1999: Umbrüche
Geschichte hat Konjunktur: Die ZDF-Reihe „Hitlers Helfer“ findet an die sechs Millionen Zuschauer, historische Literatur dringt in die Bestsellerlisten vor, kein aktuelles Nachrichtenmagazin ohne (zeit-)geschichtliche Serie. Das Ende des Jahrhunderts, mit dem gleich ein Jahrtausend endet, motiviert zur Vorausschau, stimuliert aber auch zum Rückblick. In der Tat: Wer der Zukunft entgegensteuert, tut gut daran, sich im Rückspiegel zu versichern, ob der Kurs stimmt. Die Vergangenheit bietet immer wieder Anlass für aktuelle Kontroversen: Die Walser-Debatte, der Meinungskampf um die Wehrmachtsausstellung, der Historikerstreit – sie alle haben die Frage nach dem (richtigen) Geschichtsbild ins Zentrum gestellt. Seit zehn Jahren bereits wird über das Berliner Holocaust-Mahnmal öffentlich diskutiert – anderthalbtausend Bücher, Essays und sonstige Druckwerke zu diesem Thema liegen inzwischen vor. Die Massenmedien sind große Zeit-Zentrifugen, die permanent Vergangenheit vergegenwärtigen. Das geschieht bei der Aktualisierung der kalendarischen Riten, der kirchlichen und weltlichen Festkreise. Das geschieht auch angesichts der vielen Gedenktage und Jahresjubiläen. Nach dem Prinzip Wiedervorlage erinnern uns die Medien an „runde“ Geburts- und Gründungstage: Vor 250 Jahren wurde Goethe, vor 100 Jahren Erich Kästner geboren, vor 50 Jahren entstand die Bundesrepublik Deutschland.
Neben dem Anfang wird auch des Endes gedacht: Vor 150 Jahren starben Edgar Allan Poe und August Strindberg, Johann Strauß und Frédéric Chopin, zum Beispiel. Die Medien behandeln häufig nicht die historischen Figuren oder Ereignisse selbst, sondern reagieren auf andere Medien, die sich mit diesen Personen oder Aktionen beschäftigen: auf Sach- und Fachbücher, historische Romane und Radiofeatures, Spielfilme und Fernsehdokumentationen. Kommunikation und Anschlusskommunikation also.
Während das Veränderungstempo wächst, steigt gleichzeitig das Interesse an der Geschichte: Die Museen melden ständig neue Besucherrekorde, historische Ausstellungen finden öffentliche Aufmerksamkeit wie niemals zuvor. Sie werden häufig schon als Multimedia-Ereignisse inszeniert: Zur Ausstellung erscheinen dann Kataloge und Begleitbände, Bildserien und Videos, und parallel finden Tagungen, Vorträge und Podiumsdiskussionen statt. Und viele Ausstellungen wandern von Ort zu Ort, das Prinzip der Kommunikationskette nutzend.
Massenmedien und Geschichte – die Autorinnen und Autoren der neuen Ausgabe von „einstein“ nähern sich dem Thema in kleinen Schritten. Am Beginn steht die Erinnerung an die deutsch-deutsche Vereinigung vor zehn Jahren, die sie alle – als Schüler – noch selbst erlebt haben. Die Studentenbewegung der sechziger Jahre ist für die Verfasser schon ferne Vergangenheit, nur durch Zeitzeugengespräche rekonstruierbar. Für noch weiter zurückliegende Zeiträume müssen Dokumente und zeitgenössische Drucksachen sprechen.
Alick Wie die Vergangenheit in der Erinnerung, so wird die Zukunft in der Erwartung vergegenwärtigt. Journalisten versuchen alle drei Zeitebenen zu verknüpfen – auch in diesem Heft.
Bundespräsident Herzog hat in seiner Rede am Gedenktag zur Befreiung von Auschwitz vor kurzem die jüngere Generation aufgerufen, eigene Wege zum Erinnern zu finden: „Brechen Sie mit Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten Sprachspiele auf! Wenn das gelingt, hat Erinnerung eine Zukunft.“ Roman Herzog hat recht.
Namen
Redaktion: Andrea Mlitz, Bernhard Hampp, Birgit Schindlbeck, Carotin Schairer, Christine Oertel, Christiane Steiner, Christine Preuß, Claudia Möbus, Comelia Babl, Cornelia Schindlbeck, Eva Schatz, Florian Preuß, Isabell Schreml, Markus Putz, Melanie Bachhuber, Oliver Kalkofe, Peter Szarafinski, Sigrid Gamisch, Silke Woppmann, Simone Horn, Stefan Kreutzer, Stefan Wehler, Suzanne Frank, Thomas Gebhardt, Tina Bauer, Ulrike Müller, Walter Hömberg