Welches Bein zu wem gehört, ist nicht mehr auszumachen. Ein Knäuel von zwanzig Menschen windet sich langsam wie eine betäubte Schlange auf der großen Matratze. Das Licht ist gedimmt, die leise indische Musik aus dem Lautsprecher vermischt sich mit zufriedenem Seufzen aus zwanzig Mündern. Ineinander verwoben streicheln sich die Menschen. Ein Mann hält eine Frau im Arm, die Gesichter sind einander zugewandt, die Augen geschlossen. Ab und zu ein zögerliches Lächeln auf ihren Gesichtern, gefolgt von einem schweren Ausatmen. Die Frau reckt einen Arm nach hinten, der sofort bereitwillig von ein paar Fingerkuppen gestreichelt wird. Zu wem die Fingerkuppen gehören, weiß sie nicht. Das ist auch nicht wichtig, denn bei der Kuschelparty geht es nicht ums Wissen, sondern einfach nur ums Sein.
Marcus Türner, 36, Single, Fotograph, Webdesigner und Künstler aus Heimstetten bei München ist heute Abend auch ein Teil des Knäuls. Er ist nur einer von einer ständig wachsenden Gruppe von Menschen, die sich ab und zu eine Kuschelparty gönnen. „Danach fühle ich mich so entspannt und glücklich, das ist mit Worten kaum zu beschreiben.“ Mit fünfzehn Euro ist man auf der Matratze. Dabei geht es übrigens nicht um Sex. Alle Teilnehmer haben bequeme Sachen an. Sollte jemand eindeutig mehr wollen als Streicheleinheiten, verweist der Veranstalter ihn der Matratze.
Die 45-Zentimeter-Regel
Außerhalb dieser Matratze, außerhalb des abgedimmten Raumes, in dem indische Musik von den Wänden hallt, gilt die 45-Zentimeter-Regel: So nah darf uns ein fremder Mensch höchstens kommen, damit wir uns nicht belästigt fühlen. 45 Zentimeter schützen uns. Doch die Grenze zwischen einer Schutzschicht und einer Mauer kann zuweilen dünn sein, weiß Marcus Türner. „Ich denke, wir haben irgendwann gemerkt, zwischen Arbeit, Karriere, Hektik und sozialer Entfremdung: Da fehlt irgendwas. Und die Kuschelpartys sind ein Gegentrend dazu.“
Das Touch Research Institute in Miami erforscht seit Jahren, wie wichtig Berührungen für den Menschen sind: Frühgeborene entwickeln sich schneller, wenn sie massiert werden. Alzheimer Patienten verbessern durch regelmäßige menschliche Berührung ihr Gedächtnis, HIV-Patienten ihr Immunsystem. Glückshormone werden freigesetzt, die
zu einem gesteigerten Wohlbefinden führen.
1961 gab es in Deutschland vier Millionen Single-Haushalte. Heute sind es sechzehn Millionen. Heißt die neue Volkskrankheit also Berührungsmangel? Eigentlich schwer vorzustellen, denn im Alltag und selbst beim oberflächlichen One-Night-Stand kommt man ja nicht umhin, zu berühren und berührt zu werden. „Es kommt auf die Art der Berührung an und die innere Einstellung dazu“, sagt Gabriele Leipold, Paartherapeutin aus München. Seit zwanzig Jahren arbeitet sie als Therapeutin und hat seit 1995 eine eigene Praxis in der Hauptstadt des Freistaats. „Ich habe Patienten, die Sex haben, um Nähe zu bekommen. Sie lassen den Sex über sich ergehen.“ Es scheint also schwerer geworden zu sein, einfach nur zu berühren, ohne dabei gleich zum Sex übergehen zu müssen. „Wir spüren zehn Mal mehr als wir wissen, und bei der Berührung werden oft Doppelbotschaften gesendet, die den Partner total durcheinander bringen. Das kann zu einer richtigen Folter werden.“
Eine typische Doppelbotschaft: Mann und Frau liegen im Bett, sie kuschelt sich an ihn und er legt daraufhin den Arm um sie. Sie weiß nicht, ob er das nur macht, weil er denkt, dass sie es möchte, und er ist sich nicht sicher, ob sie Sex haben oder einfach nur kuscheln möchte. Eine Berührung, unklare Botschaften. Fühlen sich die zwei wohl in dieser Situation? Eben nicht.
Keine Verpflichtung zum Sex
Vielleicht ist das gerade das Angenehme an den Kuschelpartys: Etwas höchst Emotionales wird in einen professionellen Bereich ausgelagert – und somit kontrollierbar. Keine Doppelbotschaften, trotzdem Nähe und Intimität. Keine unangenehmen Gespräche danach und keine Verpflichtung zum Sex. Aus diesem Grund besuchen auch einige Pärchen die Kuschelpartys. Ist dieser Trend nun beängstigend, dass wir dafür zahlen müssen, um einfach mal locker lassen zu können? Gabriele Leipold kann nichts Negatives zu den Kuschelpartys sagen: „Wenn die Bedürfnisse und Berührungen von beiden zusammenpassen, dann ist das ein Glück – das kann ich nicht in Worte fassen.“ Sei‘s drumm. Wichtig ist das Endergebnis. Das Wohlbefinden. Marcus Türner meint: „Ich finde es überhaupt nicht schlimm. Mit diesen Partys fülle ich mein Kuschelkonto auf. Und wenn man zu zweit ins Kino geht, kostet das ja auch um die fünfzehn Euro.“