2002: Stille
Baumaschinen brüllen, Staubsauger brummen, Telefone klingeln – wir leben in einer lauten Welt. Autos und Flugzeuge, Radios und Fernsehgeräte sorgen unablässig für Lärmemissionen und produzieren negativen Stress, der sich nicht abstellen lässt. Innerhalb der Zivilisationsumwelt gibt es kaum noch „Stille Örtchen“, die von aufdringlichem Maschinenlärm oder unerwünschten Musikduschen nicht erreicht werden.
Ein geografischer Ort, wo man die Stille noch spüren kann, ist die Wüste. „Ich vermag es nicht recht auszudrücken, mein Freund: hier gleitet der Abend an die stehende Zeit. Das Wunder der Ruhe im Leben geschieht. Wie weit bin ich gewandert, um das Wunder zu spüren!“ So beschrieb Johannes Muron vor siebzig Jahren seine Wüstenerfahrungen in dem Buch „Himmel über wanderndem Sand“.
DIE KRAFT DER STILLE
Wer einmal zu Fuß oder auf dem Rücken eines Kamels die Wüste durchquert hat, der hat die Kraft der Stille gespürt. Und er hat neu hören gelernt: Das Flüstern des Sandes, das Wimmern des Windes, der Schrei eines Käuzchens – die natürliche Klangumwelt, am Beginn noch ungewohnt, ja bedrohlich, vermittelt bald ein Gefühl der Geborgenheit. Wenn man dann am Abend im Hotel der tausend Sterne in den Schlafsack kriecht – unter sich die Wellen des Sandes, über sich den Sternenhimmel –, dann fühlt man sich eher beschützt als ausgesetzt. Sven Hedin, der Asienforscher, soll gesagt haben: „Von Zeit zu Zeit braucht jeder Mensch ein wenig Wüste.“ Die absolute Stille – das allerschönste Geräusch.
Soziale Orte, wo man die Stille erfahren kann, gibt es nicht nur an den Rändern, sondern mitten im alten Europa. Vor allem die Klöster kultivieren noch einen Lebensstil, in dem die Stille, das Schweigen und die Zyklen der Zeit zu ihrem Recht kommen. Tag, Monat und Jahr haben ihren eigenen Rhythmus. Vita activa und Vita contemplativa, Achtsamkeit und Betriebsamkeit – wie Ein- und Ausatmen gehören sie zusammen. Mönchsregeln sind nicht zuletzt Kommunikationsregeln, in denen Reden und Schweigen ihren festen Platz haben. Noch nach eineinhalbtausend Jahren bestimmt etwa die Regula des heiligen Benedikt weltweit den Alltag seines Ordens. Von der Gastfreundschaft, die dort ebenfalls festgeschrieben ist, machen immer mehr Menschen Gebrauch.
REDEN UND SCHWEIGEN
Auch die Redakteurinnen und Redakteure des neuen einsteins haben Orte des Schweigens aufgesucht: Klöster und Meditationszentren, Künstlerateliers und Wartezimmer. Zum Kontrast wird die andere Seite vorgestellt: die Lärmhöllen der Flugzeugmechaniker und die Tratschsalons der Friseure. In Reportagen und Porträts kommen Menschen ohne Gehör und ohne Sprache zu Wort. Der Stummfilm, das Beichtgeheimnis und das Schweigen der Mafia sind weitere Themen. Beredt über die Stille und über das Schweigen zu schreiben – das scheint so paradox wie ein Stehkragen, der gut sitzt, oder wie ein Goethe-Denkmal, das durch die Bäume schillert. In jedem Fall ist es nicht leicht für junge Autoren, die sich auf einen Beruf vorbereiten, in dem Reden allemal Gold (beziehungsweise Geld) bedeutet – und das Schweigen verpönt ist. („Vom Aussterben der Sendepause“ – auch das wäre ein Thema gewesen!) Journalisten sind keine Eremiten. Aber auch für sie gilt das Wort des Königs Salomo, der einst Israel zur kulturellen Hochblüte geführt hat: „Reden hat seine Zeit, und Schweigen hat seine Zeit.“
Namen
Redaktion: Agnes Skutella, Anouk Joester, Claudia Ziob, Elisabeth Harant, Inke Sareyka, Judith Pfeuffer, Julia Andre, Julia Bönisch, Julia Klesse, Kristin Barsuhn, Manuel Bödiker, Manuel Hiermeyer, Maria Findeiß, Manfred Dittenhofer, Miriam Rüffer, Monika Pittroff, Nele Däubler, Rebecca Eisert, Regine Oyntzen, Steffen Windschall, Susanne Kleist, Thomas Steinmann, Walter Hömberg, Wiebke Breuckmann
Dozenten: Walter Hömberg, Ralf Hohlfeld
Themen
Zwischen Gott und Gericht | Er darf selbst Mörder nicht verraten
Folter statt Freiheit | Wer sich auflehnt, muss leiden
Meister des Ausdrucks | Der Stummfilm braucht keine Worte
Tödliches Gelübde | Ein Mafioso muss schweigen können
Böses Brummen | Von einem Geräusch, das schmerzt
Kolumne | Wieviel Kommunikation braucht man?
Eins auf die Ohren | Lärmschutz am Arbeitsplatz
Rauschen ohne Ruhepause | Tinnitus raubt den letzten Nerv
Pausenfüller | Ein ganzes Orchester hält inne
Waschen, Schneiden, Reden | Sprechstunde beim Figaro
Suche nach dem Ich | Zen gegen den Alltagsstress
Unsterbliche Gedanken | Dialog der Dichter
Mauer des Schweigens | Wenn Kinder verstummen
Ratgeber für den Alltag | Das muss einmal gesagt werden
Selbstversuch | Ohne Worte durch den Tag
Zeichen setzen | Gebärden statt Gespräche
Abschied von der Sprache | Rückzug in den Schweigeorden
Versunken in Farben | Ein Maler und seine Stillleben
Schweigen bis der Arzt kommt | Wartezimmer-Impressionen
Philosophisches | Gedanken zum Nichts