Besorgt blickt Robin Frannk zur Decke des Zirkuszeltes. Dort hängt seine 10-jährige Tochter Jasmin an einem dünnen Reifen. Weit über dem Boden schwebt sie. Im Zelt ist es totenstill. Jasmin ist Deutschlands jüngste Luftakrobatin.
Obwohl sie ihren Auftritt perfekt beherrscht, ist ihr Vater immer wieder erleichtert, wenn sie wieder auf dem Boden neben ihm steht: „Es ist alles ohne doppelten Boden, ohne Sicherheit. Passieren kann da immer was. Ich hab jedesmal Angst um sie.“
Miguel, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, spielt die Clownnummer zusammen mit seinem Opa. Jeder hat seinen festen Platz im Familienunternehmen Zirkus Roberto. Auch die Kleinsten.
Alles läuft hier ein bisschen anders, als in anderen Familien. Ihr zu Hause ist der Wohnwagen. Ihre Auftritte, ihre Karriere. Der Zirkus ihr Leben. Dinge, die für andere Kinder normal sind, sind für Jasmin und Miguel oft schwierig. Ihnen fehlt nicht nur ein fester Wohnsitz, sondern auch eine feste Schule.
Zwischen zehn- und zwölftausend Kinder und Jugendliche in Deutschland wechseln wöchentlich die Schule, weil ihre Eltern zur Gruppe der beruflich Reisenden gehören- wie die Eltern von Jasmin und Miguel.
Schulpflicht gibt es für sie allerdings auch, mindestens neun Jahre, so will es das Gesetz. Also sind sie mal zwei Tage an dieser Schule, dann zieht der Zirkus weiter, und sie gehen wieder in eine andere Schule. Immer wieder neue Mitschüler, neue Lehrer, anderer Unterrichtsstoff. So kommt es häufig vor, dass Zirkuskinder nach neun Jahren Schule keinen Schulabschluss schaffen, weil sie nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen können.
Jedes Kind wird einzeln gefördert
„Oft sitzen sie in der Klasse ganz hinten und nehmen
nicht richtig am Unterricht teil. Sie sind ja meistens ohnehin nur ein paar Tage da.“ Dass dabei nicht viel hängen bleibt, ist Ortrud Essling klar. Damit sich das ändert und auch Zirkuskinder echten Zugang zum Gut Bildung erhalten, gibt es seit dem Schuljahr 1997/98 das Projekt der Zirkuslehrer in Bayern. Ortrud Essling ist eine von vier Zirkuslehrerinnen, die für den Regierungsbezirk Oberbayern zuständig ist.
Seit vier Jahren fährt sie im Großraum München von Zirkus zu Zirkus und kümmert sich individuell um die Kinder. Auch Jasmin und Miguel, die Kinder des Zirkus Robertos, sind ihre Schüler. „Es geht hier um ein ganzheitliches Fördern. Ich kann hier gezielt auf jedes einzelne Kind eingehen, was in der Klasse nicht möglich ist.“
Zuvor war Essling Hauptschullehrerin. An ihrem neuen Job als Zirkuslehrerin reizt sie, dass sie alles mit einbeziehen kann: die Lebensumstände und die Situation in der Familie.
Der Zirkus ist im Winterquartier und Jasmin besucht die Grundschule in Schwabing. Dort trifft sie sich mit ihrer Zikruslehrerin.
„Jasmin, deine Lehrerin hat mir gesagt, dass es mit dem Lesen noch ein bisschen schwierig ist, lies mir doch bitte mal diesen Text vor.“ „Maria ge-h-t… mit i-h-r-e-r Oma in den … Zoo.“ Doch nicht nur das Vorlesen ist wichtig, Jasmin muss auch verstehen, was sie vorliest. Deshalb hat Essling etwas vorbereitet. In dünnen, einzelnen roten Kärtchen liegt der Text, den sie gerade vorgelesen hat, vor Jasmin auf dem Tisch. Sie soll ihn jetzt zusammen bauen. Nachdenklich betrachtet sie die Kärtchen, die vor ihr auf dem Tisch liegen und schaut dann ratlos zur Decke, ein paar Strähnen von ihrem langen blonden Haar fallen ihr ins Gesicht.
