „warum soll ich noch siebzig Stunden die Woche für Heuschrecken arbeiten?“. Diese hohe Arbeitsbelastung hat Folgen. Viele suchen den Ausgleich zum Stress im Konsum, schreibt Hajo Neu in einem seiner Bücher. Workaholics geben das hart verdiente Geld für Handtaschen, Schuhe und Espressomaschinen aus. Der Stress ist aber immer noch da, dafür das Geld weg. Verschwunden. Zusammen mit der kurzen Befriedigung, die der Konsum gebracht hat. Irgendwann kommt die Erkenntnis, dass das keinen Sinn ergibt. „Da ist gerade ein Wertewandel im Gange“, sagt Michael Kastner. Es gehe wieder hin zu klassisch preußischen Tugenden wie Freiheit und Gerechtigkeit, aber auch der Wert der Familie steige.
Der Weg ist lang und schwierig
Doch so einfach und vorteilhaft wie die Lösung Downshifting klingt, ist es bei Weitem nicht. Für Beate Stark war der Weg in ein neues Leben lang und schwierig. Es kratzte sehr an ihrem Selbstbewusstsein, vom neuen Dienstwagen umzusteigen in den gebrauchten Golf, bei den Nachbarn nicht mehr so viel Ansehen zu genießen. Bei der Arbeit in der Behindertenwerkstatt musste sie sich erst daran gewöhnen, in der Hierarchie nicht mehr ganz oben zu stehen, nicht mehr ständig Entscheidungen zu treffen, wieder von vorne anzufangen. Ihre therapeutische Erfahrung lag damals mehr als zehn Jahre zurück. „Doch nicht immer muss die Lösung so absolut sein“, sagt Wiebke Sponagel. Es gibt auch sanfte Formen des Downshiftings. Manchmal reicht es schon, delegieren zu lernen oder die Stunden zu reduzieren. Aber egal wie radikal man sein Leben verändert: „Es geht nicht von jetzt auf gleich.“
Beate Stark hat mehrere Jahre gebraucht. 2002 heiratet sie, 2003 zieht sie von Ingolstadt nach Oberammergau, weil sie die Berge mag. 2004 kündigt sie den alten Job und 2005 nimmt sie den neuen an. Dennoch: Beate Stark fühlt sich immer noch nicht, als wäre sie schon ganz angekommen im neuen, im richtigen Leben. „Ich weiß auch nicht, ob ich jemals da ankommen werde“, sagt sie. „Aber ich bin auf dem richtigen Weg.“ Sie besitzt jetzt ein Haus mit einem riesigen Garten, hält Pferde auf dem Grundstück. Ihre Freunde sind nicht mehr zugleich ihre Arbeitskollegen. Mit ihrem Mann möchte sie dieses Jahr für zwei Monate nach Neuseeland reisen. In ihrer Freizeit macht sie eine Ausbildung zum Coach, will sich vielleicht selbstständig machen. „Workaholics sind oft durch ganz bestimmte Verhaltens- und Denkmuster geprägt“, sagt Friederike Wiedenmann, Coach aus Aalen. „Sie sind oft süchtig nach Anerkennung.“ Das lege keiner so schnell ab. Einfach nur den Job zu wechseln, bringe nichts. „Ich nehme mich doch mit“, sagt sie. Heiraten, umziehen, kündigen, neu anfangen und irgendwo dazwischen die Hoffnung, dass sich mit dem Leben auch der Mensch verändert. „Dieser Drang etwas bewegen zu wollen“ – Beate Stark glaubt, dass er zu ihrer Persönlichkeit gehört. „Das schaff ich auch nicht ganz abzulegen“, sagt sie. „Aber jetzt engagiere ich mich für etwas, das Sinn ergibt.“