1998: Kulte + Kulturen
„Von Zähneputzen bis zum – unser Leben besteht aus Ritualen. Jeden Tag könnten wir ganz neu anfangen und ganz anders gestalten, aber meist folgen wir vertrauten Mustern. Das gilt auch für den Umgang mit unseren treuesten Begleitern, den Medien.
Etwa jeder dritte Zeitgenosse schaltet gleich nach dem Aufstehen das Radio ein. Eine kurze Musikdusche, Frühnachrichten – viele brauchen das wie die morgendliche Koffeindosis, um richtig wach zu werden. Auch die Zeitung ist vor allem ein Morgenmedium. Sie hat die höchsten Einschaltzahlen während des Frühstücks – und dann noch einmal zwischen acht und neun, wenn die Beamten ihre Büros erreicht haben. Ganz anders das Fernsehen: Es zieht uns am Abend in seinen Bann. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger sitzen zur „Tagesschau“-Zeit vor dem flimmernden Kasten. Die traditionelle Zeit der Hochkultur, die Zeit der Kammerkonzerte, der Theateraufführungen und der Abendvorträge – sie ist inzwischen weitgehend vom Fernsehen absorbiert. Die Medien synchronisieren nicht nur den Tag, sondern auch die Woche, den Monat, das Jahr. Montags ist, ganz nach Gusto, „Spiegel“- oder „Focus“-Tag, einmal im Monat kommen „Merkur“, „Marie Claire“ oder „Merian“ ins Haus, und jeweils am ersten Januar hängen wir den neuen Kalender an die Wand.
Die Simultanmedien Rundfunk und Internet haben die periodischen nicht verdrängt und die periodischen nicht die Ad-hoc-Medien, die zu bestimmten Anlässen erscheinen: die Jubelbücher zu den Fußballweltmeisterschaften, die Gedenkbände für Lady Di. Die bunte Fauna und Flora der ereignisbezogenen Kleinpublizistik nicht zu vergessen: Geburtsanzeigen, Abizeitungen, Hochzeitskarten, Totenzettel… Kleine und große Drucksachen begleiten uns von der Wiege bis zur Bahre. Rituale und Routinen bannen den Alltag. In der Flut der Nachrichten wählen sie nach professionellen Aufmerksamkeitsregeln aus. Vor Jahrzehnten schon hat Carl Warren in seinem „ABC des Reporters“ das Rezept beschrieben: Neuigkeit und Nähe, Konflikt und Kuriosität, Prominenz und Relevanz, Gefühle und Sex, Dramatik und Fortschritt sind die Hauptbestandteile der Medienmenüs.
Das Spektakuläre hat Vorrang: „Man bites dog“ lautet die Formel. Und damit das Außergewöhnliche die Leser, Hörer und Zuschauer nicht zu sehr irritiert, wird es immer wieder in den gleichen Rahmen gepresst: Die Seiten der Zeitungen und die Formate der Sendungen folgen bewährten Gestaltungsregeln, die nur gelegentlich durch ein (Zeitungs-) Relaunch und eine (Programm-) Reform variiert oder geändert werden. Manche Kommunikationskonventionen haben sich kulturspezifisch entwickelt: So schreiben (und lesen) wir die Buchstaben, Wörter und Sätze von links nach rechts und von oben nach unten – im Unterschied zu den Chinesen, die ihre Schriftzeichen in Säulen von oben nach unten und in Zeilen von rechts nach links aneinanderreihen. Anderes ist importiert oder aus berufskulturellen Zusammenhängen zu erklären. So werden Nachrichten meist nach dem Modell der umgekehrten Pyramide verfasst: Das Wichtigste zuerst, dann die Details. Dieser „Lead“-Stil orientiert sich am Nachrichtenkern. Er bündelt zum einen die Aufmerksamkeit des Lesers, zum anderen ermöglicht er es dem Redakteur, bei knappem Raum die Agenturmeldungen von hinten zu kürzen.
Rituale und Routinen begleiten den Alltag. In der vorliegenden Ausgabe von einsteins. Das Spektrum reicht vom Amoklauf bis zur Kaffeefahrt, von Volksbräuchen bis zur Jugendkultur, von Scientology bis zu Soap Operas, von Weihnachtsriten bis zu Nationalstereotypen – und die Medien sind immer beteiligt.
Einige von ihnen erreichen selbst Kultstatus. Ob einsteins auch dazugehört?“
Namen
Redaktion: Antje Klickemanns, Barbara Kraupa, Christina Zuber, Claudia Scheiderer, Diana Bauhammer, Dirk Weber, Ela Zimmermann, Florian Dötterl, Georg Kleesattel, Ines Treffler, Jan Pawlofsky, Joachim Dangel, Lena Kuder, Margit Buch, Michael Harnischmacher, Oliver Kalkhofe, Raul Gonzalez, Ralf Hohlfeld, Sascha Matternstock, Simone Natter, Stefanie Bley, Stephan Ley, Tanja Liebmann, Ursula Wagner