Nicht nur Lehrer, sondern auch Vertrauensperson
Der Unterricht verläuft bei Ortrud Essling immer ganz unterschiedlich. Es hängt sehr vom Kind ab. „Ich stell´ mir zuerst die Fragen: Was braucht der Schüler und was kann der Schüler.“
Dann erstellt Essling den Lehrplan für jeden einzelnen Schüler. Für Jasim steht in diesem Schuljahr der Zahlenraum bis zu einer Million, schriftliches Dividieren, Texte Erschließen und Groß-und Kleinschreibung auf dem Programm.
„Für die Kinder ist es sehr schwierig, da sie kleine Berufstätige sind. Sie müssen Werbung laufen, im Haushalt helfen, sich um Tiere kümmern, Zelt aufbauen, auftreten und nebenbei auch noch Bruchrechnen lernen oder, warum Luther seine Thesen an die Tür geschlagen hat.“ Ortrud Essling hat Verständnis für die besondere Situation der Zirkuskinder und das ist auch wichtig. Vorwürfe, sie sei nur ein überteuerter Nachhilfelehrer muss, sie ignorieren: „Es ist mehr. Ich bin Sozialarbeiter, der sich auch um die Familie kümmert, Bildung in die Familie bringt, Schnittstelle zur Außenwelt, Freund und nicht nur jemand der Wissen vermittelt, das große Ganze zählt“, sagt sie.
Wenn andere Lehrer oder Rektoren dem Projekt der Zirkuslehrer kritisch gegenüber stehen bekommt Essling das meist schnell zu spüren. „Manchmal sitzen wir dann in einem kleinen Kammerl oder im Arztzimmer, zu zweit auf der Pritsche oder auch mit Keksen und Tee im Zimmer des Konrektors.“
In ihrem Alltag als Zirkuslehrerin hat sie vor allem eins gelernt: Improvisieren. Schnell mal was basteln, um die nicht vorhanden Materialen zu ersetzen, ist Alltag in ihrem Lehrerleben: „Das fängt schon bei der Tafel an. Meine Tafel ist mein Collegeblock.“
Heute haben sie es gut erwischt. Sie sitzen in einem kleineren Klassenzimmer mit drei Reihen Schulbänken. An den Wänden Regale mit Büchern und Karten, an den Fenstern hängen noch Weihnachtssterne. Jasmin konjungiert mittlerweile Verben: Gegenwart, erste und zweite Vergangenheit und Zukunft.
„Du besuchst, du hast besucht, du…“ Ein paar Schwierigkeiten hat Jasmin noch. Aber wichtig für sie ist, in ihrem sich ständig bewegenden Leben eine feste Bezugsperson zu haben. „Das ist das allerwichtigste für die Kinder. Sie freuen sich unendlich wenn ich komme, die fallen fast über den Schulranzen.“ Wichtig ist, dass Ortrud Essling den Kindern zeigt, dass sie sie versteht. Sie steht auf ihrer Seite. Neue Lehrer haben oft kein Verständnis und seien entsetzt über die Leistungen der Kinder, deshalb sind die Zirkuslehrer, als feste Bezugsperson umso wichtiger für sie.
Den Kindern alles ermöglichen
Momentan betreut Ortrud Essling elf Kinder, jeweils etwa zwei Stunden pro Woche. Besonders schwierig ist es mit Kindern, mit denen Essling nur wenige Tage zusammen arbeitet: „Oft sind es Kinder, die nur durchreisen, die man dann nur ein oder zweimal sieht. Einfacher ist es mit den Stammkindern wie beim Zirkus Roberto, die meist durch das gleiche Gebiet fahren, die sieht man dann jede Woche zwei Stunden und kann wirklich etwas bewirken.“ Zurzeit sind vier ihrer Kinder Stammschüler. Die meisten Zirkusse versuchen jedoch durch ein größeres Gebiet ihren Erfolg zu vergrößern.
Robin Frannk, dem Vater von Jasmin und Miguel ist es wichtig, dass seine Kinder eine ordentliche Schulausbildung erhalten. „Wenn es mit dem Zirkus mal nicht mehr so läuft, ist es wichtig, dass man auch was anderes kann“, meint er. Er hatte diese Möglichkeit nicht, weil er keinen Schulabschluss hat. Wenn seine Kinder später was anderes machen wollen, ist das für ihn in Ordnung: „Jeder kann machen was er will. Ich möchte meinen Kindern alles ermöglichen.“
Nicht alle Eltern sehen das so. Die meisten halten sich größtenteils aus dem Schulleben ihrer Kinder raus. Hauptsache die Schulpflicht wird erfüllt. „Helfen können sie oft auch gar nicht, weil sie es auch nicht können. Viele sind Analphabeten und die Kinder werden dazu erzogen, auch mal im Zirkus zu arbeiten, was anderes ist eigentlich nicht geplant“, erzählt Essling.
