1996: Zeit
Donnerstag, 17. August, später Vormittag. Bummel über Londons Covent Garden Market, östlich von Soho, südlich von Bloomsbury, gleich neben der St. Pauls Church. Wunderbares Viertel mit Cafés, Boutiquen, Pubs und Restaurants.
Als ich durch die Läden streife, fällt mir eine schmale gelbe Karte auf: Albert Einstein, auf einer Bank sitzend, schaut den Betrachter mit aufmerksamen Augen an. Darunter zwei Sätze: „When a man sits with a pretty girl for an hour, it seems like a minute. But let him sit on a hot stove for a minute – and it’s longer than any hour.“ Relativitätstheorie in nuce, formuliert von einem herausragenden Wissenschaftler, der zugleich ein großer Popularisator war.
Dass Einstein zu Beginn dieses Jahrhunderts die Vorstellung einer einheitlichen Zeit aufgab, bedeutete für die Physik eine Revolution. Newtons Theorie von der absoluten Zeit war damit passé. Den Psychologen war es längst vertraut: Bei monotonen Tätigkeiten kriecht die Zeit wie eine Schnecke, abwechslungsreiche Stunden vergehen wie im Fluge. Thomas Mann hat im „Zauberberg“ das Paradoxon beschrieben, dass als kurzweilig erlebte Zeitstrecken sich in der Erinnerung dehnen, langweilige dagegen schrumpfen. Wenn ich in diesem langen, zähen und kalten Eichstätter Winter an die sommerlichen Stunden in Covent Garden zurückdenke, kann ich dies nicht dementieren.
Fünf Jahre gibt es „einsteins“ nun schon – für ein studentisches Magazin ein geradezu biblisches Alter. Da wird es Zeit, sich mit der Zeit zu befassen: mit der Zeitmessung und dem Zeiterleben, mit Zeitrausch und Zeitsparen, Zeitvergeudung und Zeitverzögerung. Die Redaktion tut dies in Reportagen und Glossen, in Berichten und Interviews. Und auf ihre Bitte hin hat mancher prominente Zeitgenosse ein „Zeitwort“ beigesteuert. Kein Wunder, dass sich gerade Journalisten gern des Themas annehmen – der Journalismus ist ein Zeitberuf wie kaum ein zweiter.
Die Medien weisen täglich darauf hin, etwa wenn sie „Zeitzeichen“ (WDR), „Zeitspiegel“ (BR) oder „Zeit im Bild“ (ORF) offerieren. Wie manche seiner Zeitgenossen verstand sich etwa Ludwig Börne als „Zeitschriftsteller“, und zeitweise redigierte er ein Blatt mit dem Titel „Zeitschwingen“. Gerade Periodika mit programmatischem Anspruch tragen gern die Zeit im Namensschild: Karl Kautskys Revue „Die neue Zeit“ (1883-1923) und Hermann Bahrs Wochenzeitschrift „Die Zeit“ (1894-1904) mögen als Beispiele genügen.
Häufig verweisen die Titelangaben auch auf die Erscheinungsrhythmen: „Tages-Anzeiger“, „Die Woche“, „Der Monat“, „Deutsche Vierteljahrsschrift“…
Seit gut fünf Jahrhunderten ziehen die Medien immer engere Kreise: Jahr, Monat, Woche, Tag – längst sind wir bei der Gleichzeitigkeit angekommen. Zwar hat die Liveberichterstattung die periodischen Medien nicht verdrängt – die aktuelle Information jedoch hat sie längst okkupiert.
Für den Journalismus bedeutet das ein Schrumpfen von Raum und Zeit. Und es bedeutet auch, dass die Distanz zum Berichtsobjekt immer mehr schwindet. Dadurch schwindet die Möglichkeit zur gründlichen Recherche, zum Gegencheck, zur Einordnung – das System Journalismus wird für Fehler immer anfälliger. Und es schwinden die Chancen zur Reflexion – der Livereporter neben dem „Fly-away“, der Satellitenschüssel, hat schlicht keine Zeit dazu.
Seit Ende des 16. Jahrhunderts sind graphische Darstellungen überliefert, die vorne den Postreuter mit Pferd oder Kutsche zeigen – er bringt die Nachrichten in größter Eile. Im Hintergrund humpelt der Hinkende Bote heran – er korrigiert dann die Falschmeldungen des Postreuters.
Vielleicht muss auch der Journalismus die Langsamkeit als korrigierendes Element wieder entdecken. Schließlich sind – siehe Einstein – Zeitempfinden und Zeitbewusstsein relativ.
Namen
Redaktion: Andrea Trübenbacher, Barbara Liepert, Cati Watermann, Christiane Reiter, Denes Szechenyi, Eva Wehrum, Friederike Harzer, Irene Preisinger, Jens Schröter, Karin Bühler, Katja Borngräber, Katrin Brekenkamp, Katrin Kraft, Liliana Puigdefabrigas, Michael Lermer, Michael Ruddigkeit, Nadine Mutschler, Peter Schumacher, Ruth Petscharnig, Stephan Eichenseher, Tiny Callens, Ulrich Bien, Wolfgang Pütz
Dozent: Wolfgang Pütz
Themen
Jeder Todesfall ist für ich Selbstmord
Teigemäßer Journalismus
Die Krankheit der heutigen Zeit
Wie im Rausch
Auf dem Weg zur neuen Bestzeit
Zeit sparen
Zeit ist Illusion
Zeit der entzündeten Augen
Blind Date
Eine Nummer namens Zeit
Freund der Zeit
Der Zeitarbeiter
Lese-Zeit
Alles ist relativ
Leben ohne Zeitgefühl
Die Zeit – Fraue, alte Dame
Mit starrem Blick auf die Uhr