1997: Riechen
Journalismus – dieser Begriff umreißt ein Berufsfeld, wie es heterogener kaum sein könnte. Trotz all der unterschiedlichen Arbeitsweisen und Tätigkeitsprofile in diesem Metier: Das Urbild des Journalisten bleibt der Reporter.
Die Ratgeberbücher für Journalisten und solche, die es werden wollen, charakterisieren den Reporter üblicherweise als Augenzeuge. „Der Reporter führt den Leser oder Hörer durch die Reportage ‚vor Ort‘; der Leser oder Hörer sieht die Dinge mit den Augen des Reporters“, schreibt Walther von La Roche.
Für die Form der Reportage wird in der Metaphorik von Foto und Film insbesondere der „Wechsel der Perspektive“, der „Wechsel von Naheinstellung und Gesamtsicht“, der „Zoom-Effekt“ als bedeutsam bezeichnet. Auch Forderungen nach „farbenreicher Schilderung“ und „anschaulicher Darstellung“ zeigen die Dominanz des Visuellen.
Hörfunkleute verweisen zusätzlich auf die akustische Komponente: „Neben der Sprache sind alle anderen Originaltöne, also Musik, Geräusche und künstliche O-Töne, weitere wichtige Elemente, die eine Reportage ‚hautnah‘ werden lassen“ (Roland Machatschke).
Nasen auf!
Ein kürzlich erschienenes „Handbuch des Journalismus“ fordert nun die Reporter auf, nicht nur Augen und Ohren, sondern auch die Nasen aufzusperren.
Journalisten stecken zwar ihre Nase in viele Dinge, ihr Geruchssinn scheint aber nicht besonders ausgeprägt. Gelegentlich durchweht exotisches Aroma eine Reisereportage: Der Große Bazar von Teheran duftet geheimnisvoll nach süßen Parfums und aromatischen Gewürzen, die die stickigen Gassen erfrischen“ (Süddeutsche Zeitung“, 21. Januar 1997).
Aber sonst ist von Gerüchen in den Medien selten die Rede. Vielleicht weil sie diese, von parfümierten Werbeanzeigen (bitte aufreißen!) abgesehen, (noch) nicht reproduzieren können?
Dabei gibt es durchaus eine Tradition journalistischer Nasenzeugenschaft.
So schildert Daniel Defoe in seiner großen Rekonstruktionsreportage über „Die Pest zu London“ – im Jahre 1722, zwei Menschenalter nach dem Ereignis, erschienen – das „Durcheinander der Gerüche“: … die ganze Kirche war wie eine Riechflasche; in einer Ecke duftete alles nach Parfümen: in der anderen nach allen möglichen Drogen und Kräutern, Balsamen und Aromaten; in der nächsten wieder nach Riechsalz und alkoholischen Essenzen, eben ganz wie jeder sich zur eigenen Bewahrung versehen hatte.“
Reporters Riecher
Die frühen Sozialreporter ignorierten nicht den „Gestank der Tatsachen“ (Alfred Polgar).
Georg Weerth beschwört ihn in seinen sozialkritischen Skizzen aus dem frühindustriellen England. Über die Ankunft in Bradford heißt es da: „Jede andere Fabrikstadt Englands ist ein Paradies gegen dieses Nest; die Luft in Manchester liegt einem wie Blei auf dem Kopfe: in Birmingham ist es nicht anders, als säße man mit der Nase in einer Ofenröhre; in Leeds muss man vor Staub und Gestank husten, als hätte man mit einem Male ein Pfund Cayennepfeffer verschluckt – aber alles das lässt sich noch ertragen! In Bradford glaubt man aber nirgendsonstwo als beim leibhaften Teufel eingekehrt zu sein.“ Und Max Winter beschreibt in einer seiner Rollenreportagen aus der Spätzeit der österreichischen Monarchie „Eine Nacht im Asyl für Obdachlose“: „Der Geruch des Elends umfängt uns. Mir verschlägt das Gemisch von Fuseldunst, Schweißgeruch und der Ausdünstung alter Wäsche und Kleider eine Weile den Atem“ („Arbeiter-Zeitung“, 25. Dezember 1898).
Diese Tradition wird noch einige Zeit weitergeführt, etwa von Egon Erwin Kisch. Seine Schilderungen der Obdachlosen von Whitechapel, der Morgue in Paris und, in den Fußstapfen Heinrich Heines, des Flohmarkts von Clignancourt machen deutlich, dass der „rasende Reporter“ neben scharfen Augen und offenen Ohren auch eine gute Nase hatte.
Das kann man von seinen heutigen Kollegen nicht behaupten.
Gewiss, die Situation hat sich geändert: Kein Pesthauch mehr (gottseidank) und kaum Blütenduft (die Glashauszüchtungen duften nicht, leider). Künstliche Geruchsemissionen haben die Lufthoheit übernommen. Doch zwischen Chemieparfüm, Benzindämpfen, Industriegestank und esoterischem Duftlampenaroma – gibt es da gar nichts mehr?
Es fehlen die journalistischen Supernasen! Auch deshalb sind in dieser Ausgabe von „einstein“ junge Journalisten dem x-ten Sinn auf der Spur.
Namen
Autoren: Alejandra López Garcia, Almundena Sanchez, Anita Haas, Arne Schulte-Eckel, Bettina Müller, Bjorn Verhelst, Carl Leenaerts, Christiane Reiter, Daniela Pickl, Dirk Vollmer, Ezekiel C. Kanje, Frank Bayer, Friederike Harzer, Guido Fromm, Harald Filipetz, Holger Hespelein, Jens Schröter, Judith Reischl, Melanie Yankers, Michael Baudisch, Michael Defrancesco, Michael Just, Michael Marquard, Michael Ruddigkeit, Nicola Rechmann, Oliver Kalkofe, Sandra Martin, Simone Notter, Sibylle Winter, Sonja Fink, Sorana Puie, Stefan Stein, Steffi Hutschenreuter, Thomas Linke, Ulrich Bien, Ursula Ibrahim, Volker Sagstetter
Dozenten: Ralf llohlfcld, Klaus Meier
Themen
Studieren in Eichstätt | ein Survival-Guide
Von Kanada bis zum Nil | ein Travel-Guide
Fünf Taxis. Fünf Kurzgeschichten. Zur gleichen Zeit.
Die Stadt der Nasen | Grasse in der Provence ist das Zentrum der Parfumindustrie.
In Labor werden die Düfte geschaffen, die später die ganze Welt erobern.
Lavendel läßt die Kassen klingeln
Das Gefühl wohnt in der Nase
Wildwechsel der Gefühle | Geruch manipuliert das Unterbewußtsein. In Feuerwerk von
Signalen entscheidet über Sympathie und Ablehnung.
Geruchswelten
Duft aus der Dose
Dufte Dollar in der Werbepause
Rosen riechen wie sie wollen | Edelblilten sind Karl Hetzels Leidenschaft. Nur vier Rosenzüchter gibt es in Deutschland. Er ist einer von ihnen.
Rauschgift im Kuli
Ich hasse die Notaufnahme
… dann leihnt man sich eine Nase
Es stinkt im Netz | Der Cyberraum, unendliche Weiten. Auch die virtuelle Welt de Internets ist voll von allerlei verschiedenen Gerüchen.
Bücher
Filme
Himmlische Düfte für Leib und Seele | Ernstzunehmendes Heilverfahren oder Scharlatanerie? Die
Aromatherapie kämpft um ihre Anerkennung.
Warum Menschen sich nicht riechen können
Kalkofes letzte Worte