Momentan will Jasmin auch nichts anderes. „Später möchte ich mal etwas mit Pferden machen. Das wäre toll!“ In der Schule ist ihr Lieblingsfach Sport. Es ist auch das einzige Fach, in dem sie die Beste ist: „In den Klassenarbeiten bin ich eher nicht so gut“, sagt die 10-jährige und dreht die Buntstifte in ihrer kleinen Hand, bevor sie wieder mit verschiedenen Farben Verben und Adjektive unterstreicht.
Oft haben Zirkuskinder auch Schwierigkeiten mit ihren Mitschülern. Manchmal erzählen die Kinder Essling von ihren Problemen: „Es kommt vor, dass sie als Zigeuner beschimpft werden oder das ihre Mitschüler versuchen, sie wegen Karten abzuzocken.“
Auch deshalb gibt es Pläne eine mobile Zirkusschule ins Leben zu rufen. So etwas gibt es schon seit 1994 in Nordrhein-Westfalen. Die Zirkuslehrer haben einen Wohnwagen, der zu einem mobilen Klassenzimmer umfunktioniert wird und fahren damit direkt den Zirkus an. Die Vorteile hierbei sind ganz klar, dass die Kinder wirklich etwa viermal in der Woche Unterricht haben und die Zirkuslehrer quasi ein festes Klassenzimmer.
Erfolgesmodell Zirkusschule in NRW
Nach 15 Jahren Zirkusschule sieht man deutlich die Erfolge in Nordrhein-Westfalen: „Die Kinder kommen endlich zu ihrem Recht auf Bildung, das ihnen zusteht. Sie haben die Chance auf gleichwertige Bildung“ erzählt Annette Schwer, Schulleiterin der Zirkusschule in Nordrhein-Westfalen. Mittlerweile schafften einige Kinder auch höhere Schulabschlüsse. „Sie bekommen jetzt das volle Programm, alles was möglich ist“, erzählt Schwer.
Essling würde sich über ein solches Projekt auch in Bayern freuen: „Es wäre schon wesentlich besser, wenn wir nicht, wie es oft vorkommt, im Küchenwagen sitzen würden und dort die Hausaufgaben machen müssten.“ Aber was auf den ersten Blick als Lösung des Problems erscheint, hat auch Nachteile. Jeglicher sozialer Kontakt zur Außenwelt würde dadurch wegfallen. „Die Kinder wären dann wirklich nur in ihrer eigenen Zirkuswelt. Außerdem würden auch alle künstlerischen Dinge, wie Zeichen oder der Musikunterricht wegfallen“, sagt Essling. Annette Schwer berichtet allerdings, dass viele Kinder zumindest während des Winterquartiers noch zu normalen Schulen gehen, um eben diese Dinge nachzuholen.
„So, dann schauen wir uns noch deine Hausaufgaben an, damit du weißt, was du heute Nachmittag machen musst“, sagt Essling und Jasmin packt ihre Arbeitsblätter aus dem blauen Rucksack. Bücher gibt es für die Zirkuskinder keine. Der Aufwand, sie für zwei Tage zur Verfügung zu stellen und die Gefahr, dass sie dann nicht mehr abgegeben werden, ist zu groß.
„Ah, Größen. Liter, Milliliter…Weißt du wie das geht?“- „Nein“- „Dann machen wir das jetzt mal.“
Glong! 12.15 Uhr. Die Unterrichtsstunde mit der Zirkuslehrerin Ortrud Essling ist für Jasmin zu Ende. Vor der Schule wartet ihr Vater und es geht nach Hause- in den Zirkuswagen. Hausaufgaben Machen, Training, Spielen. Fast wie bei allen andern Kindern. Nur, dass das Zelt schon eingepackt ist und der Zirkus in den nächsten Tagen weiter ziehen wird. In eine neue Stadt, mit einer neuen Schule.