2001: Trinken
Sind Sie Trinker?“ Auf diese Frage eines Journalisten soll Winston Churchill geantwortet haben: „Kein Mensch kann leben ohne zu trinken.“ Ja, jeder Mensch hat seine Trinkerbiographie. Sie beginnt – meistens – mit der Muttermilch, und sie endet – häufig – mit lauwarmem Kräutertee aus der Schnabeltasse. Zwischendrin all jene Flüssigkeiten, die eher Genuss- als Nahrungsmittel sind: Am Morgen ein, zwei Schalen des „Türkentranks“, der ursprünglich aus Äthiopien stammt und über die arabische Hafenstadt Mokka seinen Weg in den Orient und von dort nach Europa gefunden hat – „schwarzes Wasser“ als Muntermacher und Treibstoff für das Tagwerk. Mittags eine Karaffe klaren Wassers, damit die Mahlzeit besser rutscht. Am Nachmittag nochmals eine Coffeinspritze – die „Kaffeepause“ hat längst ihre Anerkennung in tariflich vereinbarten Arbeitszeitregelungen gefunden. Abends dann die Kanne Tee – der Beitrag Asiens zu unserem Flüssigkeitshaushalt.
Nicht nur im Rhythmus des Alltags, auch in den kalendarischen Riten und bei den festlichen Höhepunkten unseres Lebens haben die Getränke ihren festen Platz: Beim Übergang in ein neues Jahr knallen die Champagnerkorken, im Fasching haben Bowle und Punsch Konjunktur, und bei der Hochzeit von Kanaa wurde von allerhöchster Stelle wie selbstverständlich Wasser in Wein verwandelt. Die Getränke haben ihren Sitz im Leben. Und sie haben ihre eigenen Institutionen hervorgebracht. Was wären die Kommunikationsberufe ohne das Kaffeehaus? Und was wären sie ohne die Bar?
Das Wiener Feuilleton zum Beispiel – ohne die Literatencafes undenkbar. Im Cafe GriensteicU trafen sich Schnitzler, Saiten, Hofmannsthal und Hermann Bahr. Franz Werfe!, Hermann Brach und Robert Musil bevorzugten das Cafe Herrenhof, nur wenige Steinwürfe entfernt. Das Cafe Central war der Lieblingsort von Karl Kraus, Egon Friedell und Peter Altenberg, der sich dort sogar die Post zustellen ließ.
Stammgast Alfred Polgar notierte vor 75 Jahren: „Das Cafe Central liegt unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“
Für viele Autoren war das Kaffeehaus Wartesaal, Beobachtungsstand und Büro zugleich. Der Literat Hermann Kesten bekennt: „Zuweilen sehe ich nichts im Cafe, zuweilen mit einem Blick mehr als andre in einer Stunde. Es ist meine Welt, mein Schreibzimmer, mein Acker.“
Manche Kollegen gingen lieber in Bars – und favorisierten andere Getränke: Gottfried Benn das Bier, Hemingway Schnäpse und Rum, Erich Käsmer Rotwein und Whisky. Und manche haben sich buchstäblich zu Tode gesoffen – wie der schwermütige Hotelnomade Joseph Roth: Er starb kurz vor Erscheinen seiner „Legende vom heiligen Trinker“.
Das Kaffeehaus war nicht nur ein Paradies für Schreiber, sondern auch für Leser. „Die gesamten Tagespressen des In- und Auslandes und alle schöngeistigen Zeitschriften liegen aus“, so warb das Wiener Cafe Central, das bis heute ein Mekka für Zeitungssüchtige geblieben ist.
Tucholsky hatte als Student in Berlin die hübsche Idee, am Kurfürstendamm eine „Bücher-Bar“ zu eröffnen. Dort gab es billigen Lesestoff zu kaufen – und die „feinen Herrschaften“ bekamen dazu einen Schnaps serviert …
Eine Idee, die sich freilich noch perfektionieren ließe: Dringendes Desiderat bleibt ein Verfahren, mit dem man Bücher gleich auf Flaschen ziehen kann. Statt eine Bibliothek würde man dann eine Bar aufsuchen, um dort seine Bestellung aufzugeben: ein Stamperl Joyce, ein Viertel Bernhard, eine Halbe Johnson. Und für uns würde an der Mirnahmetheke auch die Fachliteratur bereitstehen: ein Kasten Groth, eine Bouteille Luhmann, eine Büchse Beck. Kommunikationsrationalisierung könnte man das nennen.
Das Trinken, fürwahr ein weites Feld. Mineralwasser und Muttermilch, Absinth und Cola, Tee und Tequila, Wein und (Pardon!) Urin: Die einsteins-Redaktion hat sich als Vorkoster betätigt und nichts ausgelassen, was zwischen Aperitif und Digestif, Ver- und Entsorgung, Genuss und Notdurft von Bedeutung ist. Investigativ, kritisch und serviceorientiert zugleich hat sie Geschichte und Gegenwart der Produktion und des Konsums von Flüssigkeiten jedweder Art ins Visier genommen.
Für die Kommunikationswissenschaft bleibt viel zu tun. Vor allem die Wirkung des Trinkens auf Kommunikatoren, Inhalte und Rezipienten ist empirisch noch unzureichend erforscht. (Ich empfehle den dynamisch-transaktionalen Ansatz.)
Es bleibt dabei: Kein Mensch kann leben ohne zu trinken… In diesem Sinne: Wohl bekommt!
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